Die Option, Kompetenzen von Brüssel an die Mitgliedsstaaten zurück zu verlagern, spielt eine wichtige Rolle in der Diskussion über eine bessere Zukunft Europas. Allerdings trifft diese Möglichkeit auf ein komplexes semantisches Feld. Vorwurfsvoll ist die Rede von einer „Renationalisierung von Politik“ oder von einem „neuem Nationalismus“. Schon der Satz des EU-Kommissars Frans Timmermans „So viel Europa wie möglich, so viel Nationalstaat wie nötig“ hat Kommentare provoziert, dahinter stecke nicht viel Ehrgeiz, nationale Grenzen zu überwinden und Fernziel näher zu kommen, sie überhaupt aufzulösen.
Den politischen Eliten wird Einfallslosigkeit attestiert. Der Grund: Sie seien zu jung, um die Gründungsabsicht des europäischen Projekts miterlebt zu haben, und zu alt, um sich etwas anderes als den Status quo vorstellen zu können. Außerdem werden sie nur in nationalen Wahlen gewählt. Dem Nationalismusvorwurf und der Kritik fehlender Ambition begegne ich in zwei Beiträgen und mit zwei Fragen: Was ist sinnvoller Weise unter „Nationalismus“ zu verstehen und was nicht? Worin besteht die Leistungsfähigkeit des historischen Konzepts bzw. der Staatsform der Nation?
Teil 1 Nationalismus
Nationalismus übertreibt, er übersteigert die Selbstbeschreibung von Menschen.
„Selbstbeschreibung von Personen kann an den behaupteten Eigenschaften ansetzen, von denen die Betroffenen meinen, sie seien ihnen persönlich eigentümlich, und zwar im Gegensatz zu anderen Personen. Die Selbstbeschreibung kann aber auch in Zugehörigkeiten verankert werden. Man beschreibt sich dann z.B. als Mann, Frau, Kind, alt, Schuster, Hebamme, Adliger, Katholik, Deutscher, Franzose etc.“ [1]
Die Identifikation, die hier vorgenommen wird, macht einerseits den Anspruch auf eine Zugehörigkeit geltend und schließt gleichzeitig andere von dieser Zugehörigkeit aus. Man könnte von Selbstthematisierungen an Hand von Inklusion und Exklusion sprechen.
Ethnische und religiöse „Säuberungen“
Die Ideologien des Nationalismus haben Inklusion und Exklusion verabsolutiert und weltweit zu einem kollektiven Homogenitätsverlangen beigetragen.[2] Die sprachliche, religiöse und oft auch ethnische Homogenität ist ein Merkmal neuzeitlicher europäischer Nationalstaaten. Aber so viel Gleichartigkeit ist eher ein Sonderphänomen der Geschichte als deren Normalfall. Regierungen strebten mit der Homogenität eine weitgehende Deckungsgleichheit zwischen politischem Territorium und kultureller Orientierung, zwischen Staats -und Kulturgrenzen an. Ihr Preis waren seit der gleichzeitig mit Christobal Kolumbus Amerikafahrt beginnenden Vertreibung von Muslimen und später Juden aus dem christlichen Spanien ethnische und religiöse „Säuberungen“ großen Stils.[3] Sie erreichten in den dreißiger und vierziger Jahren des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt.
Außerhalb Europas hat sich ähnliches vielfach wiederholt. Man denke nur an die verlustreichen Bevölkerungsbewegungen in Südasien nach dem Abzug der Briten 1947 und während der Gründung der beiden Staaten Indien und Pakistan.[4] Die Europäer:innen, die die Welt beherrschten, zogen kulturelle Grenzen auch außerhalb Europas. Sie setzten innerhalb der kolonisierten Völker Einteilungen durch, die diesen selbst unbekannt waren. So schufen die Kolonialherren in Afrika nicht nur territorialstaatliche Grenzen, sondern ließen sich auch von der Theorie leiten, Afrika sei in Stämmen organisiert. Sie kreierten solche Stämme samt den zugehörigen Häuptlingen, wenn sie sie nicht vorfanden. [5]
Seit 1871: Nationalismus in Frankreich, England und Deutschland
Als Friedrich Nietzsche in der Blütezeit des Nationalismus die Parole „Wir guten Europäer“ ausgab, sprach er von Völkern im Plural. Spöttisch bezeichnete er 1886 in seiner Schrift „Jenseits von Gut und Böse“ den herrschenden europäischen Wirrwarr als „Vaterländerei“.[6] Das Jahr 1871 hatte einen tiefen geschichtlichen Einschnitt bezeichnet. In der Mitte Europas waren an die Stelle des bunten territorialen Flickenteppichs, der die Landkarte für Jahrhunderte geprägt hatte, in Gestalt Italiens und Deutschlands zwei großflächige Mächte getreten, die dem System der europäischen Machtbalance fremd waren.[7]
Den tiefsten Wandel erlebte Frankreich nach diesem année terrible. Die schmachvolle Übergabe der französischen Regimentsfahnen bei Sedan, die Belagerung von Paris, die Niederlage gegen die verbündeten deutschen Armeen, der Verlust von Elsaß-Lothringen, der Aufstand der Pariser Commune und die inneren Wirren waren ein Trauma. Die liberale, laizistische Elite der dritten Republik suchte es ganz bewusst im Sinne nationaler Konzentration durch nationale und republikanische Erziehung zu bewältigen. Das Erziehungswesen impfte, ganz im Geist des jakobinischen Sendungsbewusstseins, der Generation nach dem deutsch-französischen Krieg eine Mischung republikanischer, nationaler und militärischer Werte ein. Die Marseillaise wurde 1879 zur Nationalhymne, der 14. Juli, Gedenktag des Bastillesturms, im Jahr darauf zum Nationalfeiertag gekürt. Die französische Zivilisationsidee wurde zum Kern einer nationalen Ersatzreligion erhoben.
