Avocado oder Advokat – mit menschlicher und maschineller Übersetzung interkulturell unterwegs

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Kenntnisse von Fremdsprachen sind global, aber auch innerhalb Europas die Bedingung der Möglichkeit sich zu verständigen. Deshalb überrascht es nicht, wie wenig der Tourismus  zum kulturellen Zusammenhalt in Europa beigetragen hat. Urlauber können ein Land besuchen, ohne Zugang zu den Menschen außerhalb der touristischen Zentren zu finden. Aber auch die Intellektuellen, die „europäische Werte“ in Konzepte gegossen haben, fanden keinen (nennenswerten) Zugang zur Lebenswelt großer Teile der Bevölkerungen. Können maschinelle Übersetzungen daran etwas ändern? Eignet sich der Computer nicht nur als Arbeits- und Unterhaltungs-, sondern auch als universale Verständigungsmaschine?

Foto: Daniel Brockpähler

Vielleicht waren und sind Städtepartnerschaften für interkulturelle Verständigung das wichtigste Netz, das sich bis heute über ganz Europa spannt. Nach 1945 hat Deutschland versucht, seine neue Rolle auch auf diesem Weg zu finden, auf kommunaler Ebene Partnerschaften anzubahnen und abzuschließen. Bei den gegenseitigen deutsch-französischen Besuchen versammelten sich Hunderte Bürger auf dem Marktplatz, um mehrere Reisebusse mit ankommenden Franzosen zu begrüßen. Auf solchen Großveranstaltungen wurde die Freundschaft der Kommunen für die Einzelnen erfahrbar.

Praktische Kultur erzeugt auch die Arbeit von Berufsmenschen aus Politik, Unternehmen, Betriebsräten etc. Diese Ketten und Netzwerke der Kommunikation und Kooperation über nationale Grenzen hängen von sprachlichen Kompetenzen ab. In einer zweiten, dritten oder vierten Fremdsprache das erforderliche hohe Maß an Geläufigkeit und Präzision aufzubieten, ist allerdings voraussetzungsreich. Schon fachliche Texte zu schreiben, von literarischen zu schweigen, erfordert ein hohes Maß an aktiver Sprachbeherrschung. Sie dürfte dünn gesät sein. Deshalb bildet häufig die englische Sprache eine (manchmal sehr wacklige) Brücke, wenn sich beispielsweise Deutsche und Spanier verständigen wollen. Meine Erfahrung dabei ist, dass sich auf diese Weise ein Stück Handlungsfähigkeit auf beiden Seiten zurückgewinnen lässt; ich nenne es  Autonomie.

Welche personale Autonomie ist real und welche illusionär?

Personale Autonomie ist begrenzt. In unserem Fall durch die fremde Sprache und die nicht ausreichend ausgebildete Sprachkompetenz, also durch äußerliche und innerliche Schranken. Ich erinnere mich an eine Situation im Foyer eines Madrider Hotels. Hinter einem Gast, der eincheckte, hatte sich eine Warteschlange gebildet. Wie sollte sich ein Gast mit der Rezeptionistin per Sprachcomputer verständigen? Zu einer ruhigen Tageszeit wäre dies vielleicht möglich, aber auch dann würde aus einzelnen Sätzen wohl kein Dialog zu Stande kommen. In der damaligen Situation hat der einzelne Herr, auf Kommunikation mit Hilfe seines Sprachcomputers bestehend, die Geduld der Wartenden arg strapaziert. Die front office managerin musste beweisen, dass sie ihren Titel zu Recht trägt.

Im Gegensatz aber zu den Illusionen über personale Autonomie, die Hersteller von KI-basierten Kommunikationsmaschinen verbreiten, können gute Übersetzungsmaschinen wie „DeepL“ Beträchtliches leisten. Ihre Übersetzungen meiner Texte erscheinen mir häufig stimmig, Betonung natürlich auf „erscheinen“. Ab und zu ändere ich die Formulierung eines Satzes, um eine Fassung zu erhalten, die mir die Sache besser zu treffen scheint. Sinnentstellende Übersetzungen sind selten. Einen markanten Fall, wie den, den Informatiker gerne in Vorträgen verwenden, habe ich noch nicht erlebt: eine Maschine hatte wegen ihrer Erfahrungen den Satz „Ich esse eine Avocado“ als „Ich esse einen Advokaten“ ins Französische übersetzt. In jedem Fall verlangt die Arbeit mit dem maschinellen Übersetzer Aufmerksamkeit.

