Vermessen – vom unheilbaren Glauben, alles sei berechenbar

“Die Zeit entführt die Schönheit”. Marmorplastik im Dresdener Großer Garten.
Foto: Jörg Blobelt / wikimedia commons, CC BY-SA 4.0

Wer in der Apple Watch (oder einem vergleichbaren Produkt) nicht nur ein Statussymbol, sondern eine nützliche Technik sieht, kann sich lückenlos überwachen lassen. Jeden Schritt und Pulsschlag zählen, jede gegessene Kalorie, Blutdruck messen — pah, das ist von vorgestern.
Heute geht viel mehr: bei Stürzen Alarm schlagen, den Schlafrhythmus umstellen, den Grad an Muskelentspannung messen, den Sauerstoffgehalt im Blut bestimmen, frühzeitig vor Stress und Panikattacken warnen, EKG erstellen — Achtung: Herz stolpert bereits zum zweiten Mal aus dem Sinus Rhythmus —, in ein PDF umwandeln und ab zum Arzt. Den Diagnosen folgen die Empfehlungen: Mein lieber Apple Watch-Nutzer, Du solltest heute noch 1000 Schritte tun, Dein vorgesehener Kalorienverbrauch war leider schon um 14.28 Uhr erreicht, vor dem Schlafengehen empfehlen wir Dir … . Es kann wie ein Befehl klingen: Lebe gesund! Sonst … . Zählen, messen und sich ständig mit anderen vergleichen gehört für viele zum Alltag; dank der Technik so nebenher. So schafft sich jeder und jede messbare Wahrheiten über die eigene Gesundheit. Aus Qualitäten Quantitäten, sie erst berechenbar, dann käuflich zu machen, die Zeit in Uhren zu verwandeln, an Werte Preisschilder zu kleben, darin ist der Kapitalismus Profi.

Millionen Menschen vermessen sich ständig, jede Abweichung vom Normalzustand und von selbstgesteckten Zielen wird registriert, mit Vorgaben und Ermahnungen geahndet. So erfahren viele gesunde Menschen täglich anhand ihrer Zahlen: Ich wusste gar nicht, wie krank ich bin. Es ist z. B. eine einfache Apple Watch, die, nehme ich sie ernst, nach und nach meine Selbstwahrnehmung und meinen Lebensstil ganz schön verändert. Stolpert das Herz beim ersten Apple-EKG, dann starre ich vermutlich auf diese Zahl, wiederhole die Messung alle fünf oder alle zwei Stunden. Und was dann? So hat sich bei bereits vielen Menschen das große Ziel, ebenso unmerklich wie gravierend verschoben: Sie wollen sich nicht nur wie bisher Krankheiten vom Hals halten, sie wollen mehr: auf möglichst hohem Niveau gesund sein. Nicht nur ohne Krankheit, sondern perfekte Gesundheit — ein Ziel, dem gegenüber gesunder Zweifel angebracht ist.

Das ist kein Zahlen-Spiel mehr

Warum Apple das macht? Um Menschen zu helfen? So klingen die CEO-Worte: „Wir ermächtigen das Individuum, seine Gesundheit selbst in die Hand zu nehmen“, kündigte Tim Cook Anfang 2019 in einem Fernsehinterview an. Als wolle der Konzern nichts anderes, als den Menschen Freiheit, Gesundheit und Autonomie zu bescheren. Die Schriftstellerin Juli Zeh hat sich bereits vor gut einem Jahrzehnt in ihrem Buch „Corpus delicti“ mit der Gefahr einer Gesundheitsdiktatur beschäftigt: „Das Gegenteil von Freiheit ist die Gesundheit.“ Der millionenfache Einsatz der Apple Watch legt die Vermutung nahe, Gesunde machen sich im Dienste ihrer Gesundheit, die fortwähren soll, ihren Messungen hörig. Der Tod soll so nicht nur hinausgezögert, sondern vor allem verdrängt werden. Dass Krankheit Zufall, Laune der Natur, Schicksal sein kann, das wird nicht einmal mehr verstanden. Die Zahlen versprechen Exaktheit, der Sinn für unlösbare Probleme und Unvollkommenheiten schwindet. 

