Drinnen und draußen, Unseres und Anderes, wir und die

Als ein eiserner Vorhang Europa teilte (Bild: Noir auf wikimedia commons)

Eine Grenze muss nicht nach der Art des römischen Limes, der Berliner Mauer oder offener Staatsgrenzen sichtbar markiert sein. Jenseits solcher Markierungen entfalten sich Zivilisationen, die Wert auf ihre Grenzen legen. Sie bilden Makroeinheiten der Menschheit, sie sind umfassender als ethnische Gruppen, Fürstentümer und Nationalstaaten. Und sie bilden eigene charakteristische Formen und Identitäten aus. Von Zivilisation lässt sich überhaupt nur im Plural sprechen. Zivilisationen haben Grenzen und definieren sich selbst geradezu in Abgrenzung von anderen, und insofern wäre eine grenzenlose Zivilisation ein Widerspruch in sich. Keine Zivilisation ist mit sich selbst allein, nicht einmal das hegemoniale euro-nordamerikanische Modell.

Wer die Fotografie eines unbekannten Pariser Boulevards anschaut, wird trotzdem die französische Hauptstadt erkennen. Bei einem Bild aus Berlin oder einer anderen großen Metropole wird es nicht anders sein. Um sich zurecht zu finden, braucht man kein Wahrzeichen wie das Brandenburger Tor oder den Eiffelturm. Und zwar dank der Architekturen, welche die Straßen und die Plätze säumen. In Paris sind es die nur unmerklich variierten Sandsteinfassaden mit den stehenden Fenstern, den durchgehend verzierten, schwarz gestrichen Eisengeländern und den steil gewölbten Mansardendächern, in Berlin die Mietskasernen mit ihren ostentativ verputzten Fronten und den geschickt komponierten Loggien, in London die souveränen regelmäßigen Reihenhaus-Fronten mit klassizistischen Edelputz- oder Backsteinfassaden. Nicht minder hilfreich für die Identifikation der Städte sind andere, kleine, scheinbar belanglose Dinge: Der Fahrbahnbelag, das Trottoir, der Randstein, Wasserabläufe, Schachtabdeckungen, Bodengitter, Bodenbezeichnungen und Beschriftungen markieren ebenfalls die Städte.[1]

Der Historiker Jürgen Osterhammel hat mit ähnlichen Erfahrungen einen Vortrag über die Grenzthematik begonnen. Bevor es um Staatsgrenzen und Paßkontrollen geht, schreibt er über andere sinnliche Vergegenwärtigungen, die den Übertritt von einem Zivilisationsraum in den nächsten kenntlich machten. Dazu gehört die „Hörbarkeit der Grenze zwischen Zivilisationen“. [2] Europäische Orientreisende des 16. und 17. Jahrhunderts hatten immer wieder den überaus starken Eindruck geschildert, den das plötzliche Verstummen der Kirchenglocken hinterließ. Auch wenn man – etwa bei der Durchquerung des großenteils osmanisch beherrschten Balkans oder auf dem Weg von Russland nach Persien – keinen Grenzposten passiert hatte: Sobald die Glocken schwiegen und statt ihrer der Muezzin zum Gebet rief, wusste der Reisende, dass er das christliche Europa verlassen und die Sphäre des Islam betreten hatte.

Mehr als nur Staatsgrenzen

Wer es sich damals leisten konnte zu reisen, konnte in Europa grenzenlos reisen. Vor 1914, schrieb Stefan Zweig 1928, haben die Reisenden kein Visum gebraucht, um mit der Droschke von Paris nach Moskau zu kommen und in Berlin die Pferde zu wechseln. Sie mussten auch die Gulden und die Taler nicht wechseln. Es gab Zollgrenzen, Handelsgrenzen, aber keine Staatsgrenzen und keine Pässe. Der Nansenpass, den der Völkerbund 1922 einführte, war ein Dokument, das nur vorläufigen Charakter haben sollte. Die sogenannten vier Freiheiten in der EU beziehen sich auf staatliche Grenzen. Es gilt Freizügigkeit für Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital. Das Paradox der Gegenwart: Europa will und braucht offene Staatsgrenzen für den Handel, aber nicht für Flüchtlinge.

