Es reicht jetzt! Wider die Selbstentmachtung des Bundestages

Eine Abstimmung im Plenum des Deutschen Bundestages – aber entscheiden die Abgeordneten auch oder segnen sie nur ab? Foto: Olaf Kosinsky / wikimedia commons

Diesmal war es eine Umdrehung zu viel. Gesundheitsminister Jens Spahn, CDU, wollte sich einige der Sonderrechte, die sich sein Ministerium zu Beginn der Corona-Krise im Rahmen des Infektionsschutzgesetzes selbst zugeschanzt  hatte, dauerhaft aneignen. Da platzte dem Münchner SPD-Mann Florian Post der Kragen. Via BILD-Zeitung zürnte der Abgeordnete: „Seit fast einem Dreivierteljahr erlässt die Regierung in Bund, Ländern und Kommunen Verordnungen, die in einer nie dagewesenen Art und Weise im Nachkriegsdeutschland die Freiheiten der Menschen beschränken, ohne dass auch nur einmal ein gewähltes Parlament darüber abgestimmt hat.“ Post war nicht der einzige, der seinen Widerspruch formulierte.

„Der Bundestag und die Landesparlamente müssen deutlich stärker beteiligt werden“, rief die Grünen-Frontfrau Britta Hasselmann. FDP-Chef Christian Lindner forderte, „das Parlament muss als erste Gewalt jetzt auch wieder entscheiden“. Und selbst die sonst eher regierungstreuen CDU-Abgeordneten sahen Anlass zu Widerspruch. Eine „beunruhigende Entwicklung“ konstatierte Fraktionsvize Carsten Linnemann. Das Parlament müsse „wieder selbstbewusster seine Rolle als Gesetzgeber einfordern und dann aber auch ausfüllen“.

Plötzlich fiel Abgeordneten aus allen Fraktionen des Bundestages auf, dass sie, obwohl laut Verfassung Gesetzgeber des Landes, nicht erst seit der Corona-Krise, sondern schon jahrelang ihrer eigenen schleichenden Entmachtung zugeschaut hatten. Fraktionsübergreifend scheint sich herumgesprochen zu haben, dass der Bundestag zwar nach wie vor Gesetze verabschiedet, das Parlament  aber im Lauf der Jahre systematisch an Gestaltungsmacht abgegeben hat. Hier ein Kanzlerin-Gipfel, dort ein Beraterkreis, mal eine Expertengruppe, mal eine Regierungs-Kommission – und am Schluss ein Bundestag, um das Ergebnis abzunicken. 

“Politbüro” statt Parlament

Tatsächlich waren die Abgeordneten noch nie so unbeteiligt wie heute. Mehr denn je  stellen inzwischen Instanzen, die in der Verfassung gar nicht vorgesehen sind, entscheidende Weichen. Ob Kohle- oder Endlagerkommission, ob der Koalitionsausschuss oder die Bundeskanzlerin in trauter Runde mit den Ministerpräsidenten der Länder: Tapfer winkt der Bundestag durch, was anderswo beraten und längst entschieden worden ist. All die Flüchtlingsgipfel 2015 und danach? Digitalpakt 2019? Bildungsgipfel 2020? Coronakrise? Immer waren die Ministerpräsidenten eingebunden –  ein informeller Zusammenschluss ohne Verfassungsrang, dem der FDP-Abgeordnete Oliver Luksic kürzlich sarkastisch das Attribut „Politbüro“ zuteil werden ließ.

Und je länger, desto mehr fand auch Gesundheitsminister Jens Spahn Gefallen daran, das Parlament zu umkurven. Am 25. März beschloss der Bundestag das Infektionsschutzgesetz, das die Befugnisse des Bundes bei der Seuchenabwehr, eigentlich eine Zuständigkeit der Länder, bedeutend erweitert. Ob Schutzausrüstung oder Beatmungsgeräte, Maskenbeschaffung oder Beherbergungsverbot, auf einmal war alles Sache des Bundes. Abgefasst in Verordnungen, die Spahn seither gleich dutzendfach erließ. Der „Vorteil“ der Verordnungen im Unterschied zu Gesetzen: Sie müssen nicht im Bundestag debattiert und beschlossen werden. 