Viele neue einträgliche Geschäftsmodelle

Foto: Karolina Grabowska auf Pexels

Apple philosophiert nicht, sondern wirtschaftet: Es bastelt bereits seit Jahren an Produkten, um den zigmilliardenschweren Gesundheitsmarkt zu besetzen. Dafür baut der Konzern seit mindestens einem halben Jahrzehnt systematisch Kompetenzen und Infrastruktur aus. Denn dieser Markt ist noch wenig digitalisiert und die Konkurrenz schläft nicht; Google (google health), Facebook, Microsoft und Amazon ringen ebenfalls um Marktanteile. Sollten sich die weltweit etwa 2,5 Milliarden aktiven Nutzer von Facebook regelmäßig den Puls messen, da entstünden auf einen Schlag ganz schön viele neue einträgliche Geschäftsmodelle; auf jeden Fall eine immense Daten- und Kontrollmacht in privatkapitalistischer Hand. Es gibt die Chan Zuckerberg Initiative, die sich das Ziel gesetzt hat, bis Ende dieses Jahrhunderts „sämtliche Krankheiten zu heilen“, wenigstens ihnen vorzubeugen.

Ein weiteres Beispiel: Das Superhirn Watson von IBM wird mit Milliarden Daten gefüttert und soll dafür Korrelationen und Wahrscheinlichkeiten ausspucken. Konkret: Diesem Computer werden die Daten einer Krebserkrankung eingegeben, und er liefert dann den Ärzten Vorschläge für die vielversprechendste Therapie. Zwar gehen auch die größten Optimisten davon aus, dass es noch zehn bis 15 Jahre dauern wird, bis das alles mit geringer Fehlerquote funktioniert, aber dann, aber dann geht`s los.  Klingt gut, ist aber vermutlich unheilbar an dem Glauben erkrankt, alles sei berechenbar.

Die Techniker-Krankenkasse finanziert bereits seit einigen Jahren eine Gesundheits-App gegen Tinnitus: Mit einer Filtersoftware wird des Patienten Lieblingsmusik so aufbereitet, dass das lästige Pfeifen im Ohr leiser und erträglicher wird. Auch eine Software gegen Angststörungen gibt es bereits; der Hersteller versteht sie als „digitalen Psychotherapeuten“. Beim Bundesinstitut für Arzneimittel sind momentan 21 Apps in Prüfung, und Bundesminister Jens Spahn ist begeistert: „Deutschland ist das erste Land, in dem es Apps auf Rezept gibt.“ Naheliegend, dass auch die US-Tech-Konzerne mit Krankenversicherungen zusammenarbeiten. Naheliegend auch, dass beispielsweise Apple eine Software parat hat, die Apple Watch-Nutzern die bequeme Teilnahme an Gesundheitsstudien ermöglicht. Es heißt, in den Stores von Apple und Google lagerten etwa 100.000 Gesundheits-Apps, einschließlich derer, die sich eher den Themen Wellness, Freizeit und Lifestyle widmen; das wollen die Marktforscher von Research2Guidance herausgefunden haben.

Die kontrollierte Freiheit

Was diese Beispiele deutlich machen: Die Techniken können Experten helfen, fördern einerseits Autonomie und Handlungsspielräume von Einzelnen, können aber andererseits zugleich diese Souveränität einschränken, beispielsweise bei denjenigen, die ihre Datenfülle gläubig zum Kompass machen. Für Politik und Wirtschaft wiederum bieten die Daten vielfältige Möglichkeiten für Kontrollen und neue Geschäftsmodelle.

Anna-Verena Nosthoff, Technikphilosophin, und Felix Maschewski, Kulturwissenschaftler, die jüngst das Buch „Die Gesellschaft der Wearables“ geschrieben haben, heben den Doppelcharakter dieser Techniken hervor. Nosthoff sieht fließende Grenzen „zwischen Selbst- und Fremdkontrolle“. Ihre Argumentation: Die Technik, oft intransparent vor allem für Laien und normale Nutzer, wirke subtil und lasse die Menschen sich unmerklich diesen Maschinen und Produkten anpassen. Die beiden Wissenschaftler sprechen deshalb von einer „kontrollierten Freiheit“. Diese Doppelgesichtigkeit gilt für jeden Einzelnen: Wer seine sportlichen Aktivitäten misst, kann dies als Selbsterkenntnis ansehen. Oder als Eigenkontrolle, um eventuellen Empfehlungen oder Vorgaben des Staates, der eigenen Krankenkasse nachzukommen.

