Nachrichten meiden: Viele Ursachen, vielfältige Auswirkungen

Bild: NoName_13 auf Pixabay

Die offensichtlich rückläufige Nutzung von Nachrichten und Informationen ist zu einem Thema der Medienbranche geworden («Jahr der Nachricht»; «UseTheNews»). Das ist gut. Die Problematik muss aber ebenso zu einem Thema der Medienpolitik werden, denn es geht um mehr als das wechselhafte, volatile Nutzungsverhalten von Bürgerinnen und Bürgern. „News Avoidance“ steht für einen Umbruch in der gesellschaftlichen Vermittlungsstruktur mit Folgen für Journalismus und Medien. Ausgang offen.

Aktives wie passives Vermeiden von Nachrichten wird festgestellt. Themenverdruss oder Schlagzeilenstress aufgrund von bad news werden als Ursachen vermutet. News Avoidance wird als ein Effekt angesehen, der im Zusammenhang mit aktuellen Krisenwahrnehmungen und Meldungen über als belastend angesehene Sachverhalte entsteht. Doch ist das nur ein Kurzfristeffekt in Krisenzeiten? Da vor allem jüngere Menschen die traditionellen Nachrichtenangebote der Medienunternehmen meiden, wird News-Deprivation als ein langfristiger (Sozialisations-)Effekt befürchtet. Der hätte Folgen für den Journalismus: Akzeptanz, Zuwendung, Nutzung, Zahlungsbereitschaft. Eine solche Entwicklung hätte Konsequenzen für die Gesellschaft: Verlust der gemeinsam geteilten Themen- und Wissensordnung mit Auswirkungen auf den sozialen Zusammenhalt und die Befähigung zur informierten politischen Teilhabe und Teilnahme. Das gemeinsam geteilte Wir könnte schwinden, ein «Abschied von der Öffentlichkeit» (Michael Hüther) die Folge sein.

News Avoidance: Mikro-Phänomen mit Strukturauswirkungen

Die empirische Datenlage zur News Avoidance scheint klar. Problematisch ist es jedoch, wenn allein die Mikro- bzw. Handlungsebene der Gesellschaft, nur auf die Nutzerinnen und deren Rezeptionsverhalten, aber nicht auf Markt- und damit Machtverhältnisse bei den Vermittlungsakteuren geschaut wird. Der Blick allein auf die Nutzung kann zu Kurzschlüssen sowohl bei der Analyse als auch im Hinblick auf Empfehlungen führen. So reicht es nicht aus, Maßnahmen nur mit Blick auf die Nutzerinnen und ihr Nutzungsverhalten zu formulieren: Umgang mit Nachrichten lernen, Empfehlungen für Pausen bei der Mediennutzung. Ein «Jahr der Nachricht» ist richtig, es böte die Gelegenheit, über eine Bündelung des arg fragmentierten Angebots zur Förderung der Medienkompetenz zu sprechen.

Wenig Sinn aber macht es, den Journalismus zu weniger negativen Meldungen aufzufordern oder einen anderen, einen positiven Journalismus einzufordern – ohne die redaktionellen Arbeitsbedingungen unter den digitalen Marktverhältnissen mit in den Blick zu nehmen. News Avoidance hat viele Ursachen, sie ist auch eine Folge des Überangebots an «News» im Markt. Zu diesem Überangebot tragen die publizistischen Medien, unter dem Druck der Plattformen stehend, bei. Immer mehr Ausspielkanäle werden genutzt, um Reichweite zu erzielen. Doppel- und Mehrfachkontakte auf Seiten der Nutzer sind eine Folge. Es mag nicht immer das gleiche sein, aber gefühlt erscheint das so: More and more of the same.

Bild: geralt auf Pixabay

KI-Möglichkeiten als neues Risiko

Der More-of-the-Same-Eindruck verstärkt sich, weil die Nutzerinnen heute auf vielen Kanälen unterwegs sind, sich nicht mehr mit wenigen Quellen begnügen müssen. Sie stellen fest: More of the same every where. Diese Angebotssituation wird sich erwartbar weiter verschärfen: Mittels generativen KI-Technologien können in grossen Mengen Texte, Bilder oder Videos erstellt, variiert und über diverse Kanäle verbreitet werden. Generative KI ist ein Treiber für Variationen und Imitationen. Werden unter KI-Einfluss die Aufmerksamkeits- und damit Marktchancen für journalistische Produkte und publizistische Anbieter weiter sinken?

