Ob Mohren-Apotheke, N-Wort, Schreibweisen, der Konflikt um Wolfgang Thierse — mit hoher Energie und Lust an der Polarisierung wird über identitätspolitische Fragen gestritten. Mit anderen zusammen, auch ehemaligen Politikern der Grünen, hast Du, Hendrik, jüngst einen Aufruf initiiert: „Das Überziehen des Richtigen kann zum Falschen führen — für ökologische und soziale Veränderungen ohne identitären Fundamentalismus.“ Wir haben ihn auf bruchstücke auch veröffentlicht. Wo erkennt Ihr „einen identitären Fundamentalismus“, fragt Wolfgang Storz.
Hendrik Auhagen: Wir sehen die Heiligsprechung von Opfergruppen, von tatsächlichen wie vermeintlichen. Wer eine Opferidentität beansprucht, genießt ohne weitere Begründung moralische Überlegenheit. Und die Normalgesellschaft, also die weitaus große Mehrheit der in Deutschland lebenden Bevölkerung, ganz besonders „die alten weißen Männer“ sind Täter, wenigstens potenzielle Täter. Und letztere haben wegen ihrer Täter-Identität die Pflicht, sich schuldig zu fühlen. Ein Beispiel: Kürzlich hatte ich ein Gespräch mit einer mir aus Studienzeiten bekannten Germanistikprofessorin, die vehement den Begriff „die alten weißen Männer“ als eine legitime sachliche Kategorie verteidigte.
Denn sie habe es überall mit weißen männlichen Professoren zu tun, die immer noch privilegiert seien und Privilegien beanspruchten. Sie dagegen als FRAU, auch noch mit Migrationshintergrund, leide unter „DEN alten weißen Männern“.
Mein noch nicht so alter weißer Bruder ist Krankenpfleger. Wie alle anderen Krankenpfleger überlastet, schlecht bezahlt und wenig anerkannt. In der Logik meiner eben erwähnten Gesprächspartnerin müsste mein Bruder dieser wiederum sehr gut bezahlten Professorin gegenüber ein Schuldbewusstsein haben. Und mein Bruder ist kein Ausnahmefall, vielmehr sind viele weißen und viele alten weißen Männer in einer bescheidenen materiellen Lage. Übrigens ebenso wie viele weißen und viele alten weißen Frauen. Was ist denn mit denen? Ich ziehe als Alt-Linker aus meiner Unterhaltung diese Konsequenz: ALLE schlecht bezahlten LeistungsträgerInnen, unabhängig von Geschlecht, Religion und Herkunft, müssen anständig bezahlt werden. Und alle materiell Privilegierten – egal welcher Herkunft, Geschlecht, Religion und Hautfarbe – sollen dafür einen Teil abgeben. Das ist ausschlaggebend.
Hendrik Auhagen ist Mitglied der Grünen, in den 1980er Jahren war er Bundestagsabgeordneter. Heute ist er vor allem für eine Verkehrswende aktiv. Auhagen hat als Lehrer in Deutschland und Polen gearbeitet. Mit 69 Jahren ist er wie der Fragesteller (67) ein alter weißer Mann.
Beklemmende Atmosphäre
Es gebe Denkverbote im Namen von Post-Kolonialismus und Diversity, heißt es in Eurem Aufruf. Wem wird wie Denken verboten?
Hendrik Auhagen: Die Entschuldigung der Bürgermeister-Kandidatin der Grünen in Berlin ist für mich ein typisches Beispiel. Sie bat um Verzeihung, weil sie während einer Befragung auf dem Nominierungs-Parteitag erwähnt hatte, als Kind sei sie gerne „Indianerhäuptling“ gewesen. Sie gelobte Besserung, sie werde solche kolonialistischen Begriffe nicht mehr verwenden. Dieser Fall macht mir richtig Angst. Weil es nicht die durchgeknallten Fanatiker in den Reihen der Identitäts-Aktivisten sind, die hauptverantwortlich für eine autoritäre Verbotsatmosphäre sind. Viel schlimmer ist der vorauseilende Gehorsam der Opportunisten, der diese beklemmende Atmosphäre schafft.
Dieses Beispiel führt auch direkt zum Titel unseres Aufrufs: „Das Überziehen des Richtigen kann zum Falschen führen“. Denn wir, Initiatoren wie Unterzeichner, finden es richtig, eindeutig diffamierende Bezeichnungen aus unserer Sprache zu verbannen. Das gilt vor allem für abwertende Bezeichnungen wie „Nigger“, für antisemitische Ausdrücke. Aber das gilt eindeutig nicht für die Bezeichnung „Indianerhäuptling“.
Gab es ein auslösendes Moment, so dass Du sagtest, jetzt muss man sich diesen identitären Tendenzen entgegenstellen?