Um die Mitte der 1880er Jahre änderte sich das Klima. Die Verteidigung nationaler Werte wurde zunehmend Sache der antirepublikanischen, antidemokratischen, katholischen Rechten. Dies begünstigte eine tiefgreifende Unzufriedenheit mit der „opportunistischen Republik“, der trotz aller nationalpädagogischen Bestrebungen vorgeworfen wurde, die großen nationalen Imperative zu vergessen. Seine finale Form fand der französische Nationalismus um die Jahrhundertwende. Maurice Barrès kämpfte gegen den Individualismus, den er für die von ihm diagnostizierte Zersetzung der französischen Zivilisation verantwortlich machte; höher als das Ich stehe die Nation, der deshalb der höchste, absolute Wert zukomme.
Großbritanniens imperiale Mission
Die Veränderungen auf dem Kontinent hatten bei der führenden Kolonialmacht England eine Rückbesinnung auf den Wert und die Kraft des überseeischen Empires zufolge. Außerdem hatten die Wahlrechtsänderungen von 1867 und 1884 breitere Volksschichten an die Politik herangeführt. In seiner berühmten Kristallpalast-Rede vom 24. Juni 1872 erklärte es der britische Premierminister Benjamin Disraeli – erfolgreicher Romanschriftsteller und konservativer Politiker, zweimal, 1868 sowie von 1874 bis 1880, britischer Premierminister – zum Angelpunkt der Politik, dass das englische Volk, und besonders die arbeitende Schicht Englands, stolz darauf sein soll, einem großen Land anzugehören.
Der nationale Konsens beruhte auf einigen klar umrissenen Grundannahmen. Sogenannte einzigartige Merkmale des britischen Charakters erklärten und rechtfertigten die weltweite Ausdehnung Großbritanniens. Nach der Auffassung Joseph Chamberlains eignete dem britischen Nationalcharakter eine besondere Befähigung zur Regierung, zur Selbstverwaltung und zur Herrschaft über untergebene Völker. Ihr Nationalcharakter begründe die Überlegenheit der Briten vor allem über nicht weiße Völker sowie die moralische Substanz des Empires. Großbritanniens imperiale Mission liege im Interesse der Zivilisation und der Menschheit überhaupt.
Bismarck und die vaterlandslosen Gesellen
Auch in Deutschland war der nationale Ausgleich zwischen den gegensätzlichen gesellschaftlichen Gruppen und Interessen das entscheidende innenpolitische Problem. Reichskanzler Otto von Bismarck erklärte Sozialdemokraten, Katholiken und Liberale zu „Reichsfeinden“, sprach von „vaterlandslosen Gesellen. Aber die „innere Reichsgründung“ kam nicht voran. Die alten territorialen wie konfessionellen Spaltungen ließen sich in kurzer Zeit eben so wenig überbrücken wie die tiefen sozialen Gräben, die sich im Gefolge der Industrialisierung zwischen Industrie und Landwirtschaft, Adel und Bürgertum, Kapital und Arbeit aufgetan hatten. Statt eines common sense herrschte ein ideologisch aufgeladener Kampf aller gegen alle und war lediglich durch einen gemeinsamen reichsdeutschen Nationalismus überformt. Aber er reichte bis weit in die Arbeiterbewegung hinein, allen internationalen Solidaritäts-Beteuerungen zum Trotz. Nur der Staat war imstande, diesen vergleichsweise dramatischen gesellschaftlichen Zustand – durch Unterdrückung – zu entschärfen. Der preußisch-deutsche Obrigkeits-, Verwaltungs-, Erziehungs- und Verteilungsstaat bündelte sämtliche Konfliktlösungsbemühungen auf sich selbst. Und die Armee sah sich als einzigen Garanten des Staates und der Monarchie.
