Wenn der Rechner die Preise ändert

Digitale Preisschilder machen es leicht, die Preise zu ändern. Bei diesen Etiketten fällt es den wenigsten auf, wenn sich im Handumdrehen der Preis ändert. (Foto: pricer)

Corona-Zeit ist Gartenzeit. Ich brauchte wegen wuchernden Wachstums zweier Kirschlorbeerbäume irgendetwas Teleskopartiges mit Schneidefunktion. Es gibt, so wusste ich, Akku-Heckenscheren mit einer Art Besenstielverlängerung. Das passende Gerät war im Netz schnell gefunden. 74 Euro ohne Akku. Aber da ich bereits eine Kompaktkettensäge auf Basis des gleichen modularen Akkusystems hatte, kein Problem. Ich war natürlich bei Amazon. Besann mich dann aber und recherchierte bei zwei nahegelegenen Baumärkten – was ohne deren Online-Auftritt nicht möglich gewesen wäre. Beim einen war das Ding ausverkauft, beim anderen nicht im Sortiment. Also wollte ich die Sünde der Bestellung bei Jeff Bezos begehen. Drei Stunden nach der Erstsichtung klickte ich das Gerät nochmals an. 99 Euro. Statt zuvor 74 Euro. Eine Preissteigerung von 33,8 Prozent in drei Stunden. War gerade die Fabrik des Herstellers explodiert? Nichts dergleichen. Es war ein handfestes Beispiel für KI-gesteuerte Preis-Volatilität unter volldigitalen Bedingungen.

Man dreht sich um, und schon wird die Sache teurer

Preise sind nämlich keine verlässlichen Preise mehr. Ihre Halbwertszeit im Online-Handel tendiert gegen Null, ihre Entwicklungstendenz ist schwer berechenbar. Aber es gibt einige Orientierungsregeln: Achten Sie auf die Tageszeit, wenn Sie schon online einkaufen, was Sie natürlich nicht tun sollten, weil Sie damit die Ödnis der eh schon bereits sehr öden Innenstädte intensivieren und weil Jeff Bezos trotz alljährlich wiederkehrender Streiks seine Tarife nicht am Handel, sondern an der Logistikbranche orientiert.

Kaufen Sie nicht zwischen 17 und 21 Uhr ein. Da sind nämlich begehrte Erwachsenenspielzeuge (Gartengeräte, elektronische Gadgets) und deren Zubehör teurer als zu anderen Tageszeiten. Stellen Sie sich lieber den Wecker auf Mitternacht. Oder stehen Sie richtig früh, so gegen 4:15 Uhr auf. Zu beiden Zeiten können Sie jede Menge Geld sparen. Denn große Onlinehändler passen ihre Preise der Nachfrage an. Und zwar „on the fly“, also sozusagen flugs und schnell. Das haben beispielsweise die Unternehmensberatung Accenture und der Preisbeobachtungsdienst Spottster detailliert analysiert.

Und weil die meisten Menschen am frühen Abend online shoppen, können die Versender in diesem Zeitfenster die Preise gefahrlos erhöhen. Das Praktische am Internet: Es müssen keine neuen Preisschilder gedruckt werden. Die Anpassung der Preise an die Tageszeit besorgt eine künstliche Intelligenz, die beobachtet, wann wer was kauft.

Wenn Rechner sich gegenseitig auzutricksen versuchen

Dass sich Preise ändern, ist allerdings nichts Neues. Das war schon immer so. Angebot und Nachfrage bestimmen den Preis, so erklärt jede Einführung in die Volkswirtschaft. Was in der Reinkultur natürlich kompletter Unsinn ist, weil die wundersame Anpassung von transparenten Märkten und voll informierten Käufern ausgeht. Durchblick gibt es aber nur unter sehr überschaubaren Bedingungen. Vielleicht auf einem Wochenmarkt. Aber nicht im Onlinehandel. Da hilft nicht einmal der Blick in Preisvergleichsportale, weil die manches wissen, anderes nicht und einiges auch nicht weitergeben, weil es den eigenen Geschäften abträglich wäre.

Aber vielleicht klappt die volatile Preisgestaltung nicht mehr lange. Die Anpassungsstrategien kennen immer mehr Menschen und versuchen sie auszuhebeln. Einen Online-Helfer, der mit den gleichen digitalen Waffen kämpft wie die Online-Händler, gibt es bereits für das Verfolgen von Preisen auf Amazon. Die Preisverlaufs-Suchmaschine heißt de.camelcamelcamel.com, was unsinnig ist, aber sich gut merken lässt. Es gibt sogar schon eine Erweiterung für die Browser Mozilla Firefox und Google Chrome namens Camelizer. Die Extension kann sogar einen Alarm auslösen. Sinkt der Preis eines begehrten Objekts unter eine Grenze, die man zuvor eingegeben hat, meldet sich der Browser und man kann zuschlagen. Corona hat aber auch da einen Riegel vorgeschoben. Auf Bitten von Amazon hat Camelcamel seinen Dienst gestoppt, um überhitzte Bestellorgien zu vermeiden.

