Terror: Kein Gewitter ohne aufgeladene Wetterlage


Gedenken an die Toten des Anschlags auf “Charlie Hebdo” im Januar 2015 in Paris
Foto: Guerric Poncet / wikimedia commons CC BY-SA 2.0

Die gewohnten  Instant-Durchsagen und ad hoc–Ankündigungen nach Terror-Anschlägen verraten nur eines: Ohnmacht und Hilflosigkeit gegenüber der komplexen Konstellation von Anlässen, Motiven, Ursachen und Kontexten solcher Verbrechen. Als Ausweg aus dieser wohl nicht restlos entwirrbaren Komplexität empfiehlt sich, einzelne Aspekte aus der unübersichtlichen Gemengelage etwas genauer zu erörtern. Ein Versuch am  Beispiel der jüngsten Terrorakte in Fankreich.

Der mörderische Anschlag,  dem am Donnerstag, 29. Oktober, in Nizza drei Menschen zum Opfer fielen, davon eines „enthauptet“ (FAZ) oder „fast enthauptet“ (ZDF), einzig weil sie sich zufällig am „falschen“ Ort aufhielten, schockierte das Land, die Politik und die Medien.

Es wirkte wie ein Déjà-vu der Ermordung des Geschichtslehrers Samuel Paty 12 Tage davor. Vom erschossenen Täter weiß man gesichert, dass er tschetschenischer Herkunft und Muslim war. Vom Kontext ist immerhin bekannt, dass der Vater einer Schülerin des Lehrers per Video die Falschmeldung verbreitete, der Lehrer habe  im Unterricht ein Nacktbild Mohammeds gezeigt. Der Vater veröffentlichte auch den Namen und die Telefonnummer des Lehrers. Außerdem beschwerte er sich bei der Schulleitung und erstattete Strafanzeige gegen den Lehrer wegen des Zeigens pornographischer Bilder vor Minderjährigen. Der angeblich nur um das Wohl seiner Tochter „besorgte Vater“ fand im Netz schnell Follower, die ihrerseits einen Shitstorm gegen den Geschichtslehrer entfesselten. Zuvor gelang es dem späteren Mörder nicht, die Daten von anderen ins Auge gefassten Opfern zu eruieren. Er entschloss sich zur Kooperation mit dem „besorgten Vater“. Vom Täter wird vermutet, dass sich seine Schwester 2014 nach Syrien absetzte, um sich dem „Islamischen Staat“ anzuschließen.

Acht Anschläge seit 2015

Die Tat des 18-jährigen Einwanderers  aus Tschetschenien fiel nicht vom Himmel. Die Nachrichtenagentur Reuters zählt sieben weitere Terroranschläge seit dem 7. Januar 2015. Damals brachten  zwei Mörder in der Redaktion des Satiremagazins „Charlie Hebdo“ zwölf Menschen um. Beim Attentat vom 14. Juli 2016, als ein bewaffneter Mörder – ebenfalls in Nizza – einen Lastwagen in eine Menschenansammlung steuerte, wurden 86 Menschen getötet. Dieses Verbrechen beging ein in Tunesien geborener, französischer Staatsbürger. Die Tat beanspruchte allerdings der „Islamische Staat“. Im November 2015 ermordete eine Bande von zehn belgischen und drei französischen Terroristen wahllos 130 Menschen in Pariser Clubs. Allein der Versuch, aus den insgesamt acht Anschlägen seit 2015 eine oder gar „die“ Erklärung für die Terroranschläge zu destillieren, ist hoffnungslos und obendrein naiv. Zu unterschiedlich sind Täterprofile, Tatszenarien und politischen Konstellationen. Die medialen Interpretationsangebote und Spekulationen schwanken zwischen „Einzeltäterschaft“ (ARD 29.10.2020. 17.15 Uhr und FAZ v. 30.10.)  und „islamistischem Terroranschlag“ (Präsident Macron  am 29.10.). Von gesellschaftspolitischen Hintergründen, aktuellen wie historischen, ist nicht die Rede.

Liberté, Égalité, Fraternité, Laïcité

Die „eine und unteilbare Republik“ Frankreich schuf (1904/05) mit ihrer Gesetzgebung und der Politik zur Trennung von Kirche und Staat neben „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit“ eine vierte Säule ihres Selbstverständnisses, die meist vergessen wird – den Laizismus. Nicht in den Motiven seiner Erfinder, aber in seiner politischen Praxis und deren Wirkung, schloss sich der  Laizismus an die Entchristlichungskampagne der Französischen Revolution unter Robespierre an. Nur geht es heute nicht mehr um das Christentum, Klöster und den Klerus, sondern um „den“ Islam. In den Debatten nach den Anschlägen radikaler Terroristen in den letzten Jahren werden oft Differenzen plattgewalzt – etwa jene zwischen Islam und Islamismus, Muslimen und Islamisten, Gläubigen und Fundamentalisten. Der Laizismus wurde schnell zum Vehikel der Ausgrenzung von Religionen und  zur Abgrenzung von Fremden und Fremdem. „Laizismus“ erfüllt in Frankreich die gleiche Funktion wie „Islamkritik“ eine Zeitlang hierzulande. Wer gegen Pauschalisierung und medial inszenierte Instrumentalisierung Differenzierungen einfordert, gilt bis ins liberale juste Milieu hinein als Verharmloser oder naiver „Gutmensch“, der angeblich noch nicht mitbekommen hat, dass „wir“ im Krieg stehen mit dem Terrorismus, dem Islam/Islamismus (wahlweise Fundamentalismus, Dschihadismus, Salafismus).

