Von der Katastrophe zum Mythos

„Eines der tragenden Fundamente jedes modernen Staates ist sein Bildungssystem. Niemand müsste das besser wissen als die Deutschen.“
„Bildung gilt als Allheilmittel für fast alle gesellschaftlichen Missstände.“

Zwischen diesen Feststellungen liegt ein halbes Jahrhundert. Mit den ersten beiden Sätzen leitete der Altphilologe Georg Picht in der Mitte der 1960er Jahre „Die deutsche Bildungskatastrophe“ ein, eine Artikelserie im damaligen protestantisch-bildungsbürgerlichen Leitmedium „Christ und Welt“. Er schockte die behäbige, reformunwillige Adenauer-und Erhard-Republik, forderte die Verdoppelung der Abiturientenzahlen, Mittelpunktschulen im ländlichen Raum, um den „katholischen Mädchen“ eine Chance zu geben, eine Kehrtwendung im Lehrerberuf. Mit dem Hinweis auf das Allheilmittel Bildung beginnt Aladin El-Mafaalanis Erfolgs-Buch seine Betrachtung des heutigen deutschen Bildungssystems. Er macht aus der Katastrophe von einst einen Mythos: nach fünfzig Jahren „Reförmchen“ herrschten nach wie vor Ungerechtigkeit und Ungleichheit in der Schule und durch die Schule.

Georg Picht, der damalige Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg scheute keinen Konflikt – weder mit der Zunft der Philologen, die sogleich den Untergang des deutschen Gymnasiums beschworen, noch den mit den Kultusministern und der Bildungsverwaltung. Er rechnete vor und ab: „Dass Schulstatistik etwas mit Sozialpolitik zu tun haben soll, das will den Deutschen nur schwer in den Kopf. Unser sozialpolitisches Bewusstsein ist womöglich noch rückständiger als unser Bildungswesen.“ Welche Klarheit! Und mehr als 50 Jahre danach? Der Befund stimmt noch immer, aber wer formuliert noch einen solchen klaren Satz?

Auf Zehenspitzen durch die Bildungspolitik

Aladin El-Mafaalani, als „Akademikerkind von migrierten Eltern“ im Ruhrgebiet geboren, moniert zwar: „Ungleichheitssensible Förderung“ leisteten weder die Lehrerschaft noch die politisch Verantwortlichen. Gesellschaftliche Chancengleichheit durch Bildung, die so nicht wörtlich im Grundgesetz steht, aber seit Ralf Dahrendorf (1965) ein Bürgerrecht ist, bleibe uneingelöst. Verantwortlich für die Versäumnisse macht El-Mafaalani, den der Verlag als „Spiegel-Bestsellerautor“ bewirbt, „ideologische Kämpfe“, „Machtverhältnisse“ und „die Trägheit des Systems“. Genaueres erfährt der Leser, die Leserin auf den 245 Seiten nicht.

Aber insgesamt geht der Autor wie auf Zehenspitzen durch die Bildungspolitik seit Georg Pichts Weckruf. Er sieht nirgends bösen Willen oder Absichten, weder bei den Kultusministern noch bei den Lehrern. Vielleicht da und dort Ahnungslosigkeit. Dass die „feinen Unterschiede“ (Pierre Bourdieu) nach wie vor wirken, dass es Kindern der Unterschicht und aus armen Verhältnissen an ökonomischem, kulturellem und sozialem Kapital mangelt, walzt er in seinen sechs „Modulen“, so breit aus, als handele es sich um brandneue Erkenntnisse, seine Erkenntnisse. So zitiert er sich selbst mehr als andere und verweist im Literaturverzeichnis 36 Mal auf eigene Artikel. Das ist schon eine mehr als schräge Selbstbespiegelung, auch Selbstüberschätzung.

Schließlich ist „La distinction“ von Bourdieu 1979 in Frankreich und 1982 in Deutschland erschienen. „Die Illusion der Chancengleichheit“ von Bourdieu und Jean-Claude Passeron stammt aus dem Jahr 1971, und zwei Jahre später rechnete Christopher Jencks am Beispiel der USA mit der Chancengleichheit ab. Diese wissenschaftliche Literatur zu kennen und dennoch Schritte zu einem demokratischeren Bildungssystem zu wagen, war die Herausforderung in Westdeutschland in den siebziger und achtziger Jahren. An ihr, beziehungsweise den Machtverhältnissen sind Politiker wie Ludwig von Friedeburg oder auch Herbert Ehrenberg gescheitert. Als Bundesarbeitsminister gehörte Ehrenberg früh zu denjenigen, die eine berufliche und soziale Eingliederung der ersten, aber vor allem zweiten Generation der eingewanderten „Gastarbeiter“ und ihrer Kinder forderten. Erst Helmut Schmidt, dann Helmut Kohl verweigerten als Bundeskanzler jede Form von gezielter Einwanderungspolitik.