Meine Arbeit mit Übersetzungsmaschinen war nicht Folge offensiver Werbung. Ich wollte nicht an der vordersten Front der Modernisierung sein, sondern kam aus praktischen Überlegungen auf die KI. Eine gute Übersetzungsmaschine befreit mich von zeitaufwendigen Tätigkeiten wie dem Nachschlagen von Vokabeln, der Notwendigkeit, beim Angebot mehrerer Wörter entscheiden zu müssen, welches zu wählen sei. Sie hilft bei der Verwendung der Zeiten, der korrekten Satzstellung und der Herstellung von Bedeutungskontexten. Übersetzungsmaschinen sind mir zu einer großen Hilfe geworden, weil ich mit den spanischen Kolleg*innen in ihrer Sprache kommunizieren kann. Die vorgeschlagenen Übersetzungen kann ich kontrollieren und korrigieren. So erweitert sich mein Handlungsspektrum.

Zwei Autonome treffen aufeinander

Die Arbeit mit der Übersetzungsmaschine ist ein besonderer Fall einer Mensch-Maschine-Interaktion. Nehmen wir für einen Moment an, dass in einer einfachen Konstellation ein autonomer Mensch auf eine mehr oder weniger autonome Maschine trifft! Programmierer*innen haben die Arbeitsteilung zwischen beiden sinnvoll gestaltet.  Die technische Autonomie der Übersetzungsmaschine nimmt auf die Nutzer*innen, die „Systemumwelt“, Bezug. Wir würden es als böse Überraschung erleben, geschähe dies nicht und die Maschine entschiede selbst, in welche Sprache sie den eingespeisten Text übersetzt: „Sorry, aber am Wochenende übersetze ich nur ins Englische!“ Zugleich ist sie selbständig und von den Nutzer*innen unabhängig. Wir können nicht in ihre Übersetzungsregeln hineinreden.

Übersetzungsmaschinen sind durchaus „eigensinnig“. Manchmal änderte ich meinen Text, aber die Maschine blieb bei ihrer Übersetzung. Ich änderte den Text abermals, aber nichts passierte. Dies bedeutet nicht, dass sie nicht lernfähig ist, sie wiederholt nicht ständig dieselben Übersetzungsfehler, aber ihre Autonomie kann uns überraschen.

Bei der Arbeit mit Übersetzungscomputern fallen Daten an, wenn ich einen Übersetzungsvorschlag akzeptiere oder ihn korrigiere. Das Programm speichert sie und verarbeitet sie ähnlich wie in einem Gehirn. Auf dieser Basis kann eine Maschine selbständig Entscheidungen treffen. Sie kann sich autonom neu justieren, ein- und ausrichten. Sie agiert nicht nur, sie reagiert auch. Die Maschinen können mit uns kommunizieren.

Personale Autonomie im europäischen Alltag

Die KI der Übersetzungsmaschinen hat meine Kommunikation mit den spanischen Kolleg*innen erweitert. Anders als die Kellner in manchen Restaurants, die auf mein Kommunikationsangebot in Spanisch auf Englisch antworten, nehmen meine stark beschäftigten Partner*innen mein maschinenbasiertes Spanisch gerne an. Es beschleunigt organisatorische Absprachen. Zu meinen Gunsten unterstelle ich, dass meine Partner*innen es auch als guten Kooperationswillen und Respekt vor ihrer Kultur werten.

