Auf schmaler Spur

Rauchwolken über der libanesischen Küste nach der gewaltigen Explosion von Beirut
(Foto: Wikimedia Commons)

Am Dienstag demonstrierten die Öffentlich-Rechtlichen Sender wieder einmal, wie man es nicht macht. Wie sie ihrem Anspruch auf Aktualität, Einordnung und Gewichtung nicht gerecht werden. Ein Hilferuf


Es wird als eine der großen Tragödien des Jahres 2020 in die Historie eingehen. Es wird das Lebensgefühl einer Kapitale dauerhaft verändern – und womöglich das ganze Land. Was sich an diesem Dienstag in Beirut ereignet hat, ist ein Drama. Wer die ersten Bilder gesehen hat, und man musste nicht lange hinsehen, wer kurz nachschaut, was 2015 in Tianjin oder 1921 in Ludwigshafen-Oppau stattgefunden hat, ahnte, dass es Hunderte von Toten und Tausende von Verletzten geben würde. Dass die ganze Welt in den kommenden Stunden in den Libanon schauen würde. Vom materiellen Schaden und den ökonomischen Folgen gar nicht zu reden.

Und was machen die deutschen Öffentlich-Rechtlichen Sender? Sie verschlafen ein Ereignis regelrecht.

Dass um 19 und 20 Uhr, zu heute und Tagesschau, noch wenige gesicherte Informationen vorlagen, ist geschenkt. Auch wenn da schon allein die Bilder in den sozialen Netzwerken die ungeheure Wucht und Dramatik erkennen ließen. Aber um 21.45 Uhr mit der DFL-Entscheidung zur Öffnung der Fussballstadien zu beginnen, wie es das ZDF anbot, ist ein Hohn. Und dass ein Fußball-Apologet von „Unsere Kurve“ für wichtiger erachtet wird, als ein Ereignis, das eine ganze Volkswirtschaft ruiniert, ist nur noch peinlich. Nach quälenden zwölf Minuten und einem länglichen Stück über Kalbitz und seinen Semi-Rausschmiss aus der AfD kündigte Marietta Slomka dann die Bilder aus Beirut an. Noch schlimmer präsentierten sich die Tagesthemen eine halbe Stunde später. Auch den Hamburgern war der Fußball wichtiger, bevor Carmen Miosga nach über 20 Minuten den Blick in den Nahen Osten lenkte. Im Rahmen des Nachrichtenüberblicks. Der sofort einsetzende Shitstorm in den sozialen Netzwerken – schon kurz nach Beginn des heute-journal – war so zwangsläufig wie absehbar.

Am Tag danach war der Katzenjammer groß. „Das war ein Fehler, über den wir uns selbst ärgern“, bekannte immerhin Wulf Schmiese, der Redaktionsleiter des heute-journal. Bei der Konkurrenz von ARD aktuell brauchte man länger für eine öffentliche Reaktion.

Diese Bewertung von Ereignissen in der Welt spricht für sich. Beziehungsweise dafür, wie schmalspurig unsere Perspektive ist. Die mediale im übrigen genauso wie die politische. Wie sehr wir uns selbst genügen. Die Deutschen nennen sich Reise- und Exportweltmeister, doch wenn es um Neugier und Interesse an fremden Ländern, Kulturen und Religionen geht, wird der Blick verengt und provinziell. Dann ist, wie am Dienstag belegt, das Liveerlebnis des Fußballfans wichtiger als eine Katastrophe, wie sie dem Libanon widerfahren ist.

Wie man es besser macht, haben im übrigen die kleinen Sender von ORF (Österreich) und SRG (Schweiz), bewiesen, die in ihren Abendnachrichten bei ZIB und 10vor10 das Beiruter Inferno an erste Stelle rückten. Trotz Bankenskandal und Überschwemmungen in Österreich und anhaltender Coronaherausforderung in der Schweiz. Sie berichteten mit Live-Schalten und vernünftigen Einordnungen, soweit das zu diesem Zeitpunkt möglich war.

Schon einmal, am 19.12.2016, haben ARD und ZDF die Aktualität verschlafen. Obwohl mit großen Studios in der Hauptstadt vertreten, waren CNN und selbst die Berliner Morgenpost mit einem Livestream damals schneller als die deutschen Sender. Der US-Korrespondent berichtete live von der Gedächtniskirche, während in den deutschen Sendern noch Kai Pflaume und ein Gotthard-Doku-Drama die übliche Feierabendunterhaltung boten. Auch seinerzeit mangelte es in den TV-Redaktionen an politischer Einordnung, Weitblick und Ehrgeiz. Damals gelobten die Verantwortlichen, Schlüsse aus den Versäumnissen zu ziehen. Zu sensibilisieren, Strukturen anzupassen, Konsequenzen zu ziehen. Auch wenn es diesmal Beirut statt Berlin war – gelungen ist ihnen das nicht.

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Horand Knaup
Horand Knaup (kn), geboren 1959, ging 1995 für die „Badische Zeitung“ nach Bonn und wechselte 1998 zum „Spiegel“, für den er viele Jahre aus dem Hauptstadtbüro schrieb, fünf Jahre war er „Spiegel“-Korrespondent in Afrika mit Sitz in Nairobi. Seit 2017 freier Journalist und Autor.

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