Deutsch-Schweizer Grenzübergang auf der A 5 Weil am Rhein
(Foto: Raimund Spekking auf wikimedia commons)

Guérot / Menasse[3]  hatten sich auf Immanuel Kant berufend geschrieben: „Jeder Mensch muss in Zukunft das Recht haben, nationale Grenzen zu durchwandern, und sich dort niederlassen können, wo er will.“ Sie berücksichtigen nicht die Erfahrungen, die Kant 1795 nicht haben konnte: der demokratische Nationalstaat ist nicht friedfertiger als der dynastische Obrigkeitsstaat[4], der Welthandel kommt der friedfertigen Vereinigung der Völker nicht (zwangsläufig) entgegen; hinzu kommt die Kontrollfunktion der politischen Öffentlichkeit .[5] Aktuell lässt sich fragen, wie viele der gegenwärtig 60 Millionen Flüchtlinge das Weltgastrecht in Europa in Anspruch nehmen würden.

Wenn Historiker von Grenzen sprechen, dann meinen sie meist Staatsgrenzen als Demarkationslinien zwischen souveränen politischen Gebilden. Sie gab es bereits vor der Epoche des neuzeitlichen europäischen Territorialstaates, etwa im kaiserlichen China. Staatsgrenzen teilen meist umfassendere Zivilisationsräume auf. Auch wenn Geschichtsschreibung und Kulturgeographie uns mittlerweile gelehrt haben, Staatsgrenzen nicht nur als trennende Linien, sondern auch als durchlässige Grenzzonen zu sehen, lassen sie sich verhältnismäßig leicht erkennen.

So einfach ist es mit kulturellen Grenzen nicht. Kulturelle Grenzen sind flexibler und variabler als politische Grenzen. Sprachräume lassen sich deutlicher abgrenzen als Religionen. Außerdem sind überall kulturelle Mischformen, Überlappungen und Mehrfachidentitäten anzutreffen. Zivilisationen wie die Chinas und Japans verlangen oft kein eindeutiges religiöses Bekenntnis. Mehrsprachige Gesellschaften treten in der Geschichte immer wieder auf: in den postkolonialen Ländern Afrikas, wo neben der jeweiligen Lokalsprache als überregionales Idiome Englisch, Französisch oder Portugiesisch gesprochen wird.

Widersprüchliche Zivilisationseffekte

Bürger:innen können euphorisch werden, wenn eine Grenze fällt. Wir erinnern uns an die Prager Botschaft im August 1989 und an den Fall der Berliner Mauer im November. Aber was kam danach?
Bürger:innen nutzen auch die Durchlässigkeit einer Grenze, wenn sie im Nachbarland billiger konsumieren können. Aber sie verstehen nicht, dass Menschen desselben Nachbarlandes die durchlässige Grenze nutzen, um hier zu arbeiten und besser zu verdienen.
Dies gilt auch fürs Reisen. Bürger:innen wollen an Grenzen nicht aufgehalten werden, aber sie wollen, dass andere, die in ihr Land kommen – sofern sie keine Geschäftsleute oder zahlungskräftige Touristen sind – an Grenzen angehalten und möglichst zurückgewiesen werden. Das Fremde wollen sie am Zielort ihrer Reise als „interessante andere Kultur“ erleben, aber zu Hause fühlen sie sich durch das Andere und die Anderen irritiert oder gestört.

Sie wollen das Gas aus Russland und keine Grenzen beim Breitbandkabel. Von Grenzschließlungen innerhalb der EU würden der Lkw-Verkehr und damit Wirtschaft, Produktion, Handel und Konsum und letztlich der Lebensstandard betroffen sein. Just-in-time-Management und knappe Lagerhaltung sind nur möglich, wenn Lkws nicht wegen langen Wartens Zeit hinter Grenzzäunen verlieren.