Quantified-Self-Bewegung

So ist es das Ziel der Quantified-Self-Bewegung, Wissen über sich „ohne die Hilfe von Experten und Professionen zu generieren“. Diese Bewegung setzt sich als Netzwerk aus Nutzern und Produzenten von Hard- und Softwareprodukten zusammen, die erlauben, eigenständig Erkenntnisse über die persönlichen Gewohnheiten und den persönlichen Zustand zu erheben, egal ob dies Schlaf, Ernährung, Sport oder das Funktionieren von Organen betrifft; die Bewegung veranstaltet in etwa 130 Städten weltweit regelmäßig „Meetups“, um sich zu vernetzen und Erfahrungen auszutauschen. Daten regelmäßig von sich zu erheben, das kann gelassene neugierige Selbsterforschung sein. Oder sie mutiert — allem kritischen Bewusstsein zum Trotz, unter der Hand, unbemerkt und schleichend — zu einem „Optimierungsprojekt aller Gleichgesinnten“, so die beiden Forscherinnen; denn wer sich schon misst, will sich oft auch vergleichen und konkurrieren.

Der meist im Netz von vielen anderen ebenfalls einsehbare Vergleich „aller mit allen“ — zwangsläufig mit dem Ringen um Aufmerksamkeit verbunden —, führe, so die Annahme der Forscherinnen, nicht selten zu „depressiv getönten Wahrnehmungen“, auch zu Resignation und ohnmächtigem Erleben, gebe es doch immer andere, die weiter, fitter, höher, besser und gesünder sind oder so scheinen. Das gilt für die Freizeit wie für die Arbeit. Auch im Berufsleben greift das ständige Sich-Messen seit Jahren um sich. Oft in einem Knäuel aus Kontrolle, Selbsterkenntnis und Fremdkontrolle: Wurden diese Woche die betriebswirtschaftlichen Kennziffern erreicht, genügend Kunden akquiriert? Mit dem nachfolgenden Drang: Wie werden wir noch besser und perfekter?

Stabiler und fragiler zugleich

So zeigt sich: Die Logiken des Messens sind paradox und ambivalent. Menschen fällt es schwer, sich deren Sog zu entziehen, „selbst dort, wo es als bedrängend erlebt wird“. Und: Auch dort, wo die „kulturellen Optimierungspraktiken des digitalen Messens“ helfen, ergreifen sie gleich die ganze Person, so der Befund der Forscher, machen sie so stabiler und fragiler zugleich. Denn es dient dem Einzelnen, nach Einzigartigkeit zu streben. Verbunden ist das für ihn jedoch zugleich mit dem Moment des Getriebenseins. Wer sich so präsentiert, weiß, sie/er wird jederzeit von anderen wahrgenommen. Führt dies zu mehr Eigenständigkeit oder zu Konformismus, also zu dem Schauen nach dem Tun der anderen und dem Der-Mehrheit-Nacheifern? Der französische Philosoph Michel Foucault hat viel über Kontroll- und Überwachungsmechanismen in westlichen Gesellschaften gearbeitet und die daraus folgende mögliche soziale Konformität von Individuen beschrieben. Die Prinzipien der Überwachung, des Wissen um die Überwachung, der selbstgewählten Überwachung, der Anpassung an mehrheitliche Normen, des Fremdzwangs und der Selbstdisziplinierung fasste er unter dem Begriff des Panoptismus zusammen.

Die Faszination des Digitalen

Sich einer Sache zuwenden bedeutet zugleich, sich von einer anderen abwenden.

In Hessen gab es 2015 eine Plakataktion, die Eltern aufforderte, häufiger mit ihren Kindern zu sprechen, anstatt in deren Beisein mit anderen zu kommunizieren. Es könne sich so der Wunsch von Kindern nach Aufmerksamkeit verschieben, beispielsweise in die digitalen Währungen Likes, Follower, Herzen, Smileys … . In das Dreieck Kind, Mutter, Vater habe sich das smartphone gedrängt, so die hinter dieser Aktion stehende Beobachtung. 

