Das alte machtpolitische Spiel, hoffnungslos überholt

Würde das Gefüge Brüssel – Nationalstaaten – Regionen – Städte digitalisiert als komplexes Modell zur Verfügung stehen, könnte sich – frei nach dem Dauerbrennerzitat „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (siehe Mathias Greffrath)- Künstliche Intelligenz als wirkungsvolles Werkzeug erweisen. (Bild: Ursula Herrmann /Foto: Jo Wüllner)

Mehr oder weniger Brüssel? Die Frage kann so nicht beantwortet werden.
Ob mehr oder weniger Brüssel richtig, wünschenswert, zukunftsträchtig ist, hängt doch in erster Linie davon ab, ob Brüssel funktioniert und in zweiter Linie, ob es als funktionierend wahrgenommen wird. (Was “funktionieren” heißt, lasse ich gut positivistisch hier beiseite; der Text würde wuchern.)
Fakt ist (ich erspare uns Umfragedetails): Brüssel wird auf lange Rückschau hin als nicht funktionierend wahrgenommen. Und aktuell (Corona) wird es als chaotisch bis katastrophal bewertet. Daher nutze ich Corona als analytischen Hintergrund für einen sehr anderen Vorschlag. Hat die EU nun Chaos in Sachen Corona produziert? Mit Sicherheit. Ist sie “schuldig”?

Jein.
(Ganz kurz: Chaos nenne ich keinen Urzustand, sondern die dysfunktionale Abarbeitung von komplexen Zuständen. Energetisch gesehen entsteht mehr Entropie – Reibung, Energieverlust – als “nötig”. Natürlich sind moderne Gesellschaften tendenziell immer schon chaotisch, weil immer mehr passiert, was alle Beteiligten betrifft, als “abgearbeitet” werden kann. Daher auch unsere Sehnsucht nach dem “einfachen” Leben.)

Zu Corona gehören derart viele Systemfaktoren, dass herkömmliche politische Handlungsprogramme hoffnungslos überfordert sind. Hinzu kommt: Alle sind unterschiedlich überfordert. Das zeigt sich an den asynchronen Hochs und Tiefs der nationalen Corona-Maßnahmen. Wer hier alles für was erst gelobt, dann wieder kritisiert, sogar verdammt und – welch Wunder – dann doch wieder gelobt wurde,  weil ganz überraschend der magische Inzidenzwert doch wieder absackte, ist nicht mal Stoff für Satire. Die sollte man nachvollziehen können, das Realgeschehen lässt sich aber nicht nachvollziehen. (Vielleicht später rekonstruieren, wenn es Analytikern gestattet ist, hinreichend viele Daten in digitalen Modellen auswerten zu können).

Alle hinken reaktiv hinterher

Die primäre Dummheit besteht daher darin, diesen “Aggregatzustand” immer noch mit herkömmlichen Handlungskonzepten bewältigen zu wollen. Und natürlich auch wie üblich “Verantwortliche” zu identifizieren. Das alte machtpolitische Spiel halt. Aber hoffnungslos überholt.
Das Nicht-Nachvollziehbare hat mit der Vielzahl der Faktoren zu schaffen, die hier zusammenwirken. Wir haben es mit vielfältigen Wechselwirkungen zu tun. (Man sagt auch “Komplexität”, die von herkömmlich politisch denkenden Menschen gar nicht gerne gesehen wird.) Gängiges “politisches Handeln” hinkt hier immer hinterher. Gelingen wie Misslingen sind daher hochgradig unberechenbar.

Ich nenne nur ein paar sehr divergent wirkende Faktoren in der EU:
Regierungsstil (autoritär / diskursiv) – Mentalität der Bevölkerung (diszipliniert / libertär) – regionale Ungleichgewichte (Bevölkerungsdichte, Pendlerfrequenz, Unternehmensgrößen) – wirtschaftliche Abhängigkeiten (Tourismus) – privater Wohlstand – wirtschaftliche Potenz – bürokratischer Einfluss (verheerend: in D) – Planungsmodernität (in D > Datenschutz geht vor Corona-Schutz; siehe App) – Forschungsqualität (Entwicklung, Produktion Impfstoffe) – medizinisches System.