Für Marine Le Pen und den radikalnationalistischen „Rassemblement National“ (RN) ist dieser ideologische Kriegszustand seit Jahrzehnten eine Selbstverständlichkeit, aber auch bei Éric Zemmour, Kolumnist beim konservativen „Figaro“ sowie Talk-Master bei zwei privaten TV-sendern, kann man wöchentlich hören: „Die Muslime sind unsere Feinde“. Der Innenminister erklärte der „Ideologie des Islamismus“ den „Krieg“. Patriotische Republikaner von der politischen Mitte bis an den rechten Rand berufen sich in ihrem Kampf für die Republik  ausgiebig auf deren vierte Säule – den Laizismus, der so faktisch zum Sekundanten des Kampfes gegen „den“ Feind aufsteigt. Seit dem endlosen, schon dreißig Jahre andauernden Streit um das Tragen von Kopftüchern in den Schulen ist aus dem ursprünglich individualrechtlich konzipierten Anspruch auf  Freiheit  v o n  Religion (welcher auch immer) ein Instrument im ideologisch grundierten Nahkampf  gegen e i n e  Religion geworden – das Amalgam, das sich Medien zum „Islam/Islamismus“ legieren. Von diesem wissen sie wenig mehr, als dass mörderische Terroristen den Tatort notorisch mit dem Ruf  „allahu akbar“ verlassen, bevor sie in der Regel erschossen werden. Der so fundamentalistisch zugerüstete Laizismus wirkt in den politischen Debatten nach mörderischen Terroranschlägen wie ein Stimmungsmacher.

Schulerfahrungen muslimischer Einwanderer

Weil der ermordete Samuel Paty Lehrer war, rückte die Schule ins Zentrum der Erklärungsversuche für den Mord. Die Schule  gilt seit Jules Ferry (1832-93) – vielfacher Minister in der Dritten Republik (1870-1940) – als Motor der republikanischen Gleichheit und Gleichbehandlung aller Bürgerinnen und Bürgern unabhängig von ihrer Herkunft und Religion. Ferry führte 1880 die unentgeltliche Grundschulpflicht ein und bremste den Einfluss von Jesuiten auf das Schulwesen aus. Bis heute fungiert Ferry deshalb als eine Art Großvater des Laizismus. Der Mord an Paty wurde im medialen Handgemenge  zum Symbol eines Anschlags auf eine Säule der Republik – den Laizismus – umgedeutet. Dass Ferry auch einer der bedenkenlosesten Propagandisten der französischen Kolonialpolitik in Afrika und Indochina war und die „mission civilisatrice“ („zivilisatorische Mission“) ausdachte, blieb dagegen, was sie schon lange war, eine Nebensache. Ferry sprach 1883 von der „Pflicht der überlegenen Rasse, die minderwertige zu zivilisieren“. Der Mord an Samuel Paty hat gar nichts mit einem Angriff auf die Institution Schule oder die Verdienste Ferrys als republikanischer Bildungsminister zu tun, aber sehr viel mit Schulerfahrungen muslimischer Einwanderer.

Was verbindet Jules Ferry mit den heutigen Zuständen in französischen Schulen? In ihrer materiellen, finanziellen, personellen und organisatorischen Ausstattung reproduzieren Schulen in von muslimischen Einwanderern bewohnten Vorstädten das alte kolonialistische Gefälle. Die sozialen und kulturellen Missstände in den Vorstädten sind bekannt und gut erforscht, aber die Politik begnügt sich mit Ankündigungen von Versprechen und Masterplänen für Reformen. Die Vernachlässigung solcher Zonen  („Banlieues“) durch die staatliche Sozial- und Bildungspolitik förderte treibhausmäßig die Entstehung des Teufelskreises von Schulversagen, Arbeitslosigkeit, Bildung von Gangs, Kriminalisierung bis hin zur Inhaftierung. Diese ermöglichte oft die politische Radikalisierung junger  Männer durch religiöse Fundamentalisten und Fanatiker, die aushilfsweise als „Helfer“ oder „große Brüder“ auftraten. 

Die große Zahl angeblich oder wirklich religiös inspirierter terroristischer Anschläge ist nicht durch „den“ Islam wie ein Gewitter über Frankreich ausgebrochen. Sie ist das Ergebnis jahrzehntelanger Versäumnisse und verfehlter Bildungs-, Wohnungs- und Sozialpolitik.

Seit der Soziologe Pierre-André Taguieff 2002 das Wort „islamo-gauchisme“ („Islam-Linksextremismus“) prägte – in Anlehnung an den in den USA und in Israel beliebten Begriff „Islamo-Faschismus“ –, verlegen sich konservative französische Intellektuelle auf die Konstruktion einer Komplizenschaft von Linken und „Islamisten“. Sie verdächtigen Linke zumindest des kumpelhaften Schweigens über den quasi-religiös motivierten Terror. Die politische Mitverantwortung der französischen Eliten am aktuellen Zustand der Republik wird so nur kaschiert.

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Rudolf Walther
Rudolf Walther ist Historiker und hat als Redakteur und Autor des Lexikons »Geschichtliche Grundbegriffe« gearbeitet. Seit 1994 ist er als freier Autor und Publizist für deutsche und schweizerische Zeitungen und Zeitschriften tätig. Seine Essays, Porträts und Kommentare liegen in vier Bänden unter dem Titel »Aufgreifen, begreifen, angreifen« vor.

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