Mit anderen Worten: Digitale Medien ziehen an und faszinieren. Unter anderem mit ihrer unaufhörlichen Dynamik des Aufforderns, Informierens, des Neuen, Erwähnens, des Teilens von Aufmerksamkeit. Die alltägliche Bedeutung, sozial wie psychisch, ist hoch. Eine Technik der millionenfachen Individualisierung, die gravierende Folgen für die Gesellschaft hat: Es gibt keinen gemeinsamen gesellschaftlichen Grund und Boden mehr, auf dem sich viele oder alle aufhalten; der bisher gemeinsame Grund zerfällt in millionenfache Parzellen. Jeder nimmt seine Welt wahr.

„Psychisch folgenreich“.

Die omnipräsenten Apps messen, zählen, vergleichen. Mit ihnen kann jede und jeder ständig bewerten: diese Bahnfahrt, dieses Hotel, diese Dienstleistung, diesen Lehrer, dieses Getränk, dieses Seminar, meine und Deine Gesundheit und Kondition, die jeweils andere App. Welche „Spuren“ hinterlassen diese Medien und das digitale Tun im Subjekt?

Prof. Dr. Vera King
Goethe-Universität

Die Sozialpsychologin Vera King, Direktorin des Frankfurter Sigmund-Freud-Instituts, hat zusammen mit mehreren Wissenschaftlerinnen bereits 2019 in der Zeitschrift „Psyche“ einen Text zu dem Thema „Psychische Bedeutungen des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens“ publiziert. Der Text beruht auf ersten Ergebnissen der breitangelegten empirischen Studie „Das vermessene Leben“, die 2018 startete; etwa 1000 Expert*innen und weitere Personen werden online befragt, zudem werden etwa 60 Intensiv-Interviews geführt.

Die interdisziplinär zusammengesetzte Wissenschaftler*innen-Gruppe geht von „der enormen gesellschaftlichen Verbreitung  von Quantifizierungstechniken und –imperativen im digitalen Zeitalter“ aus. Sie beschäftigen sich mit den psychischen Bedeutungen und mit der Faszination „des digitalen Messens, Zählens und Vergleichens“. King:

Noch nie wurde so viel gezählt und vermessen wie seit Beginn des digitalen Zeitalters.

Das Besondere: Die Logiken der Metrisierung und die Semantiken der Zahl erlangten „die Vorherrschaft…“, da sie nicht länger eine Angelegenheit von Fachleuten seien, sondern „ein Bestandteil auch der individuellen alltäglichen Praxis“. Die Technik habe dafür die Voraussetzungen geschaffen: mit smartphones und wearable devices, die beispielsweise bequem am Körper getragen werden können. Diese Messvorgänge würden technisch ständig verfeinert, könnten persönlich adressiert werden und seien inzwischen omnipräsent, so dass das Vergleichen grenzenlos werde. Das sei eine neue kulturelle Matrix des permanenten Vergleichens und Konkurrierens.

Vor allem diese Merkmale machten diese Trends „psychisch folgenreich“. Eine der Folgen: Der Mensch entwickle eine instrumentelle Logik zu sich, seinem Körper und zu anderen. Kurz gesagt: Die Folgen für Menschen und ihre Psyche, für Gesellschaft und Alltag seien allumfassend. 

Standhalten?

Konrad Lehmann, Neurobiologe und Wissenschaftsjournalist, schrieb jüngst in einem Essay in Publik-Forum, angelehnt an die Arbeiten von Günter Anders, Philosoph und Schriftsteller: Der Mensch sei all seinen technischen Produkten weithin unterlegen, denn diese seien immer leistungsfähiger, präziser, „praktisch unsterblich“, da sie jederzeit ersetzt werden können. Weil er trotz seiner Unzulänglichkeiten mithalten wolle, kämpfe er gegen das Altern, optimiere sich ständig und versuche, vor allem mit technischen und chemischen Mitteln seine Handlungsmöglichkeiten zu erweitern. Jedoch: Seine Fantasie und Gefühle hielten den Möglichkeiten, die er sich schaffe, nicht Stand.

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Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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