Als der Minister diesen Gesetzes-Shortcut nun verstetigen wollte, wachten die Abgeordneten endlich auf. Schon das unselige Beherbergungsverbot hatte sie irritiert. Nun registrierten sie, dass einzelne Ministerien, die einen mehr, andere weniger, sie seit Jahren mit verkürzten Fristen, Adhoc-Anhörungen und anderen Tricks auszuhebeln versuchen. „Schon bei der Euro-Krise sollten wir immer wieder von jetzt auf gleich entscheiden“, erinnert sich nun der rechtspolitische Sprecher der SPD, Johannes Fechner. Andere wie der hessische CDU-Querdenker Klaus-Peter Willsch oder sein Reutlinger Kollege Michael Hennrich hatten sich schon vor Jahren immer wieder überrumpelt gefühlt.

Tatsächlich haben die Mandatsträger im Laufe der Zeit einiges an Gestaltungskraft und Entscheidungsmacht abgegeben. Gesetze, die in den Abgeordnetenbüros entworfen werden, gibt es so gut wie gar nicht mehr. Was mit der Komplexität der Materie zu tun hat, aber auch damit, dass die Ministerien personell immer weiter aufgerüstet haben, während der gewöhnliche Bundestagsabgeordnete in der Regel mit einem, maximal zwei wissenschaftlichen Mitarbeiter*innen auskommen muss. Zu wenig, um den großen Ressorts wirklich Paroli bieten zu können. 

“Das war ein super Gefühl”

Hermann Scheer, Träger des Alternativen Nobelpreises. Foto: Armin Kübelbeck / wikimedia commons

Das war einmal anders. Das Gesetz für Erneuerbare Energien (EEG) etwa wurde vor über 20 Jahren noch von den Abgeordneten von SPD und Grünen formuliert. Angeführt wurden sie damals von Hermann Scheer, SPD, dem 2010 verstorbenen „Sonnenpapst“. Marco Bülow, einst SPD-Abgeordneter und heute fraktionslos, schwärmt noch heute von der ersten Novelle des Gesetzes, die 2004 gegen den harten Widerstand von Wirtschaftsminister Wolfgang Clement, SPD, und der CDU/CSU-Fraktion das Parlament passierte: „Das war ein super Gefühl, das haben wir damals aus dem Bundestag heraus gemacht.“

Heute haben die Ministerien die Text-Hoheit übernommen, und die Abgeordneten arbeiten sich, wenn ein Gesetzentwurf die Ressortabstimmung passiert hat, in der Regel allenfalls noch an Details ab. Wirklich gewehrt haben sich die Regierungsfraktionen, also vor allem Union und SPD, dagegen bisher nicht. Das soll sich nun ändern. Etwas leiser in der Union, dafür umso lauter werden in der SPD die Stimmen, die neues Selbstbewusstsein einfordern und dafür werben, in strittigen Punkten dem Konflikt mit der Bundesregierung nicht länger auszuweichen.

In der kommenden Woche soll es im Bundestag eine Aktuelle Stunde zur Rolle der Legislative geben. „Das Parlament darf sich nicht länger scheuen, sich mit der Regierung anzulegen“, heißt es in der SPD-Fraktion. Und Johannes Fechner sagt: „Wir müssen die Zahl der Rechtsverordnungen begrenzen. Sie darf es nur noch mit Zustimmung des Bundestages geben.“ Strohfeuereifer oder ein neues parlamentarisches Selbstbewusstsein? Es ist höchste Zeit, dass sich das Parlament auf seine demokratischen Aufgaben besinnt. 

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Horand Knaup
Horand Knaup (kn), geboren 1959, ging 1995 für die „Badische Zeitung“ nach Bonn und wechselte 1998 zum „Spiegel“, für den er viele Jahre aus dem Hauptstadtbüro schrieb, fünf Jahre war er „Spiegel“-Korrespondent in Afrika mit Sitz in Nairobi. Seit 2017 freier Journalist und Autor.

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