Unter normalen Bedingungen können viele anfallenden Probleme in einer modernen Gesellschaft im jeweils dafür vorgesehenen System abgearbeitet werden. Hier wissen zwar auch nicht alle alles voneinander. Man “traut” aber allen anderen, so lange die Reibungsverluste nicht komplett dysfunktional werden.
Bei katastrophennahen Prozessen (Pandemie) funktioniert das nicht. Die Wechselwirkungen vollziehen sich beschleunigt und werden so intensiv, dass der Transfer (das Weiterreichen von Problemhäppchen in einer Form, die das andere System “verdauen” kann) zwischen den Systemen nicht mehr funktioniert. Alle wollen nach ihrer eigenen Logik handeln. Und alle hinken “reaktiv” hinterher.
Daher auch die am häufigsten zu hörende Klage: “Wir hätten doch längst …”, “Wir hätten viel früher …”. Nein, hätten wir nicht. Weil ab einer (un)bestimmten Komplexität eben nicht mehr alles gesehen werden kann. Es ist “unsichtbar”. Oder anders: Es mag latent vorhanden sein, es gibt aber so viel Kontingenz (dies oder jenes ist möglich), dass frühes Agieren komplett daneben liegen kann.

Nicht mehr oder weniger – anders

Die Muster wiederholen sich (sonst wären sie keine). “Es ergreifen Kritiker das Wort, Krisen-Anzeichen seien nicht ernst genommen und dadurch Möglichkeiten versäumt worden, den Ausbruch der Krise zu verhindern. Zu Medienstars werden Kassandras, die das Unheil vorhersahen und -sagten, aber kein Gehör fanden”, schreibt Hans-Jürgen Arlt in “Mustererkennung in der Corona-Krise”. Corona offenbart also deutlicher noch als andere Phänomene (diverse Finanzkrisen) eine Krise klassischen politischen Handelns unter globalen Interdependenz-Bedingungen.
Was heißt das für die EU? Mehr oder weniger Brüssel? Weder mehr noch weniger. Sondern anders.
Wer “Kompetenzen” zuweisen will, will auch Verantwortung und Verantwortliche im klassischen Sinne. Wenn meine Beschreibung von Komplexität zutrifft, ist diese Strategie überholt. Es geht dann nicht mehr mit “eindeutigen” Zuweisungen. Sondern nur mit potenziell “mehrdeutiger” Flexibilität.

Beispiel: Es kann richtig sein, dass Brüssel für alle Impfstoff einkauft. Wenn die Anbieter, die Qualität und die Quantität der Impfstoffe klar sind. Dann ist das ein Großeinkauf. Mit geringer Komplexität. (Also geringen Unwägbarkeiten.) All das war nicht gegeben. Oder noch schlimmer: Es sah so aus, als ob vieles stimmte, weil alle es so sehen wollten, weil Wahlvölker dadurch beruhigt wurden. Der Großeinkauf wurde also zum Desaster. Nicht weil einer/eine etwas falsch gemacht hätte (das wohl auch, passiert immer). Sondern weil das ganze System starr reagierte und nicht sensibel für Wechselwirkungen war.

Was hätte anders passieren können? Ich wage mich auf glattes Gelände: Alle wichtigen Beteiligten hätten Werkzeuge gebraucht, ähnlich denen, die Hochfrequenzhändler an der Börse nutzen, um komplexe Wechselwirkungen so effektiv zu simulieren, dass Gewinne möglich sind. Also eine EU-Impfmanagement-KI, die natürlich noch einiges mehr können müsste. Es soll ja nicht einer gewinnen, sondern alle (also möglichst viele EU-Staaten). Und wenn die KI global-moralisch agieren sollte (was klassisch politisch beschlossen sein kann – aber eben nicht: umgesetzt sein kann), hätte sie auch noch eine gewichtete Präferenz für Exporte in Subsahara-Staaten eingebaut bekommen müssen. (Weil das nicht passiert ist, kam das übliche UN-/WHO-Lamento auf, nach dem die reiche Welt wie üblich die arme Welt benachteiligt.)

Dann wäre auch das Beklagen von „nationalen Alleingängen“ hinfällig. Nationen würden dann direkt kaufen, wenn klar ist, dass sie schneller günstiger als „die da oben“ herankommen. Bis zu einem bestimmten Preis würde die EU zahlen. Und wer nationale Prioritäten setzt, die höhere Preise rechtfertigen (Alterspyramide, Nähe zu Tschechien) muss selbst drauflegen. Mit einem schnellen Börsensystem hätte nebenbei auch nicht der „Maskenskandal“ stattfinden müssen, bei dem am Ende den Apotheken vorgeworfen wurde, Kasse gemacht zu haben. Es wäre zum Tageskurs gekauft und weitergereicht worden. Masken-Daytrading sozusagen.