Hendrik Auhagen: Für mich persönlich war der letzte Anstoß die Brandenburgische Wahlrechtsreform von Rot-Rot-Grün. Danach sollten alle kandidierenden Parteien gezwungen werden, Gender-Quotierte-Wahllisten vorzulegen. So legitim es für eine Partei ist, nur quotierte Listen einzueichen – so illegitim ist es, daraus einen Zwang für alle Parteien zu machen. So wird nämlich das Heiligste der Demokratie angetastet: Niemand anders als die Wähler und Wählerinnen dürfen über die Zusammensetzung der Parlamente entscheiden — und kein Quoten-Wächterrat. Mich störte auch, dass es dazu innerhalb der Grünen keinen Widerspruch gab. Ich bin sicher, viele Grün-Rote Mandatsträger hatten da ernsthafte Bedenken. Aber wegen des atmosphärischen Drucks haben sie gekuscht. Diese fehlende innerlinke Debatte führte ins äußere Desaster, indem es Parteien wie AfD und NPD einen Triumph vor dem Landesverfassungsgericht bescherte.
Politischer Profit für Rechtsextremisten
Was wollt Ihr mit Eurem Aufruf erreichen?
Hendrik Auhagen: Wir wollen solche Desaster wie in Brandenburg verhindern, indem wir zum rechtzeitigen innerlinken Widerspruch ermutigen. Je häufiger Gegenargumente formuliert werden, desto eher die Chance zur echten Debatte; und desto geringer das Risiko, sich selbstverliebt in Positionen zu verrennen, die in der Breite der Gesellschaft entschieden abgelehnt werden.
Wir wenden uns gegen die Übertreibungen. So verstehen wir unseren Aufruf als eine Brücke hin zu Versöhnung und mehr Differenzierung. Es würde uns freuen, wenn auf dem kommenden Bundesparteitag der Grünen Mitte Juni eine ebenso klare wie versöhnliche Position beschlossen werden würde, ähnlich des Wortlautes unseres Aufrufes. Denn mit Sicherheit werden Union und AfD im anstehenden Wahlkampf versuchen, die linksidentitären Übertreibungen als willkommenen Aufhänger benutzen für Kampagnen, die vor einer „Sprech-Verbots-Regierung“ warnen. Mit unserer Erklärung könnten die Grünen solchen Angstkampagnen den Boden entziehen.
Was ist überhaupt schlimm daran, mit neuen Sprachformen zu spielen, die einen gendergerechteren Zugang ermöglichen? Was spricht dagegen, anhand von Begriffen wie “Neger”, “Mohr” oder “Zigeuner” sich kritisch mit unserer Kultur, die immer noch kolonial geprägt ist, auseinanderzusetzen?
Hendrik Auhagen: Die Behauptung, unsere Kultur sei immer noch kolonial geprägt, ist genauso offensichtlich falsch wie vor Jahren die Behauptung von Silvio Berlusconi gegenüber dem damaligen EU-Parlamentarier Martin Schulz, wir seien charakterlich potenzielle KZ-Wächter, einfach weil wir Deutsche sind. Schwere moralische Vorwürfe müssen sauber begründet werden, sonst kippen sie in die beliebige Diffamierung. Und dass Politik, Kultur und Gesellschaft in Deutschland kolonial geprägt seien — auf diese Beweisführung warte ich noch.
Und nun zu den Sprachformen: Selbstverständlich ist gendern richtig, wenn es nicht dogmatisch überzogen wird. Mit Sprache sensibel umzugehen, ist wünschenswert.
Dann ist Deines Erachtens auch das wünschenswert: Seit einigen Monaten pausieren Journalist:innen der öffentlich-rechtlichen Medien bei Wortendungen, um zu signalisieren, dass gleichberechtigt Männer, Frauen, Lesben, Transsexuelle, Schwule…. angesprochen werden sollen. Ein Fortschritt?
Hendrik Auhagen: Daran stört mich die Anmaßung. Haben die Redaktionen öffentlich-rechtlicher Sender das Recht, diese neue Praxis eigenmächtig einzuführen? Sind sie nicht auf Grund ihrer Finanzstruktur und ihres Auftrags dazu verpflichtet, pluralistisch vorzugehen und die Ausdrucksweise dem Belieben jeder Sprecherin zu überlassen. Und wenn schon einen Eingriff in den Pluralismus, warum dann nicht nach einer offenen Debatte und nach einer Abstimmung, an der alle Zahlerinnen und Zahler hätten teilnehmen können? So aber spielen sich diese Sender als Erziehungsorgane auf und befeuern damit auch noch die Kampagne der Rechtspopulisten gegen den öffentlich-rechtlichen Rundfunk.
Noch einmal zurück zu Deiner Antwort, die Kultur in Deutschland sei nicht kolonialistisch geprägt.
