Finanzierte Freiwilligkeit kann fehlende Solidarität ersetzen

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Schwächen der Europäischen Union wurden in Beiträgen zur Offenen Frage „Erzählt uns Europa!“ aufgezeigt und erörtert. Ich versuche – beginnend mit der Asyl- und Migrationspolitik – Antworten zu finden und Ansätzen nachzugehen, wie die Bindungen der Bürger:innen in Europa gestärkt werden können. Mit welcher Art Politik lässt sich Europas Legitimität stärken? Wie könnte eine entsprechende „Vertiefung“ Europas aussehen?

Die ehemalige Kandidatin für das Amt einer Bundespräsidentin, Gesine Schwan, hat vor kurzem im Deutschen Bundestag[1] einen interessanten Gedanken zur europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik vorgetragen. Für die Politikwissenschaftlerin ist dieses Handlungsfeld zentral für den Fortbestand der Europäischen Union. Denn die politischen Regelungsdefizite und Fehler vergiften die Gesellschaften und gefährden die EU.

Die europäischen Staaten müssen sich damit auseinandersetzen, dass es weiterhin Migration geben wird. Menschen werden nach besseren Lebens- und Arbeitsmöglichkeiten suchen, auch wenn sie nicht akut durch Bürgerkrieg, Diktaturen oder auch klimabedingtes Versiegen ihrer Lebensquellen zur Flucht gezwungen sind.

Eine solidarische Lösung ist gescheitert

Eine realistische europäische Flüchtlings- und Migrationspolitik muss zweierlei tun. Zum einen muss sie insbesondere in Afrika die Entwicklungszusammenarbeit intensivieren, damit sie den Menschen in ihrer Heimat oder zumindest in deren Nähe eine Lebensperspektive bietet. Dafür müssen die Städte und Kommunen in Afrika viel mehr zu direkten Ansprechpartnern werden, weil sie lösungsorientierter handeln als die nationalen Regierungen. Das ist in der Entwicklungszusammenarbeit längst bekannt. Die EU sollte massiv Städtepartnerschaften mit Afrika unterstützen und ausbauen. Das wird Zeit brauchen.

Deshalb geht es zum anderen um einen realistischen Weg der Aufnahme von Flüchtlingen. Eine solidarische Lösung des Problems ist gescheitert. Die EU konnte ihre Mitgliedsstaaten zu keiner solidarischen innereuropäischen Aufnahme von Geflüchteten, deren Asylbegehren anerkannt ist, verpflichten. Die nationalen Regierungen – nicht nur der Visegrád-Staaten Polen, Slowakei, Tschechien, Ungarn – haben sich erfolgreich gegen die Solidaritätsverpflichtung gewehrt. Der aktuelle Vorschlag der EU-Kommission zur Flüchtlings- und Asylpolitik[2], so Gesine Schwan, hat die solidarische innereuropäische Aufnahme von Geflüchteten, deren Asylbegehren anerkannt ist, beendet.

Eine gemeinsame europäische Asyl- und Flüchtlingspolitik, die die Menschenrechte und den Verfassungen der Mitgliedsstaaten entspricht, kann nur gelingen, wenn sie von einer Mehrheit der Europäerinnen und Europäer freiwillig unterstützt wird. Sie braucht darüber hinaus die Kooperation der Flüchtenden und der anderen Migrant:innen, denn mit Geboten und Verboten allein lässt sich Migration nicht regeln.

Schwan schlägt vor, die freiwillige Aufnahme Geflüchteter mit finanziellen Anreizen zu erreichen. Länder und Kommunen, die Flüchtlinge aufnehmen, werden dabei großzügig unterstützt. Immerhin haben sich viele europäische Städte und Kommunen grundsätzlich bereit erklärt, Geflüchtete aufzunehmen.

Eine solidarische Einstellung zu beschwören, die rhetorisch gut klingt, der aber keine Praxis folgt, ist keine tragfähige Grundlage für die Asyl- und Flüchtlingspolitik der Mitgliedsstaaten der EU. Das Solidaritätsdefizit muss mit einer von monetären Anreizen getragenen Gerechtigkeit ausgeglichen werden.

Die Wissenschaftlerin ist der Auffassung, dass ein Europäischer Integrations- und Entwicklungsfonds für Kommunen solche Anreize bieten kann. Bei ihm können sich Städte und Gemeinden, die bereit sind, Geflüchtete aufzunehmen, um die Finanzierung der Integrationskosten sowie zusätzlich in gleicher Höhe um Geld für weitere eigene Projekte bewerben. Der Fonds sollte von allen Staaten der Europäischen Union finanziert werden. Staaten, die keine Geflüchteten aufnehmen wollen, leisten ihren Beitrag als finanzielle Unterstützung der Europäischen Asyl- und Flüchtlingspolitik, allerdings ohne die Chance, dass ihre Kommunen für ihre Projekte aus dem Fonds finanziert werden können. Die Finanzierung könnte aus dem geplanten Recovery Fonds der EU erfolgen.

Sozialintegrative Praxis in Kommunen

Bewerbungen sollten einfach und unbürokratisch möglich sein. Der Fond muss gegen Veruntreuung bzw. Korruption gesichert sein. Dafür hat Transparency International Integritätspakte[3] für eine verlässliche Governance entwickelt, die für eine funktionierende Infrastruktur und Verwaltung sorgt. Denn was politisch und administrativ vereinbart wird, kann nicht automatisch auf die lebensweltliche Zustimmung rechnen.