Seit den 1890er Jahren gewann das Weltmachtstreben als Sendung der deutschen Nation an Kraft. Unter dem Druck von Massenverbänden neuen Stils wie der 1887 gegründeten „deutschen Kolonialgesellschaft“ und vor allen Dingen des „Alldeutschen Verbandes“ von 1891 wurde die Errichtung von deutschen Kolonien in Afrika und Ozeanien zum offiziellen Bestandteil deutscher Außenpolitik. Die europäischen Staaten konnten sich damals über die Verteilung der Welt noch wie unter Gentlemen einigen. Aber dann verlängerte das Kaiserreich seine Einflussachse über Wien und Südosteuropa hinaus in das Gebiet des Osmanischen Reiches bis nach Mesopotamien und griff die russischen Balkan- und Bosporus-Ambitionen an ebenso wie die britische Mittelost- und Indienstellung. Mit dem Aufbau einer deutschen Kriegsmarine sollte der damals mächtigsten Seemacht England Paroli geboten werden. Dies war von einer Welle nationaler Begeisterung und einer Massenbewegung getragen. An der Spitze der „Deutsche Flottenverein“, der mit über einer Million Mitgliedern der stärkste deutsche Agitationsverband war.
Die Signatur des Zeitalters: der integrale Nationalismus
Der liberale „Resorgimento-Nationalismus“ war von einer Honoratioren-Minderheit getragen und hatte liberale Züge. Er war von einer Gleichberechtigung der nationalen Ansprüche aller Völker ausgegangen. Der integrale Nationalismus hingegen setzte die Nation absolut:
„La France d´abord“; „Right or wrong, my Country“,„Du bist nichts, dein Volk ist alles“.
Auf diese oder ähnlich lautende Gebote verpflichtete der integrale Nationalismus seine Gläubigen und legitimierte mit ihnen auch die physische Gewaltanwendung gegen die Anders-Gläubigen.
Außerdem wuchs die Angst vor Gefahr und Niedergang in den einzelnen Staaten mit der Auflösung des europäischen Staatensystems. Die Gesellschaften wiesen im Inneren Anzeichen des Zerfalls auf, an erster Stelle verunsicherte der Anblick streikender, demonstrierender Arbeitermassen die nationalstaatlichen Eliten, und die internationale Konkurrenz nahm zu. „Die Gefahren- und Angstvisionen tauchten in den 1870er und 1880er Jahren auf, steigerten sich bis zur Jahrhundertwende und darüber hinaus bis zum Weltkriegsbeginn zu einer dröhnenden, ganz Europa umfassenden Zwangsvision.“[8]
Die oft irrationale Bedrohungs- und Unterlegenheitsmanie, der nicht nur die öffentliche Stimmung, sondern zunehmend auch das Handeln der Kabinette unterlag, wurde mit einem ebenso irrational erscheinenden Überlegenheits- und Sendungsbewusstsein kompensiert. Cecil Rhodes´ (1853 – 1902) Aufzeichnung von 1877 stellt sicherlich einen extremen Fall dar, aber solche Töne waren in vergleichbarer Weise auch von Publizisten der anderen europäischen Mächte zu vernehmen: „Ich behaupte, dass wir die erste Rasse der Welt sind und dass es für die Menschheit umso besser ist, je größere Teile der Welt wir bewohnen“. Dieses Sendungsbewusstsein war zu Beginn des 20. Jahrhunderts Allgemeingut ganz Europas und trug dazu bei, den nationalstaatlichen Antagonismus zu schüren.
Antisemitische Propaganda
Aber die Feinde standen auch im Innern. Das innenpolitische Gegensatzpaar „National“ – „International“ weitete sich mit dem Kulturkampf aus, der in den 1870er Jahren in mehreren europäischen Staaten ausgefochten wurde, und in dessen Verlauf der „ultramontane“, sich an Rom orientierende Katholizismus zunehmend an die Seite des Sozialismus rückte. Vor allem wurde das Judentum in Gegensatz zur nationalen Einheit gestellt. Während der Antisemitismus eines Heinrich von Treitschke sich noch auf das Argument der nationalen Integration beschränkte, proklamierten die Schriften eines Grafen Gobineau (1816 -1882) die prinzipielle Andersartigkeit und Minderwertigkeit einer jüdischen Rasse. Mit den Figuren des jüdischen Kaufmanns Ehrenthal in Gustav Freytags Roman Soll und Haben oder des Bankiers Schwartz in Paul Féval´s Habits noirs wurden volkstümliche Schriftstellerklischees geschaffen, die von der antisemitischen Propaganda nationalistischer Agitatoren leicht übernommen und verallgemeinert werden konnten.