Holländischer Comicstrip, der Schulkindern sagen will, dass es beim Homeschooling um sie geht und nicht um ihre Eltern.

Und die Folgen zeigten sich: Seit mehr als dreißig Jahren verweisen westdeutsche Bildungsforscher auf Benachteiligungen vor allem der Kinder von Migranten. Beharrlich berichtete und berichtet der Essener Forscher Klaus Klemm über die „Kellerkinder“ des deutschen Bildungssystems. Solange er lebte, ließ der Göttinger Soziologe Martin Baethge keine Gelegenheit aus, auf die schlechten Ausbildungs-und Berufschancen der benachteiligten Jugendlichen hinzuweisen: Die Freiheit der Berufswahl, ein Grundrecht, habe für die Jugendlichen am unteren Ende der Bildungsleiter immer weniger gegolten. So schrieb es Baethge in die Nationalen Bildungsberichte, die in den Regalen oder Schubladen der Politiker verstauben. Die Wissenschaftler vor und nach den Pisa-Tests haben die Fakten ausgebreitet, ihr gegenwärtiger Einfluss auf die Politiker ist gering, wesentlich geringer als in der Zeit nach Picht und Dahrendorf.

Nun aber steigt Aladin El-Mafaalani in diese, bisher wenig erfolgreiche Lobbyarbeit für die benachteiligten Jugendlichen ein, vor allem diejenigen mit dem „Migrationshintergrund“ und ohne jenes wichtige ökonomische, kulturelle und soziale Kapital. Ungleichheit und Ungerechtigkeit sind seine Themen, ein rotes Tuch für privilegierte Akademikereltern und ihre Fürsprecher in den Medien, hinter denen sich angeblich kluge Köpfe verbergen. Aber sein Buch „Mythos Bildung“ ist keine Provokation, wie es damals die „Bildungskatastrophe“ von Picht war. Der Autor geht sanft mit seinen möglichen Lesern und Leserinnen um. Er gibt sogar Hinweise, welche „Module“ der „ungeduldige Leser“ überspringen kann. Dazu gehört der Versuch des Autors, einen Bildungsbegriff zu finden. Er bleibt für ihn und damit der geduldigen Leserin rätselhaft.

Homeschooling auf den Philippinen, fotografiert am 3. Oktober 2020 (Judgeflora/ wikimedia commons)

So schreibt Mafaalani verschwommen: “Das Zukunfts- oder Idealbild einer Gesellschaft nimmt Einfluss auf das, was unter Bildung verstanden wird. Eine Gesellschaft ohne Zukunftsidee treibt dahin und mit ihr ihr Bildungsbegriff”. Ihm aber falle kein in Deutschland relevantes Problem ein, für das Bildung die Lösung sein könnte. Immer wenn man vom Klimawandel bis zum Rechtsruck nicht mehr weiterwisse, komme Bildung ins Spiel. Sie sei Lückenfüller und Allheilmittel: eben ein Mythos. Auf die Konsequenzen dieser doch steilen These lässt sich der Autor, Professor für Erziehungswissenschaft an der Universität Osnabrück, in den folgenden Modulen nicht weiter ein, in denen er in immer neuer oder anderer Verpackung die feinen Unterschiede zwischen reich und arm, den Lebenswelten der Kinder in begüterten Verhältnissen und den Lebenswelten der Kinder in sozialen Brennpunkten ausbreitet.

Wie eine vorsichtige Kabinettsvorlage

Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass der Soziologe und Politikwissenschaftler in keinem einzigen Kapitel auf die „feinen Unterschiede“ zwischen dem Bildungssystem in der alten Bundesrepublik und der DDR eingeht: in der DDR gab es weder einen Picht noch eine Bildungsexpansion in den siebziger, achtziger Jahren. Im Gegenteil: die Kaderelite sorgte für Exklusion. Und in den neuen Bundesländern nach der Vereinigung spielt die soziale Herkunft zwar eine Rolle, aber nicht eine derart extreme wie zwischen Rhein und Elbe. Aladin El-Mafaalani hat einen ausschließlich westdeutschen Blick, vielleicht sogar noch enger: einen nordrheinwestfälischen Blick, denn dort war er Berufsschullehrer und Abteilungsleiter im Düsseldorfer Kultusministerium. So lesen sich im 6. Modul die Lösungsvorschläge wie eine vorsichtige Kabinettsvorlage für den NRW-Ministerpräsidenten, der inzwischen CDU-Parteichef ist. Kleine, pragmatische Schrittchen im Ganztagsbetrieb von Kita, Grundschule und Sekundarschulen schlägt er vor: Lehrer für den Unterricht entlasten durch multiprofessionelle Teams. Der Autor, der sich abschätzig über die „Reförmchen“ der letzten Jahrzehnte äußert, bietet auch nicht mehr. Er bleibt ziemlich kleinmütig.

