Der Kampf geht weiter:
Frauen und die Retropolitik der Männer
Wiebke Esdar ist neu im Bundestag, seit 2017 erst dabei, die Abgeordnete aus Bielefeld gilt als eines der vielversprechenden politischen
Talente in der SPD-Fraktion. Doch wenn sie in Sitzungen das Wort ergreift, zücken viele Männer ihre Handys, drehen sich zum Nachbarn hin, beginnen zu plaudern, hören nicht mehr zu.
Sevim Dağdelen ist eine Politikerin aus der zweiten Reihe der Linken, die regelmäßig in Talkshows auftritt, wenn es um die Türkei und Präsident Recep Tayyip Erdoğan geht. Wenn sie nach den Sendungen auf ihre Facebook-Seite schaut, liest sie Einträge wie »Du dreckige Schlampe«, »Sie wird ja von einem deutschen Schwanz gefickt«, »Du fette Sau«.
Linda Teuteberg organisiert als Generalskretärin seit April 2019
das Hans-Dietrich-Genscher-Haus, die Parteizentrale der FDP,
und vertritt ihre Fraktion als Obfrau im Innenausschuss des Bundestages.
Nach Silvana Koch-Mehrin, FDP-Spitzenkandidatin bei
den Europawahlen 2004 und 2009, sowie Katja Suding, Parteivize
seit 2015, sei Teuteberg bereits die dritte Spitzenkraft, die nach dem
Prinzip » FDP’s next Topmodel« ausgewählt wurde – so raunen
Parteifreunde wie Außenstehende. Und da Teuteberg blond ist und
aus dem Berliner Umland stammt, heißt sie bei den Spöttern auch
»Brandenburg-Barbie«.
Gitta Connemann ist die stellvertretende Vorsitzende der
CDU/ CSU-Fraktion. Sie war in der Enquetekommission Kultur in
Deutschland tätig, ist Vizevorsitzende der deutsch-israelischen
Parlamentariergruppe und gehört dem Vorstand des Parlamentskreises
Mittelstand an. Wenn männliche Kollegen zusammenstehen
und Gitta Connemann Thema wird, geht es in aller Regel nicht
darum, was sie gesagt oder getan hat. Sondern darum, »dass sie
immer noch super aussieht – für eine Frau über 50«.
Nicole Höchst, Bildungsexpertin der AfD-Fraktion, befasst sich
in einer Enquetekommisson des Bundestages mit der Frage, wie
man die berufliche Billdung attraktiver gestalten kann. Wenn
Höchst in der geschlossenen Front der AfD-Fraktion im Plenarsaal
sitzt, geht sie optisch unter, man entdeckt sie unter all den Anzügen
und Krawatten kaum. Mit 94 Abgeordneten zog die AfD nach der
Bundestagswahl 2017 ins Parlament ein, fünf von ihnen haben die
Fraktion bis zum Sommer 2020 verlassen. Von den verbliebenen 89
sind 80 Männer.
Claudia Roth von den Grünen ist stellvertretende Bundestagspräsidentin.
Seit 1949 ist es Tradition im Hohen Haus, die Rede
der Abgeordneten mit einer Begrüßung des Präsidenten zu eröffnen.
Seit es auch Präsidentinnen gibt, sollen auch diese entsprechend
adressiert werden. Wenn Roth den Vorsitz hat, grüßt manch
ein AfD-Mann gar nicht, andere begrüßen demonstrativ mit »Präsident“
– und Roth ergänzt dann stets »-in«.
Unter den 709 Abgeordneten im Deutschen Bundestag sind
488 Männer – und 221 Frauen. Das entspricht einem Anteil von
30,7 Prozent. So gering war die Frauenquote im Parlament zuletzt
1998, dem Jahr, in dem der 1. FC Kaiserslautern Deutscher Fußballmeister
wurde und eine gewisse Monica Lewinsky weltweit für
Schlagzeilen sorgte.
Im Bundestag – und nicht nur da – droht den Frauen ein Backlash,
ein Konterschlag der Retromänner. Das macht sich nicht nur
an ihrer rückläufigen Zahl fest, sondern mehr noch an der Art und
Weise, wie mit ihnen umgegangen wird. Nichts, was sich die Frauen
in den vergangenen 70 Jahren an Gleichberechtigung erkämpft
und an Machtteilhabe erobert haben, ist selbstverständlich. Alles
müssen sie immer wieder aufs Neue erstreiten und verteidigen.
Die über 15-jährige Kanzlerschaft von Angela Merkel, der ersten
Frau im mächtigsten politischen Amt des Landes, hat viele glauben
lassen, für die Frauen sei in der Politik alles erreicht. Und dass das
Klischee widerlegt sei, die Macht sei männlich. Doch die Frau am
Hebel der Macht erweist sich nun als Trugbild. Genauso wie die
Liste der sieben Ministerinnen im 16-köpfigen Bundeskabinett.
Die vielleicht mächtigste Selbsttäuschung entstand im Juli 2019
anlässlich der Amtsübergabe im Verteidigungsressort. Annegret
Kramp-Karrenbauer, Ursula von der Leyen und Angela Merkel
sitzen fröhlich strahlend nebeneinander im Schloss Bellevue. »So
geht weibliche Macht«, titelt die taz. »So sehen Sieger aus. Oder,
wenn man es noch betonen will: Siegerinnen«, flötet die Bild. Kurz
darauf kündigt AKK ihren Rücktritt vom CDU-Vorsitz an, ein halbes
Jahr später gerät das Krisenmanagement der EU-Kommissionspräsidentin
Ursula von der Leyen in heftige Kritik. Und wenn Angela Merkel im
Herbst 2021 geht, kommt ein Mann.
Mächtige Frauen fallen derart auf, erhalten so viel Aufmerksamkeit,
dass man lange Zeit nicht merkt, wie frauenlos die Politik in
Wirklichkeit immer noch ist. Und nun sind weltweit die Männer
wieder auf dem Vormarsch; die starken Jungs, die – oft populistisch
– in Machopose traditionelle Rollenbilder verkörpern und sie
aggressiv propagieren. Männer, die glauben, sie seien von Natur
aus überlegen und dass dem wieder mehr Geltung verschafft werden
müsse. Ob Donald Trump in den USA, Jair Bolsonaro in Brasilien,
Wladimir Putin in Russland, Viktor Orbán in Ungarn oder Boris
Johnson in Großbritannien
– stets hat die zur Schau gestellte Männlichkeit einen starken antifeministischen Zug.