News Avoidance ist kein zeitlich, sachlich und sozial begrenztes Phänomen allein mit Folgen für die Nutzung, es ist ein Indikator für einen grundlegenden, strukturellen Wandel im gesellschaftlichen Vermittlungssystem:

  • Erstens hat sich die Markt- und Wettbewerbssituation im digital geprägten Mediensystem verändert. Der Journalismus und die publizistischen Medien stehen sowohl mit werbefinanzierten Online-Only-Anbietern, die Formen von Journalismus betreiben, als auch mit unterschiedlichen Plattformen im Wettbewerb. Plattformen produzieren nicht, sind zum einen massgeblich für die Auffindbarkeit (Suchmaschinen) und zum anderen für die Distribution (Social Media) von publizistischen Produkten. Sie ermöglichen ihren Nutzerinnen das Teilen, Verändern und Kommentieren von Angeboten. Die Bereitstellung publizistischer Inhalte auf immer mehr Plattformen hat zu einer Angebotsausweitung und -vermehrung, zu einem (tatsächlichen und gefühlten) Überangebot an News geführt. Im Ergebnis hat sich ein hochkompetitiver Viel-Kanal-Anbietermarkt ausgebildet, in dem es um Aufmerksamkeitsgewinnung geht. Aufreizendes, Tabuverletzendes, Boulevardeskes gewinnt.
  • Zweitens prägen die Besonderheiten digitaler Bereitstellungs- und Vermittlungsformen das Anbieterverhalten: Das sind zum einen die Bereitstellungsformen (App; Web-Angebot; Push- und Pull-Optionen) und das ist zum anderen der Vermittlungsmodus (News Stream; Adressierung, Personalisierung; Aktualisierung). Das Marktverhalten aller Anbieter ist zudem zunehmend nutzerdatengetrieben («audience driven»), die Angebote können dynamisch den Nutzungsflüssen folgend gesteuert werden. Das Risiko von Angleichung und Anpassung nimmt zu: Wir müssen das machen, was die anderen machen. Datenrelevanz und dynamisches (Re-)Agieren haben Folgen für Medienunternehmen und Journalismus, Arbeitsweisen und organisationale Verfasstheit.
  • Drittens hält der vielkanalige, dynamische Anbieter- und Angebotsmarkt für die Nutzerinnen eine Vielzahl an Offerten bereit: Es hat sich ein High-Choice-Media-Environment etabliert, die Wahlmöglichkeiten haben massiv zugenommen, dank technischer Nutzungstools die Wechselmöglichkeiten aber auch. Die Medien- und Kommunikationsrepertoires sind folglich vielfältiger geworden. Deshalb gewinnen algorithmisch gesteuerte Distributionsformen, die den Anschein individueller Nutzungsofferten erwecken, an Bedeutung. Doch ein als individuell angesehenes Angebot fehlt dann doch. Das Such- und Wechselverhalten nimmt sogar zu.

Marktverhältnisse: Verschärfung des intramedialen Wettbewerbs

News Avoidance ist also eine Folge vielfältiger Veränderungen. Sie ist kein Einmalphänomen. Das Problem verschwindet nicht, sollte es einmal weniger Krisen oder Zeiten ohne bad news geben. News Avoidance verweist auf tiefgreifende strukturelle Veränderungen. Die neuen Markt- und Vermittlungsverhältnisse haben zu einem Überangebot an News geführt, und zwar in einem mehrfachen Sinne: Volumensteigerung, Differenzierung, Modularisierung und Granularisierung des Angebots und Zunahme an Imitationen. Die Nutzerinnen und Nutzer können sich aus immer mehr Newsflüssen etwas herausfischen. Dank Smartphone und Tablet kann man einfach und bequem zwischen den Anbietern wechseln. In der Hoffnung: News find me. Das alles verringert die Aufmerksamkeitschancen für journalistische Leistungen und erschwert den Medien den Abschluss von Abonnements und die Durchsetzung von Preisen im digitalen Markt.

