Wunschdenken plus Egoismus plus Antiamerikanismus?  

Mitte April ließ der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj verlauten, der deutsche Bundespräsident sei in Kyiw nicht willkommen, man möge bitte den Bundeskanzler schicken. Offenbar wird Frank-Walter Steinmeier als Gesicht einer deutschen Ostpolitik gesehen, die den Überfall Russlands auf die Ukraine erst möglich gemacht hat. Das politische Berlin zeigte sich düpiert, vor allem die SPD, für die Steinmeier als Vordenker und Organisator in Kanzleramt und Auswärtigem Amt gedient hatte. Doch der Normalfall der letzten Jahrzehnte war umgekehrt: Regelmäßig ignorierte Deutschland die Befindlichkeiten seiner osteuropäischen Partner.

Dies ist jedenfalls das Fazit von Thomas Urban, der dies als SZ-Korrespondent aus Warschauer, Kiewer und Moskauer Perspektive viele Jahre beobachten konnte. Urbans „Flugschrift“ zur Ostpolitik kommt passgenau zur aktuellen Debatte, wer und was uns in die heutige Malaise geritten hat. Vor allem einen „verstellten Blick“ attestiert der Autor den Deutschen. Ganz besonders der SPD, die stolz auf ein halbes Jahrhundert der Entspannungspolitik zurücksieht – vom Brandt-Bahrschen Konzept des „Wandels durch Annäherung“ über die Steinmeiersche „Modernisierungspartnerschaft“ bis hin zur „Annäherung durch Wandel“.

Urban ist anderer Meinung. In sozialdemokratischen Kreisen sei die Entspannungspolitik zu einem Mythos geworden, der überbewertet und falsch interpretiert wurde, so sein erstes Leitmotiv. Fatal sei dies vor allem, weil er nach dem Ende des Kalten Krieges eine fortgesetzte Ostpolitik begründete, die auf dem Prinzip Hoffnung beruhte. Zwar habe sie den Umgang der beiden deutschen Staaten miteinander erleichtert, aber um den Preis, dass sie die strategische Stabilität im geteilten Europa über das osteuropäische Freiheitsstreben stellte. Die polnische Solidarność empfanden führende Sozialdemokraten eher als Störfaktor. Und noch bis in den Herbst 1989 hinein versuchten sie, das politische System der DDR zu stabilisieren. In Osteuropa ist dies bis heute unvergessen.

Thomas Urban: Verstellter Blick. Die deutsche Ostpolitik.
Edition.fotoTAPETA, Berlin, 2022. 191 Seiten, 15€

Den Deutschen wird, so das zweite Leitmotiv, „keineswegs grundlos eine Haltung der moralischen Überlegenheit, ein Hang zur Besserwisserei und Bevormundung der Nachbarn unterstellt“. Vor allem fehlte eine Antenne, warum jene Länder, die sich der sowjetischen Dominanz entzogen hatten, ein gerütteltes Maß an Misstrauen gegenüber der russischen Politik hegten. Die zeigte nämlich schon seit 1994, im 1. Tschetschenien-Krieg, einen ausgeprägten, immer stärker werdenden Hang, ihre Interessen in der Nachbarschaft mit Gewalt durchzusetzen.

Als Bundeskanzler Gerhard Schröder dann einen „deutschen Weg“ in der EU propagierte und (nicht nur) im Gasgeschäft die Nähe zum Kreml suchte, schlug die Skepsis vielerorts in tiefes Misstrauen um. Nicht umsonst widmet sich ein Schlüsselkapitel den „schmutzigen Kämpfen um sauberen Strom“.

Um die beiden Nord-Stream-Röhren zu bauen, setzte sich die deutsche Politik beharrlich über alle sicherheitspolitischen Bedenken Polens, der baltischen Staaten, der Ukraine, der USA und zuletzt auch der Europäischen Kommission hinweg – um im Februar 2022 erstaunt festzustellen, dass alle Warnungen vor einer selbst gewählten Abhängigkeit von russischer Energie richtig waren. In Berlin wurde kaum realisiert (oder in Kauf genommen), wie sehr sich Deutschland mit diesem Vorgehen in Europa isolierte.

Den „verstellten Blick“ auf die Realitäten führt Urban auf außenpolitisches Wunschdenken, einen allen europäischen Bekenntnissen entgegenstehenden wirtschaftlichen Egoismus und den traditionellen Antiamerikanismus der deutschen Linken zurück. Allerdings hat auch eine Bundeskanzlerin der CDU diesen Kurs über 16 lange Jahre vorangetrieben und verteidigt.

Nicht immer ist Urbans Argumentation konsistent. Wer deutsche Besserwisserei bemängelt, kann nicht gleichzeitig klagen, dass zu wenig in osteuropäische Fehlentwicklungen eingegriffen wurde. Streckenweise gleicht die „Flugschrift“ einem Kaleidoskop, in dem der rote Faden zu suchen ist. Dafür belohnt sie mit einer Fülle historischer Details, die wir bereits vergessen haben oder wollten.

Urban schließt mit einem Ausblick, noch vor dem russischen Angriff geschrieben. Dass dort ausgerechnet der geschmähte Bundespräsident als „Stabilitätsanker in der neuen Ostpolitik“ ins Spiel gebracht wird, überrascht nach den vorangehenden 188 Seiten Fundamentalkritik dann doch. Zumindest in der Ukraine sieht man es wohl anders.

Unter dem Titel „Der deutsche Weg“ erschien die Rezension zuerst auf Faustkultur.

Andreas Wittkowsky
Dr. Andreas Wittkowsky ist Wirtschaftswissenschaftler, arbeitet seit Anfang der 1990er Jahre als Osteuropaexperte, unter anderem mit mehrjährigen Aufenthalten im Kosovo und in der Ukraine. Seit 2011 ist er am Berliner Zentrum für Internationale Friedenseinsätze (ZIF), einer gemeinnützigen Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Auswärtige Amt.

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