Auch in Deutschland gewinnen die Retromänner in der Politik an
Einfluss, drängen Frauen in den Rückzug. Beispiele gibt es zuhauf:
–– In der CDU ist die Machtübergabe von Frau zu Frau gescheitert.
Gleich mehrere Männer meinten, auf eine Kanzlerin dürfe nicht
schon wieder eine Kanzlerin folgen, auf Angela Merkel nicht
Annegret Kramp-Karrenbauer.
–– Seit der Bundestagswahl 2017 wurden in den CDU/ CSU-Ministerien
23 Staatssekretäre neu berufen – 18 Männer, fünf Frauen.
–– Christian Lindner und Annegret Kramp-Karrenbauer versagten
im Thüringer Wahldesaster im Herbst 2019 grandios, er als
Notretter am Wahlabend, sie als Krisenmanagerin in den Tagen
danach. Der FDP-Chef war kurz darauf wieder obenauf, die
CDU-Chefin in Abwicklung.
–– Der bayerische Ministerpräsident Markus Söder wollte auf dem
CSU-Parteitag im Oktober 2019 eine Miniquote für Frauen
durchsetzen – er scheiterte krachend.
–– In der FDP ist der Anteil der Frauen unter den Mitgliedern auf
20 Prozent geschrumpft. Auf dem Parteitag der Liberalen im
April 2019 wurde ein Antrag eingebracht, der eine quotenfreie
Frauenförderung vorsah – er wurde mit großer Mehrheit abgelehnt.
»Wir stecken in einer Art Kulturkampf«, sagt Claudia Roth über
das, was sie seit geraumer Zeit beobachtet. Auf der einen Seite gebe
es zwar immer mehr Männer, die sich Erziehung und Betreuung
ihrer Kinder gerecht teilen wollen und deren Frauen ganz selbstverständlich
einem Beruf nachgingen. Auf der anderen Seite – und
das sei in der Politik besonders ausgeprägt – formierten sich die
Retromänner, die »Maskulinisten«, wie Roth sie nennt: »Die wollen
sich zurückholen, was ihnen gar nicht gehört.«
Diesen Trend sieht auch der Autor und Fernsehkritiker Torsten
Körner. In seinem Buch »In der Männer-Republik – Wie Frauen
die Politik eroberten« beschreibt Körner die weibliche Geschichte
des Bundestages und warnt vor einer »Re-Traditionalisierung«
der Politik und einer »Machtberaubung der Frau«. Die weibliche
Stimme im parlamentarischen Chor werde schwächer, die weibliche
Perspektive in der parlamentarischen Arbeit schwinde. Beides
schade der Republik.
Die Verrohung
Geht man dieser Tendenz nach und fragt nach entscheidenden Wegmarken beim Vormarsch der Retrocharaktere und Maskulinisten,
so stößt man unweigerlich auf die Pegida-Bewegung. Ende
2014 haben sich die »Patriotischen Europäer gegen die Islamisierung
des Abendlandes« zu einer fremdenfeindlichen, völkischen
Organisation zusammengeschlossen. Seitdem erhalten zahlreiche
Bundestagsabgeordnete signifikant mehr Hassmails und Drohungen,
Hauptadressat sind Parlamentarier mit Migrationshintergrund
– und Frauen.
»Man droht Frauen mit Vergewaltigung, man erzählt ihnen, sie
seien Fotzen oder Schlampen oder irgendetwas anderes, von dem
man weiß, dass es besonders verletzend ist und in eine Schiene hineingeht,
die Frauen im tiefsten Inneren bedroht, und ihnen Angst
macht. – so beschreibt es Anke Domscheit-Berg, Abgeordnete der
Linken. Ob Mechthild Heil von der CDU, Bärbel Bas von der SPD
oder auch Joana Cotar von der AfD – alle berichten vom gleichen
Muster: In den Hassmails, die sie erreichen, geht es, in oft widerlicher,
ruppiger Sprache, immer auch um den weiblichen Körper und um
sexualisierte Gewaltandrohung. »Dich sollte man mal ordentlich
durchknattern«, »Ein Neger sollte dich totficken«, »Dich rührt ja
nicht mal einer dieser notgeilen Eseltreiber an, die du ins Land lässt«.
Die Grünen-Abgeordnete Renate Künast, neben Claudia Roth
und der SPD-Abgeordneten Aydan Özoğuz eine der Hauptzielscheiben
der Hassmailschreiber, spricht von einem »Rollback«,
dem Frauen ausgesetzt seien. Frauen hätten in der analogen Welt
viel erkämpft. »Die Frage ist nun: Können wir in der digitalen Welt
im gleichen Maße teilhaben? Oder müssen sich Frauen zurückziehen,
weil sie derartig angemacht werden?«
Künast selbst ist gegen die Beleidigungen im Netz gerichtlich
vorgegangen, mit mäßigem Erfolg. Die Richter des Berliner Landgerichts
urteilten im September 2019, dass Beschimpfungen wie
»Drecksfotze«, »Sondermüll« oder »Stück Scheiße« in den sozialen
Netzwerken hingenommen werden müssten, sie seien gedeckt vom
hohen Gut der freien Meinungsäußerung. Künasts Beschwerde
gegen das Urteil war zumindest in Teilen erfolgreich, in sechs der
geprüften 22 Kommentare stellte das Gericht nun »jeweils einen
rechtswidrigen Inhalt im Sinne einer Beleidigung« fest. »Drecksau«
muss sie sich aber weiterhin anhören. Genauso wie man Sawsan
Chebli, SPD, die Bevollmächtigte des Landes Berlin beim Bund,
weiterhin »Quotenmigrantin« nennen darf – und »islamische
Sprechpuppe«.
Ähnliches erlebte eine FDP-Abgeordnete: »Brandgefährlich sind
Politikerinnen wie Strack-Zimmermann. Von nichts eine Ahnung,
aber das Maul aufreißen. Als Soldat sollte man solchen Tussen
sofort eine Kugel verpassen. Was legitimiert solche Fotzen, sich
despektierlich zu äußern?«, rotzte ihr ein Schreiber auf Twitter entgegen.