Und doch sind die Chancen für ihn und sein Anliegen günstig. Er könnte heute mit seiner Lobbyarbeit für die benachteiligten Jugendlichen, die sich oft selbst „Schwarzköpfe“ nennen, erfolgreicher sein, als mancher Wissenschaftler vor ihm. Die Gesellschaft und die Politik halten angesichts von antisemitischen Anschlägen, offener Ablehnung und Verbrechen an muslimischen Mitbürger und Mitbürgerinnen erschrocken inne. Zumindest im Augenblick. Damit stehen Aladin El-Mafaalani die gesellschaftlichen Bühnen offen. Und er nutzt sie: bei der Vorstellung seines Buches mit dem Co-Chef der Grünen, Robert Habeck, in einer ausverkauften Kölner Halle, später sollte beim Literaturfestival in Frankfurt der Streit mit dem FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube folgen, der über die Ungleichheitsforschung herzieht. Corona bremste den Auftritt, aber El-Mafaalani wird weiter durch die Talkshows gereicht. Medienwirksam stellte er am 27. Januar – dem 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz – zusammen mit der Grünen-Vorsitzenden und „Vielleicht-Bald-Kanzlerkandidatin“ (so die Süddeutsche Zeitung) Annalena Baerbock einen „Bildungsschutzschirm“ für die durch Corona zusätzlich benachteiligten Schülerinnen und Schüler vor. Möge es eine Chance für die „Kellerkinder“ sein. Glück auf!


Aladin El-Mafaalani
Mythos Bildung. Die ungerechte Gesellschaft, ihr Bildungssystem und seine Zukunft
Gebunden, 320 Seiten, 20 Euro
ISBN: 978-3-462-05368-5, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020

Aladin El-Mafaalani, geboren 1978, ist Soziologe und Inhaber des Lehrstuhls für Erziehung und Bildung in der Migrationsgesellschaft an der Universität Osnabrück. Er ist dort sowohl am Institut für Erziehungswissenschaft als auch am Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien (IMIS) angesiedelt. Gleichzeitig betreut er als Beauftragter des NRW Ministeriums für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration (MKFFI) die “Koordinierungsstelle für muslimisches Engagement in NRW” und ist Mitglied des Beirats für Teilhabe und Integration des Landes NRW. Er bekam unter anderem den Preis für herausragende Leistungen auf dem Gebiet der öffentlichen Wirksamkeit der Soziologie der Deutschen Gesellschaft für Soziologie sowie den Lissabon-Preis für Wissenschaft-Praxis-Transfer der Hochschule Münster.

Die Buchbesprechung erschien zuerst auf www. faust-kultur.de

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Jutta Roitsch
Jutta Roitsch, Diplom-Politologin und freie Autorin, von 1968 bis 2002 leitende Redakteurin der Frankfurter Rundschau, verantwortlich für die Seiten »Aus Schule und Hochschule« und »Dokumentation«, seit 2002 als Bildungsexpertin tätig, Engagement in der Bürgerrechtsorganisation Humanistische Union, vereinigt mit der Gustav-Heinemann-Initiative (GHI), Autorin der "Blätter für deutsche und internationale Politik", der "Vorgänge. Zeitschrift für Bürgerrechte und Gesellschaftspolitik".

1 Kommentar

  1. Die Tatsache, dass Bildungsmaßnahmen tatsächlich eine gesellschaftliche Wirkung zugeschrieben wird, zeigt sich, wie ich finde, sehr schön an einem Beispiel aus der (meiner) empirischen Sozialforschung: Es ging um Bildung für eine nachhaltige Entwicklung, insbesondere um eine Art ‘Nachhaltigkeitskunde’ als Schulfach. Von Gegnern dieser Maßnahme (die u.a. auch den Klimawandel leugneten) wurde dabei so argumentiert: “Dann haben wir bald nur viele neue kleine Gretas”.

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