Immer neu zu bewertende Knotenpunkte von Wechselwirkungen: „Die dominierende Handlungsperspektive mit dem unabhängigen Subjekt im Zentrum bekommt Konkurrenz von einer Sichtweise, welche die Gleichzeitigkeit von Autonomie und Abhängigkeiten stärker beachtet, Beziehungen und Zusammenhänge aufschlussreicher findet als Trennungen in Subjekt und Objekt.“ (Arlt, Mustererkennung in der Coronakrise, 2020, S. 9)

Entschuldigungen, Rücktritte – überholte Rituale

Und was hätte das nationale / regionale Impfmanagement gebraucht? Logistik-Software, wie sie Amazon einsetzt, um sehr schnell sehr viele Produkte sehr vielen Menschen zukommen zu lassen. Konkret: Die Software hätte Zugriff auf die Daten aller Hausärzte haben müssen, so dass punktgenaue Prioritäten je nach gerade verfügbarer Menge eines einzelnen Impfstoffes mit seinen Stärken und Risiken hätten definiert werden können. Dann hätte morgens Arzt X vielleicht 27 Spritzen von drei Herstellern in der Post gehabt. Und drinnen ein Zettel (natürlich besser: eine Mail) mit den Namen der Patienten, die am ehesten zu dem Set passen. Inklusive Alternativen, weil nur dumme Bürokratie keine Alternativen einkalkuliert. (Es gibt keinen “verantwortlichen”, “kompetenten” Menschen, der so etwas regeln könnte; auch nicht ganze Ministerien. Es ist zu komplex. Da helfen auch keine Entschuldigungen oder Rücktritte, diese überholten symbolischen Rituale.)

Würde das Gefüge Brüssel – Nationalstaaten – Regionen – Städte derart digitalisiert als komplexes Modell zur Verfügung stehen und die Infrastruktur zur Umsetzung der Modell-Vorschläge vorhanden sein, müsste niemand darüber reden, ob mehr EU oder mehr Nationalstaat richtig wären. Beides wären Systemkomponenten, die als immer neu zu bewertende Knotenpunkte von Wechselwirkungen in Modellen auftauchen.

Oh je, das hieße ja ein partielles Abdanken von Politik? Nun, vielleicht nicht von Politik, aber von monströs-unflexiblen Verwaltungen.
Oh je, das hieße aber wohl auch: Weniger direkte demokratische Bürgerbeteiligung? Aber sicher. Komplexitäten soll man schließlich nicht über Gebühr steigern. Entwicklungsrichtungen müssen Bürger mitbestimmen. In Durchführungen sollten sie sich aber nicht einmischen.

Weil das wohl der Mehrzahl der hier Lesenden bereits als vollständig schwerstverdaulich erscheinen wird, erspare ich uns weitere digital-lastige Strukturvorschläge. Bleibe aber dabei: Brüssel versus Nationalstaaten ist ein überholtes Modell. Wer hier weiter um Machtanteile kämpft, hat wichtigere Schlachten a priori verloren.

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Jo Wüllner
Jo Wüllner, studierte Philosophie, Germanistik und Soziologie, arbeitete als freier Journalist und Chefredakteur (PRINZ), Umschulung zum Medienentwickler in Mailand und New York (Roger Black). Seit 1993 Umbau und Neukonzeption von gut 100 Zeitungen, Zeitschriften und Unternehmensmagazinen. Bücher zu Medientheorie und Sprachentwicklung.