Auch Marie-Agnes Strack-Zimmermann erstattete Anzeige.
Doch der Verfasser war nicht zu ermitteln, das Verfahren wurde
eingestellt, eines von vielen. »Muss erst einer tot am Boden liegen,
bis da mal energisch nachgehakt wird?«, fragt die FDP-Verteidigungsexpertin,
als sie die Nachricht von der Einstellung erhält.
Das ARD-Politmagazin report aus München wollte es im
Spätsommer 2019 genauer wissen und startete eine Umfrage unter
allen weiblichen Abgeordneten des Bundestages. Mit erschütterndem
Ergebnis: 87 Prozent der Befragten gaben an, bereits Opfer
von Hass und Bedrohung im Netz geworden zu sein, einige nahezu
täglich. Elf Prozent der deutschen Parlamentarierinnen zweifeln,
ob sie in diesem Klima bei der nächsten Bundestagswahl noch einmal
antreten wollen.
Die einen denken an Rückzug aus dem Bundestag – und die anderen
wollen gar nicht mehr einziehen. Claudia Roth erzählt nachdenklich
von der Wahl einer neuen Spitze bei der Grünen Jugend,
dem Parteinachwuchs. Eine der jungen Frauen, die sich um einen
Beisitzerposten bewarb, sprach in ihrer Vorstellungsrede darüber,
wie wichtig gerade heute der Feminismus sei. Daraufhin brach ein
so heftiger Shitstorm in den sozialen Medien los, dass sie am Tag
nach der Wahl ernsthaft erwog, ihren Posten wieder abzugeben.
Sie war sich nicht sicher, solchem Druck dauerhaft standhalten zu
können. »Das ist strategische Hetze, die wollen Menschen zum
Rückzug bewegen. Das darf nicht aufgehen! Gerade beim politischen
Nachwuchs ist es fatal, sie sind doch unsere Zukunft., sagt
Roth. Die gezielten Gewaltfantasien dieser Hassnachrichten hätten
das Ziel, die Seelen der Frauen zu zerstören. Das werde versucht in
Worten, in Blicken, in Äußerungen, in Zuschreibungen. »Ich verstehe
total, dass es die Kolleginnen, die zum ersten Mal solchen
Hass, solche Gewalt erleben, völlig fertigmacht. Man muss sich da
gegenseitig stützen und solidarisch sein – auch die Männer.«
Die Männerrepublik
Politik in Deutschland war lange eine Männerbastion und ist bis
heute deutlich männlich dominiert. Bis zur Bundestagswahl 1987,
also zehn Legislaturperioden lang, lag der Anteil der Frauen an den
Abgeordneten unter zehn Prozent. Bis 1983 waren im Deutschen
Bundestag durchgehend weniger Frauen vertreten als in der Nationalversammlung
von Weimar 1919. Bis heute sind die Frauen stark unterrepräsentiert
– im Bundestag wie in den 16 Länderparlamenten. Auf beiden Ebenen
schwankt ihr Anteil um die 30 Prozent. Die jüngste Tendenz sowohl beim Bund als auch im Durchschnitt der Länder: sinkend. Die Frauen holen nicht weiter auf, sie verlieren an
Boden. Der Trend ist gekippt.
1961 wurde die erste Frau Bundesministerin. Elisabeth Schwarzhaupt
von der CDU übernahm das Ressort »Gesundheitswesen«,
es war eigens neu geschaffen worden, also nicht so wichtig. Es war
die Zeit, in der Frauen, wie Körner in seinem Buch über die weibliche
Parlamentsgeschichte aufzeigt, zwar als Sach- und Fachpolitiker
Anerkennung finden (»Sie hat mehr Sachverstand im kleinen
Finger als die meisten Männer im Kopf«), sich aber zugleich eine
Haltung bei ihnen ausformt, die heute noch oft anzutreffen ist: Wir
müssen besser sein als die Männer, damit wir ernst genommen
werden. Es hat sich ein Narrativ eingenistet, das den Blick auf die
Frauen in der Politik lange Zeit bestimmt hat: Für die Macht seien
Frauen zu emotional, es mangele ihnen an der dafür notwendigen
kühlen Rationalität, der beherrschten Kälte. Angela Merkel hat
diese Haltung erschüttern können, überwunden ist sie nicht.
Von Beginn an war der Körper der Frau Thema im Parlamentsgeschehen.
Männer können bis heute einen Schmerbauch haben,
Doppelkinn oder Stiernacken – vollkommen egal. Ob eine Frau
attraktiv ist oder nicht, darüber wird gesprochen und geschrieben.
Und welche Frau attraktiv ist und welche nicht, definieren jene
Männer, die dann darüber sprechen und schreiben. Die Beine von
Katja Suding, die Frisur von Sahra Wagenknecht, die Brille von
Saskia Esken, die engen Klamotten von Dorothee Bär, die erotische
Ausstrahlung von Julia Klöckner – all das ist nicht nur Gesprächs- und
Schreibstoff. Es spielt auch eine Rolle, wenn es darum geht,
wer was werden darf – und wer was nicht mehr sein soll. Das war
und das ist so. Wenigstens müssen sich weibliche Abgeordnete
heute im Parlament nicht mehr anhören, was die junge Herta
Däubler-Gmelin, eine promovierte Juristin, kurz nach ihrem Einzug
in den Bundestag 1972 von einem Staatssekretär gefragt wurde:
»Na, Mädel, hast du dir zum Heiraten schon einen ausgesucht?«
Es gibt im Bundestag mehrere Arten, gegen die männliche
Wahrnehmung des weiblichen Körpers anzugehen. Die vielleicht
wirkmächtigsten sind die Verpanzerung des Äußeren und die Vermännlichung
des Stils. Für das Erste stehen die Kanzlerin und die
Familienministerin, Angela Merkel und Franziska Giffey. Und für
das Zweite steht Andrea Nahles.