Vor allem Unternehmen, aber auch Verbraucher plündern täglich Staaten des Südens aus: ob beim Kauf eines Handys, in dem Silizium verarbeitet ist, ob beim Kauf von Kleidung, die nur so billig sein kann, weil sie von Menschen bei miesester Bezahlung und unter gesundheitsschädlichen Arbeitsbedingungen angefertigt wird. Ist das nicht die Beweisführung, nach der Du fragst?
Hendrik Auhagen: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der Verwendung des Wortes „Mohr“, der übrigens aus dem vorkolonialistischen Mittelalter stammt, und der Verhinderung von gegenwärtigen Nord-Süd- Ausbeutungsverhältnissen? Wenn wir an letzteren etwas ändern wollen, dann sollten wir uns für tiefgreifende soziale und ökonomische Veränderungen aussprechen, so wir es in unserem Aufruf tun. Aber nicht in das bequeme Mittel von Attitüden und Namensgebungen als Ersatzhandlung ausweichen.
Sarah Wagenknecht beklagt in ihrem jüngsten Buch, es habe einen wahren shit-storm gegeben, weil ein Lebensmittelkonzern eines seiner Produkte „Zigeunerschnitzel“ nannte. Dass dieser Konzern Tarifverträge verletze, die Beschäftigten schlechter bezahle, das habe fast niemanden interessiert. Damit spielt sie soziale und ethnische Gerechtigkeits-Anliegen gegeneinander aus. Was soll das bringen?
Hendrik Auhagen: Wer hat schon was gegen „Paprikaschnitzel“. Worauf Wagenknecht mit dieser Gegenüberstellung wohl abheben wollte, ist die offenkundige Ersatzhandlung. Es gibt die Lust am linken Habitus an sich, es gibt die rebellische Protestattitüde, die sich allein auf das äußerlich Symbolische konzentriert und das Ökonomische und Soziale beiseite schiebt.
Das ist der Eindruck, den nicht nur ich immer wieder habe: Formen des linksidentitären Fundamentalismus verhindern Mehrheiten für soziale Verbesserungen, eine überfällige Vermögensabgabe und einen leistungsfähigen Sozialstaat.
Die Fraktion der „Aufgeklärt-Tolerant-Guten“
Wen beschäftigt dieses Thema? Ist das ein Thema vor allem für eine kleine hochgebildete, wohlhabende und einflussmächtige Schicht in Publizistik, Journalismus und Wissenschaft? Oder geht das darüber hinaus?
Hendrik Auhagen: Plausibel ist für mich die Einschätzung, die ich mit vielen teile, es handelt sich bei den linksidentitären Begriffen und Sprechvorschriften um Chiffren, mit denen sich eine elitäre akademische Szene verständigt: Wer gehört zu den „Aufgeklärt-Tolerant-Guten“ und wer nicht. Aber: Indem sich eine kleinere gesellschaftliche Gruppe über eine viel größere erhebt und von oben herab zu erziehen versucht, reagieren natürlich die anderen darauf. Diese so entstandenen Fronten beschreibt Sarah Wagenknecht sehr überzeugend in ihrem jüngsten Buch. Sie sieht als Profiteure letzten Endes die Rechtspopulisten und Rechtsradikalen. Ich bin überzeugt, damit hat sie recht. Leider.
Der Streit über soziale, ethnische, sexuelle Rechte polarisiert und lähmt. Wie könnten diese Dimensionen so austariert werden, dass sie das Lager links der Union nicht blockiert, vielleicht sogar beflügelt?
Hendrik Auhagen: Wenn im Sinne unseres Aufrufs das Überziehen vermieden und auf Dominierung verzichtet wird, dann bin ich sehr optimistisch. Es gibt Untersuchungen, die Wagenknecht in ihrem Buch referiert, dass es noch, mit Betonung auf noch, keinen gesellschaftlichen Rechtstrend gibt. Dass die Menschen in ihrer großen Mehrheit tolerant sind. Dass sie die Gleichstellung von sexuellen Minderheiten und von Menschen unterschiedlichster Herkünfte akzeptieren: Dass sie lediglich die Kultivierung des Status von Minderheiten stört und der Bohey darum.
„Verstand ohne Gefühl ist unmenschlich; Gefühl ohne Verstand ist Dummheit.“
Egon Bahr, deutscher Politiker (SPD), Bundesminister und Architekt der Ostpolitik unter Willy Brandt, in der Talkshow ‚III nach 9‘ am 9. März 1975.
Damals war ein solcher Satz ein Zeichen pragmatisch abgeklärter Vernunft eines Politikers, der in der Öffentlichkeit noch politisch argumentieren durfte. Heute ohne Shitstorm nicht mehr denkbar. Wäre ein Zurück zu solchen Statements ein Rückschritt?