Unter den sich verschärfender Wettbewerbsbedingungen auf dem Anbieter-, Werbe- und Nutzermarkt hat die intramediale Konkurrenz, der Wettbewerb allein zwischen den privaten Medien, zugenommen. Das zeigt sich beim Kampf um Abonnenten und Nutzerinnen oder der Preisgestaltung im Werbemarkt, aber ebenso auf Stufe der Branche: Die Konflikte zwischen den grossen und den kleineren Pressehäusern haben zugenommen. Die Verbandorganisationen haben Mitglieds- und Führungsprobleme. Gemeinsam tritt die Verlagsbranche zwar gegen mögliche Konkurrenz von Seiten des öffentlichen Rundfunks auf, so aktuell im Konflikt um die SWR-App «Newszone». Doch es ist offensichtlich: Es gibt kein ausgebautes allgemeines und aus Gebührenmitteln finanziertes Informations-Online-Angebot, dass massgeblich für den News Avoidance-Effekte wäre und für Markteinbussen der Verlage verantwortlich gemacht werden könnte. Die Verlage selbst haben, unter dem Marktdruck von Online-Only-Anbietern und Plattformen, eine Angebotsausweitung und -differenzierung betrieben. Sie haben damit den Wettbewerb untereinander befeuert. Kannibalisierungseffekte sind eine Folge.

Intermediale Konkurrenz: Online-Only-Anbieter und Plattformen

Aufgrund des Marktdrucks der Online-Only-Anbieter und Plattformen kam es zu einer Angebotsausweitung bei den Verlagen: Neben der gedruckten Zeitung gibt es ein E-Paper, ein Online-Angebot, ebenso eine Bereitstellung von Informationen vermittels einer App. Eine nennenswerte Anzahl an Verlagen bietet zudem (diverse) Newsletter an, zu bestimmten Themen oder für bestimmte (sub-)lokale Räume. Zudem gibt es vielfach ein Angebot an Podcasts. Es ist also eine Angebotsausweitung auszumachen. Und mit einem Teil der Angebote treten die Verlage aufgrund der Bereitstellung im Internet zunehmend untereinander in Konkurrenz.

Mit journalistischen Online-Only-Anbietern, wie t-online, sind (1.) zahlreiche weitere Akteure in den Markt eingetreten. Deren journalistische Leistung variiert, mag sogar gering sein, aber die werbe- oder PR-getriebenen Anbieter bieten zumeist News an. Der Markt an kostenlosen Infomercial-Anbietern dürfte weiter wachsen. (2.) stellen öffentliche Rundfunkanstalten, private Sender und die Zeitschriftenverlage mit ihren Online-Angebote aktuelle Informationen bereit. (3.) sind unterschiedlichen Plattformen im News-Segment aktiv: Suchmaschinen (Google, Bing) oder E-Mail-Provider (T-Online, Web.de). (4.) werden die Social Media als Vertriebskanäle von den publizistischen Medien, aber eben auch von anderen Akteuren, für die Informationsverteilung genutzt. (5.) schliesslich kommt die Verbreitung von News und Informationen über Messangerdienste (wie WhatsApp) hinzu. News allüberall.

Bild: diema auf Pixabay

Anpassung redaktioneller Strukturen

Auf diese komplexe Anbietermarkt- und Distributionssituation haben die Verlage reagieren müssen: Sie haben ihr Angebot ausgebaut und differenziert. Um dies zu leisten, wurden Redaktionen umgebaut. Bei der Neuausrichtung orientierte man sich an den Bereitstellungs- und Vermittlungsformen der Plattformen, weil sie maßgebliche Wettbewerber im Werbe- und Nutzermarkt sind. Da die publizistischen Medien über keine Plattforminfrastruktur verfügen, müssen sie sich den Bedingungen der großen Plattformen aus den USA oder China anpassen.

Die Orientierung an der Plattformlogik wirkt sich auf die redaktionelle Praxis und die Managementstrukturen aus. Im Kern haben sich die Verlage, dem institutionellen Druck der stärksten Mitwettbewerber folgend, angepasst. Es wurden News-Rooms aufgebaut, eine «Rund-um-die-Uhr»-Produktion wurde implementiert. Die klassische redaktionelle Struktur und Arbeitsweise wurde entsprechend verändert: Viele müssen alles können, es kam zum Rückbau im Fachjournalismus. Zudem wurde das Desk-Prinzip eingeführt. Damit nahm die Form der ständigen Beobachtung der Konkurrenz zu, und die Reaktionsfähigkeit auf Aktionen der Konkurrenten wurde möglich. Durch das Online-First-Prinzip erlangte die digitale Vermittlung zentrale Bedeutung, und so wurden die Nutzerinnen auf die digitalen Kanäle geführt. Zwar vermochte man mit der eigenen App Nutzer zu binden, doch im App Store finden die Nutzer weitere Apps, die – nach rascher Installation – nun nebeneinander auf dem Smartphone oder Tablet stehend per Wischbewegung genutzt werden können.