Angela Merkel trägt seit Jahren schon ihre »Jacke mit Hose«-Uniform in tausend verschiedenen Farben, sodass sich ihr weibliches Ich mit der Zeit neutralisiert hat und längst kein Thema mehr ist. Franziska Giffey war so lange das Blondchen mit der hohen
Stimme, bis sie ihre Haare hoch- und sich selbst in so konservative
Outfits hineinsteckte, dass sie heute das Kostüm einer Gouvernante
ihres früheren Ichs trägt. Giffey ist bewusst unweiblich – und
sehr erfolgreich. In der niederliegenden SPD gilt sie als vielversprechende
Hoffnungsträgerin.
Andrea Nahles hat wie kaum eine zweite Politikerin den männlichen
Kodex der Macht übernommen, um erfolgreich zu sein. Sie
hat sich fast ausschließlich mit Männern umgeben, sie hat Machtseilschaften
geknüpft, sie hat Widersacher knallhart bekämpft –
und sie hat drei SPD-Vorsitzende gestürzt oder zumindest an deren
Sturz mitgewirkt: Rudolf Scharping, Franz Müntefering, Sigmar
Gabriel. Und am Rückzug von Martin Schulz war sie auch nicht
ganz unbeteiligt.
Mit dem Einzug der Grünen wurde die männliche Ordnung der
Politik Anfang der achtziger Jahre infrage gestellt. Ein Gründungsmoment
der Grünen war es, dafür zu streiten, dass den Frauen
nicht nur im Himmel die Hälfte der Plätze zusteht, sondern auch
im Hier und Jetzt. Den Anspruch, diesen Himmel auf Erden wahr
werden zu lassen, trugen sie in den Bundestag – die frauenpolitisch
größte Zäsur in der Geschichte der Republik. Und neben der Ökologie
der wohl größte Beitrag der Grünen am gesellschaftlichen
Fortschritt des Landes.
Es waren nicht die Machtstrategen um Joschka Fischer und Otto
Schily, die das Bild der frühen Grünen im Parlament prägten. Es
war die zerbrechlich-energische Petra Kelly. Sie hat mit ihrer Popularität
die Grünen an vorderster Front ins Parlament getragen. Und
ihr folgten eine ganze Riege von Frauen, die der Bundestag bis dato
nicht gesehen, vor allem aber nicht gehört hatte: Christa Nickels,
Marie-Luise Beck-Oberdorf, Antje Vollmer, Waltraud Schoppe.
Überzeugte Feministinnen, die eine ganz andere Stimme, eine ganz
andere Haltung und ganz andere Themen in den Plenarsaal trugen,
während die Frauen der anderen Fraktionen in den traditionellen
Rollenbildern ihrer Parteien stecken blieben.
Einen legendären Auftritt legte Waltraud Schoppe im Mai 1983
mit ihrer Premierenrede im Bundestag hin. »Wir bewegen uns
in einer Gesellschaft., rief sie, »die Lebensverhältnisse normiert,
auf Einheitsmoden, Einheitswohnungen, Einheitsmeinungen und
auch auf eine Einheitsmoral, was dazu geführt hat, dass sich Menschen
abends hinlegen und vor dem Einschlafen eine Einheitsübung
vollführen, wobei der Mann meist eine fahrlässige Penetration
durchführt.« Wie bitte? Fahrlässige Penetration? Da saßen die ersten
Unionsabgeordneten schon auf den Kanten ihrer Sitze. Doch es
wurde noch munterer.
Schoppe forderte im Hohen Haus bis dahin Unvorstellbares –
eine »Bestrafung bei Vergewaltigung in der Ehe«, was prompt Tumulte
auslöste. Als sie auch noch zur Einstellung des »alltäglichen
Sexismus hier im Parlament« aufrief und Formen des lustvollen,
schwangerschaftsverhütenden Liebesspiels empfahl, johlten die
Männer, klopften sich auf die Schenkel und schütteten sich aus vor
Lachen. Sieht man sich die Bilder von damals noch mal an, so erinnern
einen die Männer im Hohen Haus an pubertierende Jugendliche,
die aus Verlegenheit rumkrakeelen und gar nicht verstehen,
worum es geht. Um strukturellen Sexismus. Waltraud Schoppe
hatte es mit ihrem Tabubruch geschafft, dass sich die Männerrepublik
im Bundestag an diesem Tag selbst entlarvte.
Damals gab es noch keine E-Mails, man schrieb noch auf Papier.
In den zahlreichen Briefen, die Schoppe nach ihrer Rede erhielt,
zielten vermeintlich verletzte Männer auf die weibliche Körperlichkeit.
»Hässlich«, »unförmig«, »Mannweib«. Es ist also nicht neu,
dass bei Anfeindungen gegenüber Frauen das Äußerliche attackiert
wird – aber damals noch ohne sexualisierte Gewaltandrohungen.
Sie sind ein Enthemmungsphänomen moderner Kommunikation
über die sozialen Netzwerke.
Claudia Roth stieß zwei Jahre später, 1985, zu den Bundestags-Grünen,
als Pressesprecherin der Fraktion. Sie erinnert sich noch gut, wie verächtlich viele Männer der anderen Fraktionen auf die Frauen bei den Grünen schauten. Für die meisten männlichen Abgeordneten waren sie keine gleichwertigen Kolleginnen, sondern
»Quotenfrauen«. Politische Wesen, die nicht deshalb im Bundestag
gelandet waren, weil sie etwas wussten und gestalten wollten,
sondern weil sie Frauen waren. Entsprechend suchten die
Männer aus der Union, der SPD und der FDP stets den Kontakt zu
denjenigen grünen Männern mit »Macker-Qualitäten« (Roth). Sie
waren ihnen vertrauter, dann heuchelten sie in verständnisvollem
Mitleidssound überfraktionelle Machosolidarität. Ganz nach
dem Motto: »Ihr armen Kerle, dass ihr euch mit solchen Weibern
rumschlagen müsst.« Doch hinter der Häme kam Angst zum Vorschein.
Die Männerrepublik ahnte, dass die Frauen der Grünen
ernst zu nehmende Eindringlinge in ihrem Arkanbereich waren:
dass sie ihre Macht bedrohten.
Die Frauenquote hat Druck ausgeübt und übt immer noch
Druck aus, auf die Grünen selbst, auf die gesellschaftliche Debatte
über die Rolle von Frauen, auf andere Parteien. Die CDU hielt bereits
1985 einen Frauenparteitag in Essen ab, und Helmut Kohl sah
sich genötigt, mit Rita Süssmuth eine zweite Frau ins Kabinett zu
berufen. Als die Quereinsteigerin in einem ihrer ersten Interviews
Simone de Beauvoir als eine ihrer Lieblingsschriftstellerinnen
nannte, brannte gleich mal die Unions-Hütte. Simone de Beauvoir!