3 Kommentare

  1. Ich denke, der Rat, vor den Problemen des Alltages in die Technik zu fliehen, unterschätzt die Fähigkeit von Menschen.
    Beispielhaft zwei Konflikte: Corona und Finanzmarktkrise.
    Wie leistungsfähig die Bürokratie ist, belegt das ausgefeilte Gutachten von Katastrophenschutz und RKI aus dem Jahr 2013, das die Pandemie von heute vorhersah und der Politik konkrete Empfehlungen an die Hand gab; wären sie befolgt worden, wären wir mit viel weniger Toten und Infizierten durch das erste Halbjahr gekommen; als sogar die primitivsten Schutzmittel in den Krankenhäusern fehlten.
    Dass die EU die Impfmittel gemeinsam einkaufte, ist von historischer Bedeutung. Dass sie im Kaufprozess teilweise langsamer als einzelne Nationalstaaten war, ist sehr naheliegend, weil sie Interessen, Finanzressourcen und Eigenwilligkeiten von sehr vielen und sehr unterschiedlichen Nationen/Volkswirtschaften austarieren musste. Das ist ein Nachteil, aber zugleich eine enorme Leistung in Anbetracht der damit verbundenen Interessenkonflikte und Komplexitäten. Welche KI hätte das geschafft? Wer am Ende besser oder schlechter aus der Krise kommt, das wird sich sowieso erst in zwei, drei Jahren bilanzieren lassen.
    Nun zur Finanzmarktkrise: Die Finanzminister Lafontaine (Deutschland) und Strauss-Kahn (Frankreich) entwickelten 2001 auf Regierungsebene ein Konzept, um die Finanzmärkte zu regulieren. Mit diesem Regularium hätte die von den USA ausgehenden Banken- und Finanzmarktkrise zumindest in Europa nicht so stark durchgeschlagen, wie sie es dann tat.
    Beide Beispielen belegen: Die von Menschen verantwortete Politik kommt seit vielen Jahren mit den jeweils anstehenden Komplexitäten sehr wohl zurecht. Mehr oder weniger Technik hilft an der entscheidenden Stelle nicht: Wie werden die jeweiligen mächtigen oder machtlosen Interessen austariert, so dass Probleme wenigstens abgearbeitet werden, ohne dass die jeweiligen politischen Gebilde auseinanderbrechen; es sei denn, der Bruch ist gewollt.
    Dem Schlusssatz von Jo Wüllner, der mit seinem Text allerdings kaum etwas zu tun hat, kann ich wiederum sehr wohl zustimmen: “Brüssel versus Nationalstaaten ist ein überholtes Modell.” Vermutlich liegt die Zukunft der EU, eben weil es oft um Wechselwirkungen/Komplexitäten geht, in einem sehr anpassungsfähigen flexiblen System: einem losen Verbund von Nationalstaaten und großen Regionen, die nach ihren Interessen mal mehr und mal weniger eng zusammenarbeiten. Von KI und dem Plan, die EU zu einem durchdigitalisierten Netzwerk zu machen, kann dabei sehr wohl geträumt werden. Muss aber nicht sein.

    1. IST DIGITALISIERUNG „FLUCHT IN TECHNIK“?

      Menschen konstruieren und nutzen Technik seit Jahrtausenden. Wer einen Hammer nutzt, flieht nicht ins Werkzeughafte, sondern schont seine Hände und arbeitet effektiv. Das U-Bahn-System moderner Städte ist voll digitalisiert und arbeitet KI-gestützt. Nur so kann es überhaupt funktionieren, weil Menschen ohne Technik keinerlei Überblick behalten können. Wir haben also schon immer durch Werkzeuge Handlungspotenziale in Technik ausgelagert. Und durch Steuerungssysteme haben wir auch Handlungskompetenz ausgelagert.
      Wir fliehen nicht in Digitalisierung, sondern wir konstruieren Steuerungssysteme für hochgradig vernetzte Systeme. Steuerungen, die tendenziell unabhängig Entscheidungen treffen können, die unseren Zielvorgaben folgen. Das ist nicht einfach, weil es nicht trivial, sondern eben: komplex ist. Das führt auch zu Pannen. Die aber nur durch bessere Technik zu vermeiden sind. (Und wenn Software plötzlich „rassistische“ Kriterien anwendet, spricht das nicht gegen Digitalisierung, sondern für funktionierende Aufmerksamkeit, der das auffällt und die zu korrigierten Programmvorgaben führt.)

      WAS HAT DAS RKI WANN WEM GESAGT?

