Krise als Chance – wohlfeile Lebensberatung oder echte politische Option

Um die Zeitung Le Monde als Morgenlektüre zu genießen, muss man gut französisch können. Um das Berliner Journal für Soziologie zu lesen, muss man Deutsch und Soziologisch verstehen. Soziologisch ist relativ schwer und selten lustig, aber das Juristische, Medizinische und Betriebswirtschaftliche sind auch nicht leicht und amüsant schon gar nicht. Wer willens und bereit ist, sich Soziologisch anzutun, dem seien die gesellschaftstheoretischen „Deutungsversuche“ der gegenwärtigen Krisensituation von Klaus Dörre, Stephan Lessenich und Hartmut Rosa empfohlen. Die drei Soziologie-Professoren, originelle Denker und eloquente Formulierer, haben ein paar Jahre lang an der Universität Jena zusammengearbeitet und auch dort schon gut und gerne mit- und gegeneinander diskutiert; der Suhrkamp-Band „Soziologie – Kapitalismus – Kritik. Eine Debatte“ aus dem Jahr 2009 belegt es. Stephan Lessenich arbeitet inzwischen in München, im Streit-Gespräch sind die drei geblieben, aktuell zum Thema Corona-Krise. Im Folgenden jeweils ein Blitzlicht aus ihren Aufsätzen und die Links zu den Volltexten.

Foto: Friedrich-Schiller-Universität Jena

„Auf Seuchen stoßen wir in allen bekannten Gesellschaftsformationen; sie sind kein spezifisch kapitalistisches Phänomen“ schreibt Klaus Dörre. Ein bekanntes historisches Bewältigungsmuster von Seuchen folge dem alten toskanischen Sprichwort: „Keine bessere Arznei gegen die Malaria als ein gut gefüllter Kochtopf“.

„Opfer von Seuchen werden vor allem diejenigen, die aufgrund von Armut und Hunger besonders verwundbar sind. Damit verbunden ist ein anderes Muster, die Entsolidarisierung: ‚Sobald sich die Seuche ankündigt, brechen die Reichen Hals über Kopf nach ihren Landgütern auf; jeder denkt nur noch an sich‘: ,Diese Krankheit macht uns grausamer gegeneinander als Hunde‘, zitiert Fernand Braudel einen Zeitzeugen (Samuel Pepys) der Pest in London 1665.“

Klaus Dörre sieht als Folge der Pandemie die Gefahr, „dass harte Verteilungskämpfe, zunehmende Ungleichheit und Entsolidarisierung eine Nachhaltigkeitswende zusätzlich erschweren“. Wie unklar und unsicher die Krisenlage sich auch darstelle, bei den wirtschaftlichen Verwerfungen zeichne sich eine eindeutige Tendenz ab.

Der Internationale Währungsfonds spricht von einer ‚Jahrhundertkrise’ (IMF 2020). Tatsächlich übertrifft der Einbruch im ersten Halbjahr 2020 selbst den des Finanzcrashs von 2007–2009. Allein die US-Wirtschaft schrumpfte im zweiten Quartal 2020 um 9,5%. Bis Juni 2020 wurden im Land offiziell 44,2Mio. Anträge auf Arbeitslosenhilfe registriert. Bereits zu Beginn der Pandemie waren 81% der ‚global workforce’ (circa 2,7Mrd. Menschen) vom Lockdown ganz oder teilweise betroffen. Als besonders verwundbar erweisen sich informell und prekär Arbeitende sowie die Belegschaften kleinerer Unternehmen (ILO 2020).

Foto: LMU München

„Sollte es am Ende – geradezu sciencefictioneske Ironie der Geschichte!– ein mikroskopisch kleines Virus von maximal 160 Nanometer Größe sein, das dem globalisierten, ubiquitären, in seinen sozial wie ökologisch destruktiven Effekten mittlerweile außer Rand und Band geratenen Kapitalismus den entscheidenden Schlag versetzt“, fragt Stephan Lessenich und lässt in der Fragestellung seine Antwort schon anklingen: „Nun: ‚Only time will tell‘ – nichts anderes wird eine Soziologie, die bei Sinnen ist, zu dieser Suggestivfrage sagen können.“ Gegenüber der beliebten Lebensberatungs-Semantik von der „Krise als Chance“ sei jedenfalls Zurückhaltung geboten.

In Zeiten, die gesellschaftshistorisch Verzweiflung nahelegen, sei es weder verwerflich, nach Chancen eines politisch-sozialen Paradigmenwechsels zu fahnden, noch konterrevolutionär, an die Schwerkraft des herrschenden Vergesellschaftungsmodus zu erinnern. „Was soziologiestrategisch ansteht, ist hingegen ein kapitalistischer Realismus, der nicht in der Überzeugung von der vermeintlichen Alternativlosigkeit der herrschenden Verhältnisse aufgeht.“ Kapitalistischer Realismus liest sich bei Stephan Lessenich so:

Die demokratischen Nationen des euroatlantischen Raums sind als kapitalistische Beutegemeinschaften verfasst. Ihre wirtschaftliche Produktivität beruht auf einer sozial-ökologischen Destruktivität, die seit Jahrzehnten, wenn nicht Jahrhunderten, zuallererst der Rest der Welt zu spüren bekommt (Lessenich 2016). Die unendlich irrationale Rationalität ihrer Produktions- und Konsumweisen bringt jene Verwerfungen hervor, die die Welt in Atem halten – Finanz- und Migrations-, Klima- und Pandemiekrisen – und bei denen am Ende jene das größte Leid davontragen, die zu diesen Verwerfungen am wenigsten beigetragen haben.

Foto: Friedrich-Schiller-Universität Jena

Hartmut Rosa hält es für lohnenswert und dringlich auszuloten, „welche Möglichkeiten sich in der Krisenlage für einen gesellschaftlichen Pfad- und Systemwechsel ergeben“. Er konstatiert: „Im Zuge der Corona-Krise setzte der Staat die Eigenlogik und -dynamik der Märkte, aber auch des Kultur-, Bildungs- und Wissenschaftsbetriebs zwar nicht vollständig, aber doch weitgehend außer Kraft und re-etablierte das gesellschaftliche Primat der Politik…“

In dieser unerwarteten und – auch und gerade von Soziologen – nicht für möglich gehaltenen „Erfahrung kollektiver Selbstwirksamkeit und politischer Handlungsfähigkeit“ liegt für Rosa ein gesellschafts-veränderndes Potential: „Nichts kann die handelnden sozialen Akteure strukturell daran hindern, diese Erfahrung von Handlungsmacht etwa auf den Umgang mit der Klimakrise oder die schreiende Ungleichheit der Vermögensverhältnisse zu übertragen.

An solchen Gabelungen erscheint es vielen Akteuren wünschenswert, auf den alten Pfad zurückzukehren und so schnell wie möglich die eingespielten Routinen wiederzubeleben. Es ist aber auch möglich, einen neuen Pfad einzuschlagen. Dies sind die seltenen historischen Momente, in denen soziale Akteure Geschichte wirklich machen können, in denen es stärker als zu anderen Zeiten auf ihr Handeln ankommt, weil sie Momente geschichtlicher Unentschiedenheit und Offenheit sind.

Unter dem Titel „Corona. Eine Kontroverse“ ist das Heft 2 des 30. Jahrgangs des Berliner Journals für Soziologie inzwischen auch gedruckt erschienen.

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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