Eine feministische Existenzialistin! Geht’s noch?
Die Progressiven in der Union erkannten sehr rasch, wie wichtig
die Grünen-Quote für sie selbst war. Bei einer Geburtstagsfeier
der Grünen hielt Heiner Geißler, damals bereits Ex- CDU-Generalsekretär,
eine Rede und mahnte hinterher in kleiner Runde
mit dem grünen Spitzenpersonal: »Ihr dürft alles ändern bei
euch, aber nicht die Quote!« Geißler wusste: Von sich aus würde
seine Partei nicht weiblicher werden. Es würde die Quote der
Grünen brauchen, damit die Männer der Union zur Einsicht
kommen.
Doch nicht alle kamen. Anzügliche Bemerkungen, schmierige
Witzchen und mal eben hingegrabscht – lange Zeit blieb der Alltagssexismus
für einige normal. Speziell vor einem – nicht ganz unwichtigen
– Unions-Abgeordneten warnten sich die Fraktionsmitarbeiterinnen
untereinander: »Nie allein mit ihm in den Aufzug!«
Die Grünen haben den Bundestag verändert – und der Bundestag
die Grünen. Als sie »etablierter« wurden und 1998 in Regierungsverantwortung
kamen, ging der damalige Parteivorsitzende
Fritz Kuhn auf Claudia Roth zu. Ob sie es nicht für angemessen
halte, ihr Outfit zu ändern, auch mal ein Kostüm anzuziehen und
gedecktere Farben zu tragen, nicht immer dieses Bunte, Schreiende.
Roth hielt es nicht für angemessen, blieb, wie sie war und bis
heute ist. Und in den Jahren danach hat sich der Bundestag vorübergehend
eher in Richtung Claudia Roth bewegt als in Richtung
Fritz Kuhn. Er ist bunter und weiblicher geworden. Doch damit ist
es nun vorbei.
In der SPD-Fraktion blieb der Frauenanteil zwar konstant bei
knapp über 40 Prozent. Aber wenn man hört, wie die Männer dort
über die Parteivorsitzende Saskia Esken reden, wie sie über eine
ehemalige Hinterbänklerin lästern, die auf Platz 15 der Landesliste
der SPD-Baden-Württemberg so gerade noch in den Bundestag
gerutscht war und sich dann erdreistete, sich für einen Posten zu
bewerben, den schon August Bebel, Friedrich Ebert und Willy
Brandt innehatten. Wie sie alles ins Lächerliche ziehen, was diese
Außenseiterin, die niemand wirklich erst nahm, sagt und fordert.
Wer sich all das anschaut und anhört, der erkennt: Die SPD mag
die erste Partei sein, die die Emanzipation der Frauen auf ihre Fahnen
schrieb – doch bis heute riecht sie streng nach Rasierwasser.
Wenn Claudia Roth vom Stuhl der Bundestagspräsidentin aus in
den Plenarsaal schaut, denkt sie zuweilen: »Was für eine Übermacht
an Männern.« Dass seit der Bundestagswahl 2017 weniger
Frauen im Parlament sind als vor der Jahrtausendwende, liegt nicht
nur am Einzug der Männerpartei AfD. In der CDU/ CSU- sowie der
FDP-Fraktion ist der Anteil der Frauen signifikant gesunken. In
der Union werden die meisten Mandate in den Wahlkreisen direkt
gewonnen – die sicheren Wahlkreise halten vor allem Männer besetzt.
Bei schlechter werdenden Wahlergebnissen fallen vor allem
Listenmandate weg – also Frauen. Davor hatte in seiner letzten
Legislaturperiode bereits der damalige Bundestagspräsident Norbert
Lammert, CDU, gewarnt. Doch auf ihn hat niemand gehört –
und so sind zum Beispiel zahlreiche CDU-Frauen aus dem Ruhrgebiet,
die selbst von politischen Widersachern geschätzt wurden,
im Herbst 2017 nicht wieder in den Bundestag zurückgekehrt. Und
bei der FDP schlägt auch im Parlament ein Trend voll durch, der
den Liberalen schon seit geraumer Zeit Sorgen bereitet: Sie wird
für Frauen immer unattraktiver.
Im Plenum ist die subkutane Diskriminierung hör- und sichtbar.
Von der Zuschauertribüne des Bundestages aus kann man beobachten,
was Vizepräsidentin Petra Pau berichtet: »Wenn Frauen
im Plenum reden, geht der Geräuschpegel hoch. Quer durch alle
Fraktionen. Plötzlich haben die Männer dringend was zu besprechen.
Dann bleiben viele zwischen den Reihen stehen und sind in
ein wichtiges Zwiegespräch vertieft. Das ist regelmäßig so, und es
ist die reine Respektlosigkeit.«
Es ist aber nicht nur das Plenum, und es sind nicht nur die Abgeordneten.
Auch auf den Regierungsbänken setzt das Getuschel
ein, wenn Frauen zum Mikrofon greifen. »Auch die Herren Staatssekretäre
meinen gerne, dringend was besprechen zu müssen, bevor
sie gehen«, sagt Pau, die die Minister und Staatssekretärinnen
davon ausdrücklich ausnimmt. »Es ist ein echtes Männerphänomen,
die Herren Staatssekretäre sind da viel anfälliger als andere.«
Selbst Regierungsfrauen wie Dorothee Bär, CSU, die Staatsministerin
für Digitalisierung, oder Julia Klöckner, die CDU-Bundeslandwirtschaftsministerin,
sind nicht gefeit. Auch sie kennen das Phänomen, dass das Interesse
der Männer sinkt, sobald sie das Wort ergreifen.
So lässt sich beobachten, dass vieles von dem, was zwischendurch
selbstverständlich erschien, nicht mehr selbstverständlich
ist. Selbstverständlich schien, dass für Sexismus im Bundestag kein
Platz mehr ist. Und dass Bilder über johlende, schenkelklopfende
Männer, die an pubertierende Jugendliche erinnern, der Vergangenheit
angehören. Nun ist beides zurückgekehrt. Der Sexismus im
Bundestag und auch die Bilder von den Krakeelern sind wieder da.