Das grundsätzliche Problem des Dienstes aber ist: Die Erweiterung muss ein Geheimtipp bleiben, was sie schon jetzt nicht mehr ist. Denn wenn sehr viele Menschen ihr Einkaufsverhalten dadurch lenken lassen, hebt sich die Wirkung wieder auf. Die KI von Amazon merkt, dass Unmengen von Käufern App-gesteuert sagen wir erst ab 23 Uhr an den Rechner gehen und passt sich daran an. Das merkt wiederum der Camelizer und lenkt die Käufer wieder um. Und so weiter und so fort. Eine Zeit lang kann das digitale Ping-Pong-Spiel beschleunigt werden, aber dann werden die Software-Systeme zu langsam oder geraten in Rückkopplungsschleifen. Preissensible Käufer dürften es schon vorher aufgegeben haben, sich immer wieder neu zu orientieren. Immerhin könnte durch das Ausreizen der Verlaufsbeobachtung der Einsatz der Preisanpassungen dem Versender sinkende Mehreinnahmen bescheren. Eher versucht Amazon aber wohl, Camelcamelcamel zu kaufen und vom Markt zu nehmen.

Je größer das digitale Preisschild, desto besser kann es locken

Gewonnen hätten wir dann aber nur online. Der Offline-Handel ist aber nicht dumm. Seit es die mit einem Zentralrechner vernetzten digitalen Displays gibt, die in immer mehr Läden das klassische gedruckte Etikett ersetzen, können auch hier die gleichen Preisanpassungsspielchen ablaufen. Beobachten Sie mal im digital gerüsteten Supermarkt Ihrer Wahl ein paar Stunden ein solches Schild an einem Produkt, das über den Tag weg sehr unterschiedlich oft gekauft wird. Wie beispielsweise warmes Gebäck, Obst oder andere Frischeprodukte.

Die variablen Schildchen gibt es als kleines LCD-Display oder für teurere Produkte im Elektronik-Kaufhaus als E-Ink-Display, der Technik, die wir auch von den E-Book-Readern kennen. Ist das nicht zu teuer? Nur, wenn es nicht bei der Gesamtrechnung stimmt. Es wird immerhin viel an Personalkosten eingespart. Das ganze stumpfsinnige Umetikettieren ist schließlich zeitraubend. Und das Warenwirtschaftssystem ist noch ein Stück weiter digitalisiert, was ebenfalls Kosten sparen hilft. Supermärkte wie Edeka und Rewe setzen zunehmend auf kleine LCD-Displays. Saturn und Media Markt rüsten ihre Geschäfte schon länger mit den großflächigen digitalen Anzeigen aus.

Den Siegeszug in Europa begannen die Digitaletiketten in Frankreich. Gesetzliche Vorgaben zwangen Lebensmitteleinzelhändler dynamische Preisauszeichnung für einige Produkte wie Frischmilch oder Obst einzuführen. Natürlich präsentiert sich das neue „Electronic Shelf Label“, kurz ESL genannt, sehr konsumentenfreundlich. Immerhin können auf den kleinen Displays auch weitere Informationen zum Produkt abgerufen werden. Barcodes und QR-Codes für den handybewehrten Shopper beispielsweise. Und die neueste Generation in Formaten bis zu DIN A4 namens Digital Signage Display kann sogar ganze Produktbeschreibungen präsentieren, was manche Nachfrage bei teurem Verkaufspersonal überflüssig macht.

Zusätzlich prüfen sowohl der Online- wie der Offline-Handel, wenn die Konkurrenz an der Preisschraube dreht. Dahinter steckt eine Software namens ClouSale. Die Entwickler werben so für sich: „Die Preisoptimierung von ClouSale für Amazon und eBay hilft Ihnen als E-Commerce Händler immer 24 Stunden am Tag gezielt an den Markt angepasst zu sein und kann Sie zu einer Umsatzsteigerung von rund 50-60% führen. Dabei optimieren wir ca. alle zwei Minuten Ihre Artikelpreise anhand Ihrer Konkurrenz.“

Wie sich das gegenseitig beeinflusst, wenn alle voneinander wissen, dass alle an den Preisen schrauben, das führt zu sehr komplexen mathematischen Modellen. Und weil Menschen sich damit nicht unbedingt beschäftigen wollen, setzen sie Computer samt künstlicher Intelligenz daran, hier eine kleine Lücke zu finden, mit der noch etwas mehr an Umsatz erzielt werden kann. Wenn die KI nicht nur klug, sondern auch ein bisschen weise ist, empfiehlt sie vielleicht irgendwann, das Spielchen auf allen Ebenen zu beenden. Nur ein entspannter Käufer ist langfristig vielleicht noch ein guter Käufer.

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Jo Wüllner
Jo Wüllner, studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie, arbeitete als freier Journalist und Chefredakteur (PRINZ), Umschulung zum Medienentwickler in Mailand und New York (Roger Black). Seit 1993 Umbau und Neukonzeption von gut 100 Zeitungen, Zeitschriften und Unternehmensmagazinen. Bücher zu Medientheorie und Sprachentwicklung.

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