Im Alltag der Kommunen gibt es Handlungsalternativen.[4] Es gilt zu eruieren, welche Spielräume die Verwaltungspraxis für ein kreatives, an den Bedürfnissen des Einzelfalles orientiertes Handeln besitzt. Dies beginnt mit der Wahrnehmung der Fluchtmigrant:innen. Sie sollten als Teil der Zuwanderer nichtdeutscher Herkunft gesehen und als dauerhafter Bestandteil der Einwohnerschaft einer Stadt anerkannt werden. Und es sollte ein Nahziel formuliert werden: es geht um eine Integrationspraxis in der Kommune, die Fluchtmigrantinnen und -migranten gezielt in bereits existente Maßnahmen– und Projektlandschaften für Zuwanderer einbezieht. Inwiefern könnte auch die Arbeitsverwaltung sich stärker als bisher auf die Zielgruppe der Fluchtmigranten einstellen?

Die Migrationsforscher Kühne und Rüßler haben schon vor 20 Jahren eine detaillierte Aufzählung von Elementen einer sozial integrativen Praxis auf kommunaler Ebene vorgelegt. Hier seien einige Einzelaspekte genannt:

  • Alimentierung von Fluchtmigranten in Form von Bar– statt Sachleistungen
  • Umsiedlung in Mietwohnungen möglichst bald, spätestens nach 3 Jahren Aufenthalt.
  • Keine Quotierung des Zugangs zu bestimmten Stadtbezirken oder Wohnvierteln, sondern eingehende Beratung und Hilfe bei der Suche nach geeignetem Wohnraum im Gesamtgebiet der Stadt.
  • Finanzierung von Angeboten kostenlosen Sprachlernens durch kommunale Bildungseinrichtungen, Wohlfahrtsverbände und sozial gewerbliche Bildungsträger.
  • Durchsetzung wechselseitig abgestimmter, beschäftigungsfreundlicher Aufenthalts- und Arbeitserlaubnisfristen. Hier bedarf es vielfältiger Abstimmungen zwischen kommunalen Behörden mit ausbildungs- bzw. beschäftigungswilligen Unternehmen, Beschäftigungsgesellschaften und überbetrieblichen Ausbildungseinrichtungen.
  • Erkundung von Ausbildungs- und Beschäftigungspotentialen für Fluchtmigrant:innen im Bereich ausländischer Betriebe. Gezielte Beratung derjenigen Betriebe, die sich als ausbildungs- und beschäftigungsfähig erweisen.

Runde Tische und Beiräte

Ein wichtiger Schritt zur Kompetenzerweiterung und Aktivierung aller zuständigen Stellen und Akteure wären Kontakte, fachlicher Austausch und institutionalisierte Vernetzung in Gestalt kommunaler „Runder Tische Fluchtmigranten“ (Kühne/Rüßler) und/oder von „Entwicklungsbeiräten“ (Schwan). Von dieser Art Praxis sind deutliche Entlastungseffekte, Entlastung für die Geflüchteten und für die Aufnahmegesellschaften, zu erwarten.

Die vielfach traumatisierten Menschen wären in die Lage versetzt, angstfrei nach Möglichkeiten einer selbstbestimmten, durch eigene Erwerbstätigkeit fundierten Lebensführung zu suchen. Zug um Zug mit der Entwicklung sprachlicher Artikulationsfähigkeit würden sie eigene Fähigkeiten entwickeln und geltend machen, zugleich aber auch Lernprozesse im Hinblick auf ein neues gesellschaftliches Umfeld und ungewohnte Berufsfelder auf sich nehmen.

Auch die Aufnahmegesellschaft und die Kommunen würden von der Anerkennung und Aktivierung der Flüchtlinge profitieren. Zum Teil überdurchschnittlich ausgebildete Frauen und Männer im besten Lebensalter würden über kurz oder lang ökonomisch auf eigenen Füßen stehen und damit den kommunalen Sozialhaushalt entlasten und den Verwaltungsaufwand drastisch reduzieren.


[1] Vor dem Ausschuss für Inneres und Heimat“ am 20.10.2020, vgl. Ausschussdrucksache 19(4)615 A.

[2] Vgl. MITTEILUNG DER KOMMISSION, Ein neues Migrations- und Asylpaket Brüssel, den 23.9.2020. COM(2020) 609 final, www.eur-lex.europa.eu

[3] Integritätspakte befassen sich mit dem Themenbereich öffentliches Vergabewesen. Ein unabhängiger Monitor prüft die Vergabeverfahren hinsichtlich der Kriterien der Transparenz und Antikorruption. Beispiele sind der zwischen TI und dem Parlament Österreichs abgeschlossene Integritätspakt für das Projekt der „Sanierung des Parlamentsgebäudes“, die Integritätspakte in der Rhein-Sieg-Abfallwirtschaftsgesellschaft und des Flughafens Berlin-Schönefeld (siehe Website der Heinrich-Böll-Stiftung).

[4] Vgl. Peter Kühne, Harald Rüßler, Die Lebensverhältnisse der Flüchtlinge in Deutschland, Campus Verlag, 2000, S. 612ff

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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