Und das hat viel mit der AfD zu tun.
Eine CDU-Abgeordnete erinnert sich an die Debatte über Ferkelkastration
im November 2018, es sei einer der Tiefpunkte in
ihrem Abgeordnetendasein gewesen, widerwärtig. Gleich mehrere
Abgeordnete der AfD hätten anzügliche Bemerkungen gemacht
nach dem Motto: Sie wüssten gar nicht, worüber sie jetzt reden
sollten, denn bei ihnen funktioniere ja alles bestens. Einer von
ihnen habe dabei demonstrativ unter seine Gürtellinie gezeigt.
Gejohle in den AfD-Reihen. Sie sei fassungslos gewesen, so die
Abgeordnete. Einer Kollegin seien Tränen der Wut in die Augen
geschossen. Sie halte das nicht mehr aus, habe sie gesagt.
Im Februar 2018 hatte bereits der AfD-Abgeordnete Enrico
Komning für Ballermannstimmung hier und Fassungslosigkeit da
gesorgt. Komning nahm die Debatte zum Wirtschaftsplangesetz
zum Anlass, über Hühner und Eier zu philosophieren, sich demonstrativ
zum Stuhl der abwesenden Kanzlerin hinzudrehen und
zu sagen: »Wer keine Eier hat, darf nicht regieren.«
Sexismus und Antifeminismus waren immer schon da im Parlament,
bis weit in die achtziger Jahre hinein sehr offen, danach wurden
sie schrittweise zurückgedrängt. Mit den Rechtspopulisten im
Bundestag haben sie nun wieder eine Bühne erhalten, auf der
sich AfD-Abgeordnete so offen frauenfeindlich präsentieren, dass
es enthemmend wirkt auf andere – und selbstverständlich wird.
»Die Grundaggressivität hat deutlich zugenommen«, konstatiert
Petra Pau. Mitarbeiter anderer Fraktionen berichten aus den Bürohäusern
von Drohungen, Beleidigungen und offener Einschüchterung
durch AfD-Personal. Es gibt Abgeordnete, die offen bekennen,
dass sie Fahrstühle passieren lassen, wenn sie darin AfD-Kollegen
erkennen. Ähnlich erhitzt geht es im Plenum zu. Aggressive Zwischenrufe,
frauenfeindliche Nebensätze, offen rassistische Untertöne.
»Ich höre längst nicht alles«, sagt Pau, »sonst müsste ich es
bewerten.« Aber wenn sich AfD-Abgeordnete im Dutzend in
Durchgänge stellen und lautstarke Unterhaltungen beginnen oder
zu Beginn ihrer Reden die Vizepräsidentinnen demonstrativ mit
»Herr Präsident« begrüßen, begegnet das Präsidium der Entgleisung
inzwischen konsequent mit einem Ordnungsruf.
Nicht jede kann sich so beherzt und schlagfertig wehren wie
Marie-Agnes Strack-Zimmermann. Die stellvertretende FDP-Vorsitzende
trägt an diesem Tag im Frühjahr 2019 eine schwarze
Lederjacke. Normalerweise meidet sie im Plenum die Plätze neben
der AfD, setzt sich möglichst nahe an die Union heran, genau wie
die meisten ihrer Kolleginnen. »Um diese Sprüche nicht ertragen
zu müssen«, sagt sie. Anzügliches, Zotiges, zu leise fürs offizielle
Protokoll, aber laut genug, um es zu verstehen. An diesem Morgen
ist die Liberale nicht schnell genug. »Oh, Frau Strack-Zimmermann«,
tönt es von jenseits des Ganges, »heute in Leder! Holen Sie
gleich die Peitsche raus?« Darauf Strack-Zimmermann: »Ach, Herr
Kollege, haben Sie zu Hause einen Notstand?«
Elisabeth Motschmann von der CDU hat auch ihre Erfahrung
gemacht mit dem aufblühenden Machismo im Bundestag, auch
mit dem in den eigenen Reihen. Als die Grünen im Februar 2019
einen Antrag zu feministischer Außenpolitik einbrachten und forderten,
die Beziehungen zu anderen Staaten auch daran auszurichten,
wie die Geschlechtergerechtigkeit gefördert wird, waren Häme,
Spott und Abfälligkeit groß, auch unter Unions-Abgeordneten. In
ihrer Rede konterte Motschmann, eine vornehme, konservative Frau
aus Bremen, die Retromänner aus, auch die eigenen: »Ich habe nie
gedacht, dass ich das jemals sagen würde. Aber ich bin jetzt auch
Feministin.«
Schon früh hat Roth im Bundestagspräsidium dazu ermahnt,
dem zunehmend verächtlichen Umgang mit Frauen im Parlament
entgegenzuwirken. Anfangs wurden ihre Mahnungen kaum ernst
genommen: Sie solle nicht so sensibel sein, bekam sie zu hören, im
Bierzelt werde doch auch so geredet. »Wir sind aber nicht im Bierzelt«,
hielt sie dagegen. Mittlerweile müsse sie nicht mehr mahnen.
Im Präsidium seien nun alle alarmiert.
Trotzdem sieht Roth gefährdet, was die Frauen in den vergangen
40 Jahren erreicht haben. Sie plädiert für einen neuen Feminismus
mit breiten gesellschaftlichen Bündnissen. »Wir müssen uns alle
wehren gegen dieses Zurück zu vermeintlich ›normalen Verhältnissen‹,
das Zurück zu den veralteten Geschlechterrollen.« Nicht,
dass der Bundestag wieder das wird, was er laut seiner damaligen
Vizepräsidentin, der FDP-Abgeordneten Liselotte Funcke, in den
siebziger Jahren war: »Das letzte verbliebene maskuline Reservat.«
Das Versäumnis
Mütter sind im parlamentarischen Betrieb nicht vorgesehen. Diesen
Eindruck jedenfalls gewann Franziska Brantner, als sie 2013
vom EU-Parlament in den Bundestag nach Berlin wechselte. »Ich
war geschockt.« In Brüssel hatte Brantner den, wie sie das nennt,
klassischen »Mädel-bring-doch-mal-den-Kaffee-Sexismus« erlebt.