      Wolfgang Storz lobt die prognostische Qualität eines Gutachtens des Robert-Koch-Institutes (RKI) zu Pandemien aus dem Jahr 2013. Es soll konkrete Ratschläge geliefert haben. Aber die Politik soll nicht gefolgt sein. So wird jedenfalls seit Monaten berichtet. Mit dem Tenor: Die Wissenschaft hat es vorausgesehen, die Politik hat sich nicht geschert.
      Ich habe einige Artikel geprüft, auf welche Quelle beim RKI man sich in den Medien genau bezieht. Ich fand keine konkrete Angabe. (Es mag welche geben; man helfe mir.)
      Ich habe dann an der Quelle recherchiert, dem RKI. Man ist dort sehr freigiebig mit umfangreichen Dokumenten.
      Ich fand sehr schnell 11 umfangreiche PDF:
      Pandemieplan 2007, 2009, 2011 / Bulletin 2013 / Jahrbuch 2013 / Pandemieplan 2017 / Nachtrag zum Pandemieplan 3-2020 (Corona). Alle Pandemiepläne in 2 oder 3 Teilen. Dazu „Umlaufbeschlüsse“, wohl für die Abstimmung mit Ländern.
      Die Dokumente aus 2013 sind sehr allgemein, sehr verwaltungstechnisch und sehr „entspannt“. Zitat Jahrbuch 2013: „Aus epidemiologischer Sicht war 2013 ein ‚normales‘ Jahr.“ Ich habe (Schnelldurchsicht) keine dramatischen Warnungen oder eklatante Mängellisten gefunden.
      Durchgängig wird betont: Pandemiebekämpfung ist Ländersache, das RKI steckt nur einen groben Rahmen ab.
      Mein Argwohn: Hier wurde mediendramaturgisch gearbeitet. Und keiner hat genau nachgelesen.
      Für ein skandalöses Nichtbeachten von Expertisen durch die Politik gibt das RKI-Material wenig her. (Nicht nichts, denn rückblickend kann man sagen: Wenn das RKI bei Pandemien aller Art Kontaktverfolgung für richtig hält, hätte man sich irgendwann um allgemeine Kontaktverfolgungs-Apps kümmern müssen. Grippe und SARS haben aber nicht hinreichend Druck aufgebaut, um mehr zu tun, als zu Impfungen aufzufordern. Und digitale Projekte in Deutschland ohne Not anzuschieben, ist angesichts europaweit einzigartiger Datenschutzmanie auch nicht zu empfehlen.)

      MUSS POLITIK EXPERTEN FOLGEN?

      Unterstellen wir dennoch, es habe 2013 dringende Empfehlungen des RKI zur allgemeinen Pandemiebekämpfung gegeben(Corona kannte man ja noch nicht). Wolfgang Storz beklagt nun, dass die Politik dem Rat nicht gefolgt ist. (Der Politik wäre also an der Stelle nicht zu trauen, weil sie „guten Rat“ nicht immer erkennt?) Hier wird es interessant: Es gibt also Rat („vernünftig“? – aber wann lässt sich das verifizieren?) und die, die nicht folgen. Was sind denn die nun? Dumm, unflexibel, unvernünftig, trotzig, befangen, korrupt, ängstlich? Von allem etwas? Oder doch unabhängig, weil Politik ja selbstbewusst agieren soll? Was bleibt: Wolfgang Storz will Politik gestärkt sehen. Und liefert ein Beispiel, wo sie Rat (aus Stärke = Ignoranz / aus Schwäche?) nicht gefolgt ist. Das passt nicht zusammen.
      Im Kern ist es wohl so: Das Gesundheitssystem hat sich in langen Jahren von Funktionszustand zu Funktionszustand gehangelt (systemische Evolution). Politik hat „Einfluss“ genommen – aber nicht „durchgreifend“ gesteuert. Auch der alte Vorwurf des „Kaputtsparens“ trifft nicht. Eher, dass an manchen Stellen viel Geld, an anderen weniger ausgegeben wurde. (Was rückblickend nach Engpässen immer als „zu wenig“ erscheint. Das ist die eindimensionale Art des kausalen Suchens nach „Schuldigen“.) Und insgesamt (im EU-Vergleich) aber viel. (Man vergleiche nur die Zahl der Intensiv-Betten auch vor Corona auf EU-Ebene.)
      Fakt ist: Das System war 2020 auf eine Corona-Pandemie nicht vorbereitet. (Auf vieles andere aber schon; Grippewellen, Massenunfälle, Organtransplantationen.) Ein System kann aber auch nicht „auf alles“ vorbereitet sein. Das würde das System ins Unermessliche aufblähen. (Leider gibt es die Tendenz in reichen Gesellschaften, dass von allen Subsystemen gefordert wird „auf alles“ vorbereitet zu sein. Vor allem nachträglich, wenn etwas passiert, auf dass man eben nicht vorbereitet war.)
      Ein System kann auch nicht auf allen „Rat“ folgewillig reagieren. (Was würde aus einem Unternehmen oder einer Regierung, wenn alle „Ratgeber“ erhört würden! Eine Katastrophe!) Und selbst, wenn das System reagiert, setzt es nichts 1:1 um. Das ist bei der Interaktion von Systemen schon theoretisch nicht denkbar. (Streng politisch denkende Menschen verlangen es aber.)
      Und noch deutlicher: Systeme sind nicht „vernünftig“, sondern höchstens lernfähig. Vernunft kommt immer nachträglich, wenn das System sich schon durch Lernen verändert hat.
      So ist beim Gesundheitssystem ersichtlich, dass es nun auf Pandemien besser vorbereitet ist. Nicht optimal (was wäre das?), auch nicht auf jede erdenkliche Pandemie. (Kämen keine neuen, würde schnell geschrien „Verschwendung!“, „Fehlplanung!“)