  • Produkte sind nicht gleich Menschen. Dies ist banal. Handelsprodukte sind nicht grenzrelevant, es sei denn, sie stellen eine ernsthafte Konkurrenz dar, weil sie viel kostengünstiger sind.
  • Gast ist nicht gleich Gast. Bürger:innen gehen mit reichen Gästen anders um als mit armen, mit der reichen Tante aus Amerika anders als mit dem armen Onkel aus Osteuropa. Ebenso wenig ist Schwiegersohn gleich Schwiegersohn. Was trägt er zum kulturellen und ökonomischen Status quo der Familie bei?
  • Ortswechsel ist nicht gleich Ortswechsel. Ein Aufenthalt kann zeitweilig oder dauerhaft sein. Wer als Tourist:in willkommen ist, muss sich als ständiger Resident auf Konflikte mit Einheimischen einstellen.
  • Quantität ist nicht gleich Quantität. „Overtourismus“ ist der Name für eine Entwicklung im Tourismus, die das Entstehen von offen zutage tretenden Konflikten zwischen Einheimischen und Besuchern an stark besuchten Zielen zum Gegenstand hat. Auf „Not-to-go-Listen“ finden sich Städte wie Amsterdam und Venedig und Inseln wie Island und Mallorca.

Scheinbar jedes lebensweltliche Thema kann zu einem Ärgernis und Politikum werden, wenn Proportionen verschoben werden. Der Umgang mit vielen anderen Menschen ist nicht menschenrechtlich kodiert.

Eindringlinge im Zugabteil

Die Bürger:innen unterscheiden zwischen „Drinnen“ und „Draußen“. Historisch gab es dafür immer wieder gute Gründe. Vom Ende des 9. Jahrhunderts bis weit ins 10. Jahrhundert hatten viele Europäer:innen begründete Angst vor den Raubzügen der Magyaren und im 16. und 17. Jahrhundert vor der Expansionspolitik der Osmanen, die die Grenzziehungen in Frage stellten.

Der Unterscheidungsmechanismus ist aber auch in alltäglichen Situationen wie in einem Eisenbahnabteil wirksam. [6] Zwei Passagiere in einem Eisenbahnabteil haben sich häuslich eingerichtet, Tischchen, Kleiderhaken, Gepäckablagen in Beschlag genommen. Auf den freien Sitzen liegen Zeitungen, Mäntel, Handtaschen herum. Die Tür öffnet sich, und zwei neue Reisende treten ein. Ihre Ankunft wird nicht begrüßt. Ein deutlicher Widerwille macht sich bemerkbar, zusammenzurücken, die freien Plätze zu räumen, den Stauraum über den Sitzen zu teilen. Dabei verhalten sich die ursprünglichen Fahrgäste, auch wenn sie einander gar nicht kennen, eigentümlich solidarisch. Es ist ihr Territorium, das zu Disposition steht. Jeden, der neu zusteigt, betrachten sie als Eindringling.

Eine Szene, die jeder aus seiner Erfahrung kennt. Und jeder kann an sich selbst jenes Verhalten beobachten, das Enzensberger reflektiert: Den Gruppenegoismus derjenigen, die früher eingestiegen sind, ihr abweisendes „Wir sind hier“, das den anderen, den neu Hinzukommenden stumm entgegenschlägt. Im Fall der Bahnreise kommt es selten zur aggressiven Auseinandersetzung. Die Institution Eisenbahn zwingt alle Reisenden sich an bestimmte Regeln zu halten, auch die Höflichkeit nötigt sie, Platz zu machen. Die neuen Fahrgäste werden geduldet, langsam gewöhnt man sich an sie. Doch unterschwellig bleiben sie stigmatisiert, bis zu jenem Augenblick, in dem die Rolle des Eindringlings an weitere Passagiere weitergegeben wird. 

Lässt sich von einem tief verwurzelten Wunsch der Menschen sprechen, zu einem Clan oder Stammesverband zu gehören? Zumindest scheint das Denkschema, welches zwischen Einheimischen und Fremden, zwischen den unsrigen und den anderen trennt, allenthalben eingesetzt zu werden. Im Zugbeispiel sind offensichtlich alle unterwegs, jeder ist ein „Migrant“ oder eine „Migrantin“. Aber selbst hier melden die früher Eingestiegenen gegenüber den Späterkommenden Territorialansprüche an.  

Eine grenzenlose planetarische Kultur?