Neue Bereitstellungs- und Vermittlungslogiken

Die Medienhäuser veränderten nicht nur die Bereitstellungs-, sondern ebenso die Vermittlungsformen: Um die Nutzer zu binden bzw. immer wieder zur Nutzung zu gewinnen, entfielen die aus der gebündelten Verbreitung bekannten festen, allgemein bekannten Verbreitungszeiten. Es wurden dadurch die Publikations- und Aktualisierungsrhythmen verkürzt, Beiträge werden in unterschiedlichen Rangfolgen angeboten. Vielfach wird den Nutzerinnen durch Formen der Metakommunikation gezeigt, was andere auch nutzen und was daher von besonderer Relevanz sein könnte. Durch diese metakommunikatven Formen wurde sowohl der redaktionelle Binnenwettbewerb innerhalb einzelner Medienhäusern als auch der intramediale Wettbewerb angestoßen. Die Orientierung auf- und aneinander nimmt damit zu (Nachahmungsverhalten). Damit steigen die Risiken einer verstärkten Koorientierung im Journalismus («Bubble»-Effekt), nun aber nicht bezogen auf den Wettbewerber allgemein, sondern mit Blick auf einzelne Angebote. Auf Angebote der Konkurrenz, zumeist den Nutzenden unbekannt, wird nun unmittelbar, zeitnah reagiert. Angebote werden ergänzt, aktualisiert, neu rubriziert, neu positioniert. Einen Redaktionsschluss gibt es nicht mehr, die Nutzerinnen und Nutzer müssen vielfach sich wiederholt mit bereits bekannten, aber vielleicht nur ergänzten oder aktualisierten, Dingen befassen. Bei vielen Themen wollen sie das aber nicht. Denn: Was ist neu, was ist nun richtig? News dominieren, Nachrichten zum danach richten verlieren an Bedeutung.

Wortwolke social media (narciso1 auf Pixabay)

Neue Wettbewerbsarenen der Aufmerksamkeit

Ebenso wurde in den Redaktionen, den Verwendungslogiken der Plattformen folgend, einerseits die Multi-Media-Produktionsweise eingeführt und andererseits wurden neue redaktionelle Rollenträger und Positionen für das Bespielen der unterschiedlichen Distributionskanäle nötig. Damit hat sich die Binnenkomplexität in Redaktionen erhöht, die Zahl Schnittstellen nimmt zu. Das Ausspielen auf Plattformen war für Redaktionen besonders folgenreich, weil damit die digitale Datenlogik, die der von Social Media-Plattformen ähnelt, auf die redaktionelle Kultur einwirkt.

Und auf Plattformen kann das Nutzungsverhalten beobachtet und gemessen werden. Die Datafizierung, die grundsätzlich Echt-Zeit-Messungen erlauben würde, trägt zu einer Dynamisierung von Angeboten und somit auch von deren Produktion und Bereitstellung bei. Konsequent eingeführt, beobachten dann sowohl die Redaktionen wie das Management ihre Leistungen über die Nutzungsdaten. Die Leistungserbringung wird im Detail messbar, es werden Währungen eingeführt, die Daten können sowohl organisationsintern verwandt als auch gegenüber den Nutzerinnen kommuniziert werden. Damit kann das aktuelle (kurzfristige) Nutzerverhalten, lesbar als Datensatz, handlungsleitend werden. Es etablieren sich neue Wettbewerbsarenen der Aufmerksamkeit, um Themen, Akteure oder einzelne Inhalte.

Aufgrund dieser Orientierung geht es weniger um das Publikum, also um eine angestrebte (aber abstrakt bleibende) Zielgruppe mit möglichen Erwartungen, sondern konkret um Nutzende – deren Verhalten wird redaktionell und journalistisch handlungsleitend. Journalismus orientiert sich zunehmend an einer Publikumsfiktion: «Metrisches Wir» (Steffen Mau). Die Konkurrenzwahrnehmung wandelt sich: Konkurrenten sind nicht mehr allein die Anbieter mit einem (auch normativ) anderen Angebot, sondern einzelne (erfolgreiche) Produkte finden Beachtung. Die Entbündelung des redaktionellen Angebots wird damit weiter vorangetrieben.