Ansonsten prägt meine begrenzte, technisch nicht unterstützte Fremdsprachenautonomie die Verständigungen in den Konferenzräumen, Foyers oder Restaurants. Dies ist nicht grundsätzlich negativ. Im europäischen Alltag der Kommunikation und Kooperation gilt es auch „Zeit zu verlieren“. Dazu gehören nicht zuletzt die Umständlichkeit und eingeschränkte Artikulationsfähigkeit von Nicht-Muttersprachlern. Ich nehme an, dass sie zu einer für die Politik typischen Motivbildung passen: Kommunikativer Erfolg wird hier anders bewertet als im Businessleben. Mir fallen Parallelen zum ersten Besuch einer Stadt ein. Mit meinem Sinn für Autonomie greife ich nicht auf die Restaurant-Finder-Apps und dergleichen zurück. Ich folge nicht den Ratschlägen begeisterter „Likes“, die ein Restaurant oder eine Bar für „unbedingt“ besuchenswürdig halten. Ich überlasse es dem Zufall und meinem Gespür, bei einem Spaziergang ohne konkretes Ziel auf eine Überraschung zu stoßen.

Erlaubt die KI, mehr Kreativität in andere Dinge zu stecken?

„Translating Europe“ hieß eine Online-Veranstaltung der Deutschen Nationalbibliothek (DNB) im November 2020. Sie hatte unter anderem die Konkurrenz zwischen professionellen Übersetzer*innen und Übersetzungsmaschinen zum Thema. Die Fachleute meinten, dass für sie als zukünftiges Aufgabenfeld „Zertifizierung“ und „Qualitätsmanagement“ von Texten in Frage komme. Ich war skeptisch: Das mag für qualifizierte Tätigkeiten und für besondere Dokumente gelten, aber für die Masse der weniger anspruchsvollen Alltagskommunikationen könnten sich automatische Übersetzungen durchsetzen. Dann würde der Markt für Übersetzer*innen kleiner. Und was gut ist für kenntnisreiche Fremdsprachenlaien, stellt Arbeit und Einkommen professioneller Übersetzer*innen in Frage.

Die Berlinale (hier 2017) als internationales und interkulturelles Meeting (Foto: Martin Kraft)

Andererseits sah unlängst ein Vertreter des russischen Internetunternehmens Kaspersky für den Journalismus in KI die Möglichkeit, in bestimmten Bereichen schnelle, zusammenfassende Berichte zu erstellen. Das schaffe Zeit für die menschlichen Journalist*innen, ihre Kreativität etwa in Reportagen zu stecken und sich nicht mit Standardtexten beschäftigen zu müssen. „In Grenzen gibt es das heute auch schon“, sagt der Technikjournalist Jan Rähm. „Beispiel: Stuttgarter Zeitung. Hier gibt es eine Künstliche Intelligenz, die textet über die Feinstaubbelastung in der Stadt. Und die Basis dieser Texte sind Messwerte eines Stuttgarter Labors. Einige andere, etwas weniger konkrete Beispiele wären zum Beispiel Sportberichte, Wirtschaftsnachrichten oder Wetternews. Die werden von einigen Medien in dieser Welt bereits automatisiert erstellt. Und ein weiteres, dann wieder konkreteres Beispiel, das wäre der Lokaljournalismus.“

Technologische Potenziale und ökonomische Kalküle

Gewiss, es werden neue Berufsfelder entstehen. Aber diese einfache Feststellung ist zu sorglos, weil zu eindimensional gedacht. Es gibt weitere Dimensionen, die es zu berücksichtigen gilt. Der renommierte Journalist Ryszard Kapuscinski hatte schon vor zwanzig Jahren in „Die große Reporterarmee“ über eine weitere Dimension journalistischen Arbeitens nachgedacht. Die Qualität der Berichte aus den verschiedenen Staaten der Erde habe aufgrund der globalen Medienmärkte und des Zeitdrucks deutlich nachgelassen. Viele Journalist*innen wären „ahnungslos“ und arbeiteten unter Bedingungen, die einen längeren Aufenthalt in den Staaten, über die sie berichteten, nicht erlaubten.