Lassen sich in Europa die Grenzen auflösen? Lässt sich „ein gigantischer Möglichkeitsraum an nebeneinander real existierenden Lebensentwürfen und -modellen“ (Guérot / Menasse) schaffen?

Jede sich für hochstehend erachtende Zivilisation sah sich von „Barbaren“ umgeben. Die alte grenzenlose Zivilisation der Kolonialepoche war identisch mit der Internationalen der weißen Weltgestalter. Aber es gibt neue Grenzen, die zum einen ökonomischen Bruchlinien folgen und den armen, demographisch explodierenden und politisch chaotischen Süden auf Distanz halten. Eine andere heute maßgebende Trennlinie verläuft zwischen den online-mobilisierten, Englisch verstehenden, markenartikel -und modebewussten, kaufkräftigen Weltbürgern aller Herren Länder und dem Rest der Welt.[7]

Bild: Bremer Sammlerparadies

Die sesshaften Bewohner:innen der zivilisatorischen Kernräume haben die Erfahrung der Grenzenlosigkeit gemacht. Es ist ein Lebensgefühl der permanent extensiven Raummeisterung, das jedoch nicht für immer anhalten kann. Wir erinnern uns: am Beginn des 20. Jahrhunderts, das mit Globalisierungsvisionen und Globalisierungsängsten endet, stand die Begrenzungspanik. Zugleich kamen Lebensraumängste auf. Das Schlagwort von der gelben Gefahr, ausgelöst durch die Immigration chinesischer Billigarbeiter vor allem nach Nordamerika, signalisierte erstmals die Furcht vor asiatischem manpower dumping auf westlichen Arbeitsmärkten und vor kultureller Überfremdung. Die USA, Kanada und Australien reagierten mit rassistischen Einwanderungsgesetzen. So steht das gesamte 20. Jahrhundert unter dem Paradox von fortschreitender Entgrenzung – der Märkte, der Migration, der Kommunikation, der Kriegsführung – und der unüberwindlichen Letztbegrenzung durch die Endlichkeit des Planeten und seiner Ressourcen. Diese Endlichkeit war in früheren Epochen so nicht erfahrbar.

Wie sollen wir die Geschichte der Grenzen schreiben? Sie kann nicht als Prozess stetiger Entgrenzung, als allmähliche Erweiterung der Aktionsfelder und Horizonte von Horde und Dorf bis hin zum Planeten verstanden werden. Entgrenzende Prozesse von Expansion, Universalisierung und Globalisierung haben in der neueren Geschichte immer wieder auch neue Begrenzungen hervorgebracht. Nicht nur Staatsgrenzen sind machtpolitisch ausgehandelte Konventionen. Auch kulturelle Grenzen sind Konstrukte und kein Ausdruck einer tiefer liegenden kulturellen Authentizität. Das macht sie politisch instrumentalisierbar. Ereignisse wie vor dreißig Jahren auf dem Balkan, in Zentralafrika oder in Indien, wo friedliche Multikulturalität in kulturalistisch gerechtfertigte Gewalt umschlug, haben es überdeutlich bewiesen.


[1] Vgl. Vittorio Magnago Lampugnani, Bedeutsame Belanglosigkeiten, Verlag Klaus Wagenbach Berlin 2019, Lizenzausgabe der Büchergilde Gutenberg [2] Vgl. Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in historischer Perspektive, in: Ernst Ulrich von Weizsäcker (Hrsg), Grenzen-los? Berlin Birkhäuser Verlag 1997, S. 213-219 [3] Ulrike Guérot, Robert Menasse, Lust auf eine gemeinsame Welt, Ein futuristischer Entwurf für europäische Grenzenlosigkeit ,Le Monde Diplomatique 11.02.2016 [4] Hagen Schulze, Staat und Nation in der Europäischen Geschichte, München 1994 [5] Vgl. Jürgen Habermas, Kants Idee des ewigen Friedens – aus dem historischen Abstand von 200 Jahren, in: ders., Die Einbeziehung des Anderen, Suhrkamp Verlag 1996, S.192-237, 199ff [6] Vgl. Hans Magnus Enzensberger, Die große Wanderung, Suhrkamp Verlag 1992 [7] Vgl. Osterhammel (1997, 218f)

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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