Das ergab sich aus der Lektüre von populären, auch seriösen Zeitungen und Zeitschriften in der Epoche zwischen 1880 und 1914: Politik hieß Krieg, und Krieg war notwendig, um die Übel des neuen Zeitalters, vom Individualismus bis zum Sozialismus, zu verbrennen. So sollte die Nation sich verjüngt wie Phönix aus der Asche erheben.
Mit dem Ersten Weltkrieg trat der Ernstfall ein. Die offen ausbrechende Feindschaft, die ganz Europa und seine Ränder erfasste, ging hervor aus einer latenten Feindseligkeit. In den Nationalkriegen des 19. Jahrhunderts wiederholte sich auf halbsäkularisierte Weise die zerstörerische Gewalt der Religionskriege, die im Dreißigjährigen Krieg ihren Gipfelpunkt erreicht hatten.
„Der Nationalismus hatte etwas Selbstzerstörerisches; was zurückblieb, war ein zerstückeltes Europa. Selbst Intellektuelle und Literaten, Bergson, Eucken, Cohen, Scheler, Thomas Mann, Max Weber, Ernst Jünger oder auch der junge Brecht und der junge Zuckmayer ließen sich anfangs von der Kriegshysterie mitreißen, anders als Hermann Hesse, Karl Kraus oder Romain Rolland. Auf den Höhen der Wissenschaft stand der kaiserliche Max Planck dem pazifistischen Albert Einstein gegenüber.“ In dem Unheil „verquickte sich der Trieb zur Selbsterhaltung mit einem Trieb zur Fremdvernichtung, angeheizt durch eine allseitige Kriegspropaganda, verstärkt durch eine industriell genutzte Waffentechnik und beseelt von einer Fin-de-siécle-Stimmung.“[9]
Die Kennzeichen dieses integralen Nationalismus waren Homogenisierung und Beseitigung ethnischer und religiöser Vielfalt, Sendungsbewusstsein und Erhebung über andere Staaten und Kulturen, die Überordnung der Nation über die Individuen und die Kolonisierung. Triefkräfte waren „verletzter Stolz und ein Gefühl der Erniedrigung“ (Isaiah Berlin).
Um die Rolle der National- und Mitgliedsstaaten in der Europäischen Union aus sachlicher Distanz zu beurteilen, soll der Nationalismus vom Nationalbewusstsein oder dem „Gefühl, zu einer Nation zu gehören“ unterschieden werden. Der Nationalismus war „in erster Linie eine Antwort auf eine herablassende oder herabsetzende Haltung gegenüber den traditionellen Werten einer Gesellschaft“, „Folge von verletztem Stolz und einem Gefühl der Erniedrigung“.[10] Er stellte und stellt gewissermaßen eine Übertreibung des territorialen Konzeptes oder der segmentären Form „Nation“[11] dar: des gemäßigten literarischen Patriotismus etwa eines Gotthold Ephraim Lessing und seiner Vorläufer im siebzehnten Jahrhundert, von Herders Betonung kultureller Autonomie und dem Chauvinismus während und nach der Napoleonischen Besetzung.
Der anschließende Teil zwei „Die moderne Nation, eine Grenze für grenzenlose Medien“ stellt den Nationalstaat in einen evolutionären Zusammenhang mit der Quintessenz: Politische Souveränität und Legitimität gebieten Distanz zur allein nationalen Selbstbeschreibung, befürworten trans- wie subnationale Konkurrenz und ein Interesse an offener Globalität.
[1] Alois Hahn, „Partizipative“ Identitäten, in: Herfried Münkler (Hrsg.), Facetten der Fremdheit, Berlin, Akademie-Verlag, 1997, S.115-158, hier S. 117 [2] Jürgen Osterhammel, Kulturelle Grenzen in historischer Perspektive, in: Ernst Ulrich von Weizsäcker (Hrsg), Grenzen-los? Berlin Birkhäuser Verlag 1997, S. 213-219 [3] Hellmut Diewald, Anspruch auf Mündigkeit, Propyläen Geschichte Europas Bd.1, Propyläen Verlag, 2. Aufl. 1976, S. 271ff [4] Osterhammel (1997, S. 215) [5] Osterhammel (1997, 218f) [6] zit. n. Bernhard Waldenfels, Europa unter dem Druck der Globalisierung, in: Information Philosophie, März 2020, 1, S. 8- 23 [7] Vgl. für die folgende Beschreibung: Hagen Schulze, Staat und Nation in der europäischen Geschichte, Verlag C.H. Beck 1995 S. 243-278 [8] Schulze (1995, S. 268) [9] Waldenfels (2020, S. 9) [10] Isaiah Berlin, Der Nationalismus, Hain Verlag, Frankfurt am Main, 1990, S. 58 [11] Vgl. Dirk Richter, Nation als Form, Westdeutscher Verlag, Opladen, 1996