Und die Frage beantworten müssen, für welchen Abgeordneten sie
denn arbeite. Eine Frau unter 30 konnte man sich als Abgeordnete
dort nicht vorstellen. Als Brantner mit ihrer dreijährigen Tochter
nach Berlin kommt, stößt die Grünen-Politikerin auf ganz andere
Probleme. »Ich war entsetzt, wie familienunfreundlich das hier
ist.«
Dorothee Bär vertritt seit 2002 den Wahlkreis Bad Kissingen
im Bundestag. Als sie Abgeordnete wurde, rieten ihr erfahrene
CSU-Kollegen, keine junge Frau als Mitarbeiterin einzustellen, die
würde garantiert bald schwanger. Vier Jahre später ist Bär selbst
zum ersten Mal schwanger – und verschwindet. Nicht aus dem
Bundestag oder von der Bildfläche, sie verschwindet aus den Köpfen
der Mächtigen in Partei und Fraktion, derer, die Karrieren befördern,
durchgehend Männer. Weil sie ja ein Kind bekommt und
damit die nächsten Jahre ausfällt, denken die Männer. Acht Wochen
nach der Geburt ihrer Tochter taucht die 28-Jährige wieder
im Parlament auf. Nicht weil Überehrgeiz sie antreibt, sondern weil
es das Grundgesetz so will: Laut Artikel 38 dürfen weibliche Abgeordnete
keine Elternzeit nehmen.
Wiebke Esdar, die Neue von der SPD aus Bielefeld, hat Anfang
2020 noch keine Kinder, ist aber schwanger. Auch sie weiß jetzt:
Kinder sind für Politikerinnen ein Handicap. Und ein Kleinkind ist
ein großes Handicap. »Im Wahlkreis fragen sie mich, ob ich 2021
überhaupt noch Wahlkampf machen möchte und wie präsent ich
sein kann«, berichtet sie. »Und in Berlin frage ich mich, was mir
überhaupt noch zugetraut wird.« Niemand redet darüber offen.
»Aber es leugnet auch keiner.«
Die Soziologinnen Isabelle Kürschner und Jasmin Siri haben die
Herausforderungen für berufstätige Mütter vor einigen Jahren eindrücklich
beschrieben. Noch immer sei die Ansicht weit verbreitet,
dass Kinder grundsätzlich zur Mutter gehören und idealerweise
auch von ihr betreut werden sollten. Politikerinnen, so befanden
sie, unterlägen einem permanenten Rechtfertigungsdruck gegenüber
Kollegen, Journalisten und Wählern. »Diese Schwierigkeiten
betreffen alle Politikerinnen gleichermaßen, ganz gleich, welcher
Partei sie angehören. Eine liberalere politische Ausrichtung geht
nicht selbstverständlich mit einer größeren Toleranz gegenüber
Müttern in den eigenen Reihen einher.« Die Studie ist zwar einige
Jahre alt, aber der Befund ist immer noch gültig. Es ist zudem ein
Befund, den selbst die Sozialdemokratin Wiebke Esdar als seinerzeit
werdende Mutter sofort unterschreiben würde.
Und noch etwas hat Esdar gelernt. Einen Rechtsanspruch auf
Mutterschutz gibt es zwar im normalen Berufsleben, aber nicht im
Deutschen Bundestag. Das Handbuch für Abgeordnete sieht dazu
jedenfalls nichts vor. »Das Stichwort fällt einmal – an der Stelle, an
der die Strafen für Nichtanwesenheit festgelegt sind«, berichtet
sie, »200 Euro für unentschuldigtes Fehlen, 100 für entschuldigte
Abwesenheit«. Unter bestimmten Voraussetzungen könne, so heißt
es da, nach der Geburt oder bei der Erkrankung eines Kindes von
Strafen abgesehen werden. Bundestagspräsident Schäuble verfahre
in diesen Fragen auch großzügig, heißt es unter den jungen Frauen.
Aber genau definiert und festgeschrieben sind diese Voraussetzungen
nicht. Für Esdar ist die Sache klar: »Ein Kind zu kriegen ist im
Bundestag nicht vorgesehen.«
Bei Franziska Brantner fing der Ärger mit der Betriebs-Kita des
Bundestages an. Die ist nur Kindern von Parlamentsmitarbeitern
zugänglich; nur wenn noch Plätze frei sind, dürfen Kinder von Abgeordneten
nachrutschen. Brantner will sich vor der Wahl 2013 auf
die Warteliste setzen lassen, erfährt aber, dass dies erst dann geht,
wenn sie gewählt ist. Als sie gewählt ist, sind alle Plätze vergeben.
In Brüssel sind die Kitas für Mitarbeiter und Abgeordnete
da, Abgeordnete erhalten zwar immer einen Platz, zahlen
dafür aber anteilig mehr an Gebühren als die Mitarbeiter. Brantner findet die
Regelung im Bundestag »schwierig«. Brantner spürt kurz Sehnsucht
nach Brüssel und löst dann das Problem: Sie bringt ihre
Tochter in eine private Kita.
Dorothee Bär nimmt ihre kleine Tochter in Sitzungswochen
mit nach Berlin, ihr Mann bleibt in Bayern, er arbeitet dort. Im
Bundestag, das erfährt Bär ziemlich unvermittelt, gibt es keinen
Wickeltisch, kein Kinderspielzimmer, kein Stillzimmer. Dafür aber
namentliche Abstimmungen, gern auch mal spätabends um elf. Sie
muss dann dahin. Sie nimmt Kind und Kinderwagen mit, parkt
beide vor dem Plenarsaal, bittet jemanden, kurz aufzupassen, rennt
rein, stimmt ab, rennt wieder raus.
Franziska Brantner wundert sich. Kinderspielzimmer, Wickeltisch,
Stillzimmer – in Brüssel ist das eine Selbstverständlichkeit
für Parlamentarierinnen. So wie die festen Termine für Abstimmungen,
mittags, in der Regel zwölf Uhr. In Berlin sind die Abstimmungstermine
über den Tag verstreut, oft wird auch spontan
eine namentliche Abstimmung beantragt – und dann muss man
halt auch mal spätabends wieder rein. Und wenn das so ist, braucht
eine alleinerziehende Mutter wie Brantner immer ebenso spontan
jemanden, der auf ihr Kind aufpasst.