Datafizierung und die interne wie externe Kommunikation von Daten institutionalisieren bei den publizistischen Medien eine neue Datenlogik. Es entstehen neue Währungen zur Messung von Leistungen. Damit werden neue Relevanzgrössen (Reputation) im Journalismus eingeführt. Diese Massnahmen orientieren sich an der Plattformlogik, weniger an der publizistischen Logik. Datafizierung und Datenkommunikation definieren Wettbewerbsverhältnisse und Leistungsbewertungsregeln neu. Damit setzt sich die Plattformlogik mehr und mehr in der publizistischen Branche durch. Diese Entwicklung hat Auswirkungen auf die Legitimität der publizistischen Organisation und in der Folge für die Begründung der publizistischen Institution generell. Wofür stehen, was wollen Journalismus und Medien?

Institutionelle Legitimität von Journalismus und Medien tangiert

Die Datafizierung hat Folgen für zwei zentrale institutionelle Normen der Medien: Zum einen betrifft das die Beobachtung der Gesamtgesellschaft im öffentlichen Auftrag und die Verpflichtung auf das Gemeinwohl. Und zum anderen geht es um die Mitwirkung von Journalismus und Medien an der Herstellung der gemeinsam geteilten Öffentlichkeit. Die Veränderungen in Redaktionen zeigen an, dass der Journalismus weniger auf die Gesamtgesellschaft schaut und ein Angebot für alle, zumindest für ein grundsätzlich als unbestimmt anzusehendes Publikum, erzeugt. Die Produktion ist zunehmend auf Einzel- oder Teilangebote fokussiert. Angebote werden über unterschiedliche Kanäle vertrieben und in unterschiedlicher Weise breitgestellt. Dabei wird die Auswertung von Nutzungsdaten immer wichtiger. Damit bezieht sich das Angebot oder beziehen sich Teile des Angebots immer weniger auf ein oder gar das Publikum, sondern auf unterschiedliche Nutzergruppen. Das kann zu einem Verlust eines integralen Publikumsverständnisses, des sozialen Aggregats Publikum, führen. Dynamische, ständig sich verändernde Erwartungen, steuern die redaktionelle Produktion, während die Bedeutung zur Gewinnung eines Publikums schwindet. Publikum, verstanden als eine sozial und geographisch heterogene Gruppe, gehört zur kulturellen Grundausstattung von Journalismus und Medien.

Newsavoidance kann als ein Effekt von Datafizierung und Datenlogik, die durch die Onlinekommunikation möglich wird, begriffen werden. Die publizistischen Medien stehen unter massivem Druck von Seiten der Plattformen. Vor allem Plattformen haben die brancheninterne Konkurrenzsituation erhöht, mittels Angebotsausweitung und -differenzierung wird auf die digitale Bereitstellungs- und Vermittlungskonkurrenz reagiert. Mit den dargestellten Folgen als Effekt. News Avoidance ist Ausdruck einer massiven sozialen Veränderung. Diese tangiert den Journalismus, zu dessen professioneller Kernaufgabe Nachrichten gehören, und die Medien, weil sie sich über diese Leistung institutionell legitimieren.

News Avoidance als gesellschaftliche Herausforderung

News Avoidance ist ein relevantes Thema für den Journalismus, aber aufgrund möglicher Folgen auch für die Branchen- und Medienpolitik. Es ist offensichtlich: Die publizistischen Medien sind nicht durch öffentlich-rechtliche Angebote, sie sind durch das Marktverhalten eines Teils der Plattformen unter Druck geraten. Sie haben auf einen ungleichen Wettbewerb reagieren müssen: Online-Only-Anbieter verfügen über bescheidene redaktionelle Ressourcen und leisten nur einen geringen Beitrag zur publizistischen Vielfalt. Plattformen verfügen über keinen Journalismus, sie produzieren keine publizistischen Güter – sie wirken aber auf die Produktions- und Distributionsbedingungen ein. Sie sind nicht auf das Gemeinwohl orientiert, sie wollen nicht an der Herstellung der Öffentlichkeit mitwirken. Sie tragen zur Verbreitung von Hass- und Gewaltbotschaften bei, sie ermöglichen falsche Mitteilungen und Lügen.