      IST GEMEINSAM EINKAUFEN „HISTORISCH“?

      Wolfgang Storz lobt die Leistung der EU beim Kauf von Vakzinen. Das war wohl in der Tat eine schwere Aufgabe. Aber war es eine „Leistung“, also ein Erfolg? Das wäre ein weltfremdes Urteil. Die Nachwehen des Misslingens sind zu offensichtlich. (Es gilt das vergiftete Lehrerlob: „Der Schüler hat sich wirklich angestrengt.“)
      Welche KI das besser & schneller geschafft hätte? Von der generellen Leistungsfähigkeit her eine Menge. Watson von IBM, aber auch andere Systeme. Sie hätten nur zeitig mit Parametern versorgt werden müssen. Die lernen mittlerweile sehr schnell. Vor allem schneller als Menschen. Der Vorzug: Es wäre weniger aufwendig verhandelt, also unter den Bedingungen zu konservierender Eitelkeiten palavert worden. (KI-Systeme haben nebenbei den Vorzug anonymer, unparteilicher Autorität.)

      WIE LASSEN SICH FINANZMARKTKRISEN VERHINDERN?

      Wolfgang Storz lobt ein Regelungs-Konzept von 2001 (Lafontaine / Strauss-Kahn). Es wurde aber nicht exekutiert. Es folgte die Finanzkrise ab 2008. Storz unterstellt, das eine Umsetzung des Konzeptes manches verhindert hätte. Das ist gut möglich. Politik kann nämlich eines: Grenzen ziehen, innerhalb derer sich ein anderes System zukünftig bewegen soll. (Dass es in Folge wiederum Lücken findet, ist aber nicht ausgeschlossen. Das System Wirtschaft ist zu sehr mit Überlebens-Intelligenz ausgestattet, als dass es sich von Zäunen der Politik lange eingrenzen ließe. Aber mit solchen Wechselwirkungen muss man rechnen. Man darf nur nicht moralisch werden, und den Unternehmen Böses unterstellen, die Politik hingegen zu Rettern zu machen.
      Es stellt sich aber die gleiche Frage wie beim (unterstellten) Pandemie-Gutachten von 2013: Warum haben die EU, die EZB, andere Zentralbanken das Konzept nicht umgesetzt? Wiederum Trotz, Dummheit, Ignoranz, …?
      Politisch wird man sagen: Es gab andere Interessen, die sich durchsetzen konnten. (Es war also eine Machtfrage.)
      Systemisch wird man sagen: Es gab einen Impuls. Und der ist versickert, versandet, wurde zerredet, war medial nicht auffällig genug, kam vielleicht zu früh, vielleicht auch von den falschen Leuten. Viele, viele Faktoren.
      Beide Perspektiven sind hilfreich. Was bleibt: Ja, Politik hätte vor 2008 etwas tun können. Das Finanzsystem wäre beschnitten gewesen. (Die biologische Metapher trägt: Wucherungen wären vermieden worden.)
      Aber was ist passiert? Es gab nach 2008 leichte Korrekturen (für die einen zu geringe, für die anderen wie üblich schon zu schmerzhafte). Und weil wir keine chinesische Einparteiendiktatur haben, können neue Gesetze nicht dekretiert, sondern müssen ausgehandelt werden. Der Politik lässt sich dann nur eine Frage stellen: Habt ihr die Optionen eures Systems ausgereizt? (Denn die Gegenseite macht es auf jeden Fall.)

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