Kristina Schröder wurde mit 32 Jahren Familienministerin und
mit 33 Jahren erstmals Mutter. In einer Geschichte für das ZEITmagazin
erzählte die CDU-Politikerin von dieser »hammerharten
Zeit«. Zum Beispiel von dem Abend, an dem sie stundenlang bei
der berüchtigten Bereinigungssitzung im Haushaltsausschuss auf
ihren Auftritt warten musste. Ihre Brust schmerzte immer mehr,
weil sie noch stillen oder abpumpen musste. Sie wagte es nicht, den
Vorsitzenden des Ausschusses darüber zu informieren und um
Aufschub zu bitten, weil sie nicht wollte, dass der Grund für den
Aufschub die Runde machte. Sie erzählte auch von dem Tag, an dem
sie sich wegen der Kita-Eingewöhnung ihrer Tochter freigenommen
hatte und den sie dann mit Krisengesprächen am Telefon verbrachte.
Und auch von den Sitzungswochen, in denen ihre Eltern aus
Wiesbaden angereist kamen, um sich um die Tochter zu kümmern.
Franziska Brantner wundert sich auch, dass es im parlamentarischen
Betrieb keine Mittagspausen gibt. Auch die kennt sie aus
Brüssel. Die Mittagszeit, rund eineinhalb Stunden, nutzen Parlamentarier
dort, um das notwendige Networking mit Lobbyisten
aus Unternehmen, Verbänden und Nichtregierungsorganisationen
abzuwickeln. Im politischen Berlin sind dafür die Parlamentarischen
Abende vorgesehen. Sich in die Länge ziehende Veranstaltungen
mit Häppchen, Wein und vielen Menschen, von denen niemand
zur Familie gehört. Brantner findet die Brüsseler Mittagspausengespräche
nicht nur familienfreundlicher, sondern auch ergiebiger.
Die Kürze zwinge zu Klarheit.
Für eine Mittagspause müsste der Bundestag aber die Plenarstunden
reduzieren, kürzere Redezeiten einführen, Debatten kürzen.
Im EU-Parlament betragen die Redezeiten bei Kurzdebatten in der
Regel 90 Sekunden, im Bundestag drei oder vier Minuten. In Brüssel
könnte man sich viele Anregungen holen, um den Parlamentsbetrieb
so zu gestalten, dass Familien nicht mehr ganz so zu kurz
kommen. In anderen Hauptstädten auch. Macht aber niemand.
Kristina Schröder spricht irgendwann mit Franziska Brantner,
Franziska Brantner dann mit Katja Kipping, der Linken-Chefin –
und am Ende sprechen alle drei miteinander. Die schwarz-grün-rote
Koalition der jungen Mütter gründet eine Elterngruppe. Wickelkommode,
Kinderzimmer, Stillzimmer – die Gruppe verhandelt
herbei, was längst hätte da sein müssen. Auch, dass Babys bei Abstimmungen
mit ins Plenum dürfen, wird möglich. Keine parkenden
Kinderwagen mehr davor: nie mehr »rein, abstimmen, raus«.
Der damalige Bundestagspräsident, Norbert Lammert, hatte sich
lange gesperrt, sah keine Notwendigkeiten für die Bedürfnisse der
Mütter. Erst hieß es, es gebe keinen Raum, dann gab es zwar einen,
aber auf der Ebene der Besuchertribüne. Den wollten die Frauen
nicht, sie hatten wenig Interesse daran, sich permanent mit ihren
Kindern fotografieren zu lassen. Dann sollte aus dem Raucher- ein
Kinderzimmer werden. Und am Ende bekam die Müttergruppe
doch, was sie wollte – und wo sie wollte. Im Bundestagspräsidium
hatten die Vizes Claudia Roth und Ulla Schmidt Lammert so lange
genervt, bis er nachgab. Ein Stillzimmer gibt es inzwischen – aber
auch immer noch Abstimmungen zur Kinderschlafenszeit.
Franziska Brantner ist mittlerweile zur europapolitischen Sprecherin
der Grünen-Fraktion aufgestiegen. Sie pendelt zwischen
Heidelberg und Berlin, aber ihre Tochter lebt seit der Einschulung
in Berlin. Als alleinerziehende Mutter und Abgeordnete gehe das
mit der Anzahl an Sitzungswochen gar nicht anders, sagt Brantner.
»Der Spagat ist schwierig, aber dafür bringe ich als Alleinerziehende
auch andere Perspektiven ein.«
Kristina Schröder hat mittlerweile drei Kinder und ist zur Bundestagswahl
2017 nicht wieder angetreten. Sie arbeitet heute als
selbstständige Unternehmensberaterin und schreibt eine Kolumne
für die Welt. Über ihre Zeit im Bundestag sagt sie: »Als Politikerin
ist man wie ein Rechner, der nie herunterfahren kann. Wenn ich
meine gesamte Familienphase bis heute so verbracht hätte, würde
ich es bereuen.«
Auch Dorothee Bär hat heute drei Kinder. Seit 2018 ist sie Staatsministerin
im Bundeskanzleramt, zuständig für Digitalisierung.
2019, als die Debatte ums Urheberrecht im Netz immer verletzendere
Töne anschlägt, wird auch ihre damals 13-jährige Tochter gezielt
beschimpft. »Natürlich macht das was mit einem, wenn plötzlich
die eigenen Kinder mit reingezogen werden«, sagt Bär.
Kurz nachdem Annegret Kramp-Karrenbauer ihren Rückzug
vom CDU-Vorsitz angekündigt hatte und unmittelbar darauf gleich
vier Männer, aber keine einzige Frau auf dem Bewerberfeld erschienen
waren, fragte die Süddeutsche Zeitung 20 Unionspolitikerinnen
nach dem Grund für so viel weibliche Zurückhaltung. Die
häufigste Antwort: weil die Politik so familienfeindlich sei.
Dieser Textauszug entstammt dem Buch: "Alleiner kannst du gar nicht sein". Unsere Volksvertreter zwischen Macht, Sucht und Angst. Von Peter Dausend/Horand Knaup, dtv-Verlag, 464 Seiten, 22,-€.
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