Beim Nachdenken darüber, wie KI die Arbeit verändern wird, spielen nicht allein technologische Potenziale, sondern auch ökonomische Kalküle eine Rolle. Deshalb entstehen nicht einfach neue Freiräume. KI fördert die Selbständigkeit, wenn die Nutzer*innen „personale Autonomie“ besitzen. Sie wissen, was sie tun, sie wissen ihr Tun zu bewerten und können es gegebenenfalls ändern. Ihre Autonomie erfordert im Falle der Übersetzungsmaschine eine aktive Fremdsprachenbeherrschung.

Man wird auch die noch bevorstehenden Modernisierungen mehrdimensional fassen müssen. Wenn mehr Kreativität in andere Dinge gesteckt werden soll, um von Routinen zu entlasten und die Arbeit abwechslungsreicher zu machen, müssen dafür mit der Gestaltung des Gesamtsystems und mit der Arbeitsorganisation Freiräume für die Arbeit geschaffen werden. Es gilt die technologisch gegebenen Optionen einer qualifikationsorientierten Arbeit bestmöglich auszuschöpfen. Die wichtigsten Kriterien für die qualifikationsorientierte Gestaltung der Schnittstelle zwischen Maschine und Mensch sind bekannt: Sensibilität für Zusammenhänge, Anpassungsfähigkeit, Verständnis für die Zusammengehörigkeit von Gegensätzlichem.  Aber das ist ein neues weites Feld.


Eine Serie mit Nachrichten aus dem artifiziellen Leben

In seiner „Liebeserklärung an die vernetzte Generation“, genauer: an seine Enkel, die er Däumelinchen und Kleiner Däumling nennt, schreibt der französische Philosoph Michel Serres (1930-2019):

Dionysius, von den ersten Pariser Christen zu ihrem Bischof gewählt, war von der römischen Armee verhaftet worden. Auf der Ile de la Cité eingekerkert und gefoltert, wird er schließlich verurteilt, auf der Kuppe eines Hügels, der einmal Montmatre heißen sollte, enthauptet zu werden. Die Soldaten aber weigern sich aus Bequemlichkeit, den beschwerlichen Aufstieg auf sich zu nehmen, und richten das Opfer schon auf halbem Wege hin. Der Kopf des Bischofs fällt zu Boden. Aber welches Grauen erwartet sie! Enthauptet, erhebt sich Dionysius, packt seinen Kopf und setzt mit ihm in seinen Händen den Aufstieg fort. Ein Wunder! […]
Däumelinchen klappt ihr Notebook auf. Mag sie sich jener Legende auch nicht entsinnen – was sie da vor Augen hat, ist nichts anderes als ihr Kopf. Wohlgefüllt kraft seiner unerschöpflichen Informationsbestände, aber auch wohlbeschaffen, weil sich durch Suchmaschinen in ihm Texte und Bilder nach Lust und Laune aufrufen lassen und, besser noch, die unterschiedlichsten Programme in der Lage sind, schneller als sie selbst es je vermöchte, zahllose Daten zu verarbeiten. Wie der heilige Dionysius seinen halslosen Kopf, so hält sie ihre vormals internen, nun externalisierten kognitiven Fähigkeiten in Händen. Muss man sich Däumelinchen enthauptet vorstellen? Ein Wunder?

M. Serres, Erfindet euch neu! Eine Liebeserklärung an die vernetzte Generation, Berlin: Suhrkamp, 2013, S.27f

Am Beispiel des Schachcomputers, der Übersetzungsmaschine und (am Sonntag, 17. 01.) am Beispiel der Bibliothek – weitere werden folgen –
fragt Klaus West in der bruchstücke-Serie “Nachrichten aus dem artifiziellen Leben”, wie Digitalisierung und Künstliche Intelligenz (KI) unsere personale Autonomie und unsere Lebenswelt herausfordern.

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

2 Kommentare

  1. Hallo Herr West
    vielen Dank für Ihren Beitrag. Ich würde gerne eine solche Übersetzungs-KI
    in Anspruch nehmen. Was empfehlen Sie?
    Gruß, W. Schlotter
    Konstanz

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