Im Sinne der Gefahrenabwehr mag es gelingen, die offenkundigen negativen Folgen für die gesellschaftliche Information in den Griff zu bekommen. Aber damit sind noch nicht die Voraussetzungen für eine auf die Gesellschaft und das Gemeinwohl verpflichtete Leistungserbringung erreicht. Das Bundesverfassungsgericht hat dem Gesetzgeber aufgegeben, im Medienbereich eine positive Ordnung zu schaffen. Es ist hohe Zeit, dass die Regulierung auf nationalstaatlicher Stufe sich dieses ungleichen Wettbewerbs ordnungspolitisch annimmt. Die Debatte um News Avoidance und Newsdeprivation sollte Anlass für eine grundlegende Bestandsaufnahme sein.

Unter dem Titel „Die Medienpolitik ist am Zug“ erschien der Beitrag zuerst bei epd medien.

Otfried Jarren
Prof. Dr. Otfried Jarren lehrt an der FU in Berlin. Er war zunächst Professor für Journalistik an der Universität Hamburg, 1997 wurde er nach Zürich berufen und blieb gleichzeitig bis Juli 2001 Direktor des Hans-Bredow-Instituts für Medienforschung an der Universität Hamburg. Ab August 2008 (bis 2016) war er als Prorektor Geistes- und Sozialwissenschaften Mitglied der Universitätsleitung der Universität Zürich. Im November 2013 wurde er vom Bundesrat zum Präsidenten der Eidgenössischen Medienkommission (2013 - 2021) gewählt, im Mai 2018 erhielt er den Preis der Schader Stiftung.

2 Kommentare

  1. Die ausführliche Darlegung ist facettenreich und bietet vielerlei Anregungen zu weiteren Diskussionen. Als „Kommentar“ hier vielleicht etwas verkürzt nur Folgendes: Man hat scherzhaft mal die Porsche-Autofabrik als „Bank mit angeschlossener Blechbiegerei“ bezeichnet. Nicht nur „ein“ Körnchen Wahrheit dürfte darin liegen – auch für den Fall der medial (online, Print ..) vermittelten „Nachrichten“: Als gealtertem Zeitungsleser, der ich jetzt natürlich auch digitale Nachrichtenkanäle nutze, kommt es mir immer häufiger vor, als ob die (immer noch zu stark hochgelobten) Mainstreammedien (wie etwa DIE ZEIT, Süddeutsche etc.) eigentlich auch nur noch Medienkonzerne mit angeschlossener Nachrichten“Schmiede“ sind, die als Klickverhalten und Nutzerdaten (auf welchen Wegen auch immer) verwerten, vulgo: verwirtschaften … und deshalb auch vermehrt ihren journalistischen Job mit den lässigeren Anforderungen einer Klinkenputzerkolonne verwechseln … oder zumindest leichtfertig vermengen.
    – Andererseits: Ich glaube, das Phänomen der „Newsavoidence“ gibt es so gar nicht. Letztlich „vermeiden“ wir täglich massenhaft (vermeintliche) Nachrichten – nicht jeder umstürzende Sack Reis drängt sich zum Glück ins rezipierende Bewusstsein. Womit wir bei der Frage wären: Was wären denn spezifisch jene Nachrichten, die, wenn ich sie nicht wahrnähme, mich dem Verdikt: „Du hast die Rezeption der Nachricht bewusst verweigert, du Unwilliger!“ unterwürfen? Aus Sicht des 60 Stunden wöchentlich in seiner Kneipe schuftenden Kneipiers ist jede Nachricht über „die Völker“, die „weit hinten in der Türkei aufeinanderschlagen“, vielleicht gefährlicher Blödsinn, weil es ihm nichts nutzt, sondern eher sein Geschäft schädigt, weil er frustriert über den Zustand des Menschengeschlechts sich in den Keller verzieht. Bösartig formuliert: die Pseudodiskussion um Newsavoidance ist eigentlich eine Diskussion darüber, wer wann wie welche Nachrichten (oder was auch immer darunter gefasst wird) wahrzunehmen hat, um nicht als „Avoider“ zu gelten? Ich unterstelle den Mainstream-Medien z.B. durchaus nicht nur lautere Absichten, wenn sie (hinterm Schutzschild des angeblich ach so lauteren und über jeden Zweifel erhabenen Journalismus an sich kauernd) dafür werben, dass man doch jede Zeile ihrer medial multipel verwursteten Halbzeiler zu lesen habe, um „informiert“ zu sein. Es gibt legitime, dabei auch nicht rational begründete, Formen der „Uninformiertheit“, die angesichts des allgemeinen Heischens um jeden „Klick“ natürlich plötzlich als seltsame Form des Sich-Entziehens, ja, der Subversion (?) verdächtig werden. Oder?

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke