Brauchen wir eine „neue Aufklärung“?

Der Zweifel ist der Champagner des Denkens.
„Steckt nicht in aller Aufklärung, so wie sie bislang gedacht, verfochten, praktiziert wurde, ein elementarer Fundamentalismus der Rechthaberei und Indoktrination, der sie immer wieder leicht ins Gegenteil umschlagen lässt?“
Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Suhrkamp 1993, S. 249

Die Journalistin und Trägerin des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels, Carolin Emcke, hat in einem Redebeitrag auf dem jüngsten Programmparteitag der Grünen eine kurze Rede gehalten, die sogleich großes Aufsehen erregt, aber auch Kritik ausgelöst hat. Emcke hat dort an zentraler Stelle eine direkte Linie vom Antisemitismus und der Verfolgung der Juden zur aktuellen Kritik an geistigen und politischen Eliten und an den Feststellungen der Klimaforschung gezogen. Wie der Antisemitismus seien auch Elite- und Wissenschaftsfeindlichkeit auf Lügen und Ressentiments aufgebaut.
Die Medien der, wie Emcke besonders hervorhob, privaten Plattformökonomie zerstörten die kritische Öffentlichkeit, die für die Demokratie unverzichtbar sei. Es sei an der Zeit, kritische Öffentlichkeit und ihre Träger zu bewahren, um letzten Endes die Demokratie und die Freiheit zu retten. Wohl nicht ganz zufällig maß sie dabei den öffentlich-rechtlichen Medien eine besondere Rolle zu. Meine Anmerkungen zu Carolin Emckes Parteitags-Rede zielen auf ihren Ruf nach einer „neuen Aufklärung“.

In der Tat – das ist eine sehr provozierende Gleichung zwischen der Geisteshaltung, die zum millionenfachen Mord an Juden unter den Nazis geführt hat und denjenigen, die im Internet Verschwörungstheorien anhängen oder mit Aluminiumhüten auf dem Kopf gegen Corona-bedingte Auflagen und Verbote der Regierung demonstrieren. Natürlich sind manche der im Netz gehandelten Theorien, die Corona ebenso wie den Klimawandel für eine große Verschwörung gegen die Menschheit halten, nach einer ähnlichen Logik gestrickt wie der Antisemitismus. Und natürlich sind solche Theorien damit auch potentiell gefährlich. Aber eine suggestive Linie zu ziehen von Corona-Leugnern und Klima-Zweiflern zur Judenfeindschaft, deren mörderische Konsequenzen unter den Nazis wir kennen, das geht zu weit.
Perfide wird diese Gleichung dann, wenn mit einem solchen Rundumschlag auch Zweifel an der offiziellen Corona-Politik, Zweifel an manchen Befunden und Schlussfolgerungen der Klimaforschung und Kritik an der Deutungshoheit von linksliberalen, kosmopolitischen Eliten in Medien und Wissenschaft in eins gesetzt werden mit einer der schlimmsten Ideologien, die es bisher in der Menschheitsgeschichte gab.

Man wundert sich

Man kann das alles als eine Ungeschicklichkeit abtun, die im rhetorischen Überschwang ins Manuskript gerutscht ist. Verschwörungstheorien wird sicher keiner in Schutz nehmen wollen und gegen dumpfe Wissenschaftsfeindlichkeit kann man nicht deutlich genug Stellung beziehen, sollte man meinen. Man wundert sich zwar, dass ein solcher Lapsus gerade Carolin Emcke unterläuft, die ja, wie ja in jedem Profil von ihr zu erwähnen nicht vergessen wird, Schülerin von Jürgen Habermas ist, der, wir erinnern uns, in den achtziger Jahren im sogenannten „Historikerstreit“ gegen alle Relativierungen des Nationalsozialismus und des Holocaust vehement zu Felde gezogen ist.

Aber, was setzt Emcke dem konstatierten Niedergang von Aufklärung und Öffentlichkeit entgegen? Sie fordert eine „neue Aufklärung“, die anders sei als die bisherige Aufklärung. Was ist das Neue an dieser neuen Aufklärung? Klar, in einer Parteitagsrede muss man sich kurzfassen und plakativ bleiben. Eine gründliche Ausarbeitung des Arguments wird man nicht erwarten können. Aber ein paar Hinweise sollten es doch sein. Emcke bietet nur wenig dazu an. Die „neue“ Aufklärung sei „inklusiv“ und „emphatisch“. Das unterscheide sie von der bisherigen Aufklärung. Liegt deren Mangel also darin, einfach nur nach Wahrheit zu suchen und Wahrheitsansprüche kritisch zu prüfen, nicht aber zugleich sich dem normativen Rahmen eines grünen Weltbildes zu fügen, nicht immer auch neben kritischer Faktenorientierung „Respekt“ zu äußern gegenüber Minderheiten und „Marginalisierten“?

Es stimmt zusätzlich skeptisch, wenn Emcke es als besonderen Ausdruck der „neuen Aufklärung“ betont, dass die Fakten der Wissenschaft einfach anzuerkennen sind, dass den „Lügen“ schlicht die „Wahrheit“ entgegenzuhalten ist.
Das ist nun gerade keine aufklärerische Haltung. Emckes Mentor Habermas würde sagen, es fällt hinter die Aufklärung zurück, weil es sowohl normative wie wissenschaftliche Geltungsansprüche der Kritik entzieht.

Die „ältere“ Frankfurter Schule, vor allem Theodor W. Adorno, hatte ein feines Gespür für die Fallstricke einer Rhetorik, die beste und menschenfreundlichste Absichten vorgibt, aber dann doch dem Publikum nach dem Munde redet und den Rausch des Einvernehmens im Sinne von Fortschritt und Humanität einfach nur befeuert. Der Beitrag von Emcke passt genau in dieses Muster. Er markiert die „falsche“ Seite überdeutlich, ja geradezu polemisch, berauscht sich ebenso an der Empörung über das vermeintliche Unrecht wie an der gefühlten Überlegenheit der eigenen Position, die visionär ein ganz neues Kapitel in der Geistesgeschichte zu öffnen beansprucht.

Was hätte Adorno den Grünen mitgegeben, wäre er heute noch unter uns und wäre er, wenig wahrscheinlich, von den Grünen auf ihren Parteitag eingeladen worden? Erst einmal sicher ganz wie Emcke dies, dass die Irrationalismen, die in den sozialen Medien und im Internet wuchern, eine tödliche Gefahr für Demokratie beinhalten können. Adorno hätte aber sicher zugleich darauf hingewiesen, dass es nicht nur die Inhalte sind, sondern auch die Form, auf die dabei zu achten ist, dass also schon das Medium selbst, das Twittern, die Kommunikation über Facebook und alle die anderen Netzwerke mit ihrer scheinhaften Unmittelbarkeit und Authentizität es sind, die die Degeneration ins Irrationale erleichtern. Der Frankfurter Dialektiker hätte sicher auch nicht versäumt, darauf hinzuweisen, dass es gerade die Grünen sind, die einen großen Teil ihres Erfolgs der virtuosen Nutzung der sozialen Medien verdanken, der Mobilisierung von Gefühlen und Klischees, dass sie also selbst ein Teil dessen sind, wogegen sich ihre Kritik richtet.

Es gibt Unsicherheiten und das ist gut so

Im Geiste der kritischen Theorie müsste man heute auch die naive und fast dogmatische Wissenschaftsgläubigkeit aufs Korn nehmen, die sich in der Rede von Emcke spiegelt. Dass man so einfach das Wahre und das Falsche unterscheiden könne, das ist, würde Adorno sagen, die eigentliche Ideologie, gegen die anzugehen wäre. Und schaut man auf die wissenschaftlichen Diskussionsarenen, die Emcke zitiert, ist es ja keineswegs so, dass die Befunde der Virologen oder auch der Klimaforscher das Zwingende eines mathematischen Beweises hätten. Wenn man sich ein wenig damit beschäftigt, weiß man etwa, dass es zum Beispiel zu Corona keineswegs eine einheitliche Position „der Wissenschaft“ gegeben hat und gibt, sondern dass hier durchaus Unsicherheiten bestehen, dass es verschiedene Erklärungsansätze gibt und dass mit Wissenschaft durchaus auch mal Politik betrieben wurde, was angesichts des enormen Problemdrucks der Infektionsdynamik auch gar nicht zu kritisieren ist. Aber es gibt Unsicherheiten und das ist ja auch ganz gut so, könnte man sagen.

Ähnlich beim Klima. Auch da gibt es einen sehr breiten Konsens, was den anthropogenen, also menschengemachten, Charakter eines großen Teils der Klimaerwärmung der letzten 200 Jahre angeht. Aber es gibt auch hier Unsicherheit, Außenseitermeinungen, die ebenfalls wissenschaftlich gut fundiert sind, und keineswegs endgültige Beweise. Auch dies ist angesichts der enormen Komplexität des Klimageschehens überhaupt nicht zu kritisieren. Auch hier könnte man sagen, es ist gut so, dass es verschiedene Auffassungen gibt. 

Diese alles erfassende und durchdringene Unsicherheit ist gerade nicht nur die Schattenseite der Freiheit. Es gilt sie vielmehr genau umgekehrt als deren Sonnenseite zu entdecken.
Ulrich Beck, Die Erfindung des Politischen. Suhrkamp 1993, S. 260

Aufklärung im klassischen Sinne hieße, die Vielfalt der Stimmen auch bei diesen ernsten Themen hörbar zu machen, sich dafür einzusetzen, dass auch Außenseiter zu Wort kommen, diesen Außenseitern jedoch wie allen anderen auch abzuverlangen, für ihre Thesen Beweise und schlüssige Argumente vorzulegen. Wissenschaft ist, darauf hat zum Beispiel der Philosoph Karl Popper immer wieder sehr überzeugend hingewiesen, fortlaufender methodischer Zweifel. Das erste Interesse besteht überhaupt nicht darin, die eigene Position zu verifizieren, sondern möglichst viele Argumente und Daten zu sammeln, die der eigenen These widersprechen könnten. Wenn sich die These auch dann, bis auf Weiteres, bewährt, kann von wissenschaftlichem Fortschritt gesprochen werden.

Die „neue Aufklärung“ Emckes will das ganz offenkundig ebensowenig wie das grüne Parteipublikum an dem Hinterfragen ihrer eigenen politischen Prämissen interessiert ist. Erkenntnis ist im Sinne dieses neuen Verständnisses nur solange zulässig, wie sie nicht in Konflikt mit dem eingeforderten „Respekt“ und Mitfühlen mit „marginalisierten“ Minderheiten gerät. Im Zweifelsfall setzt sich die normative Position durch. Damit öffnet die „neue Aufklärung“ der „Cancel Culture“ an Universitäten und öffentlichen Einrichtungen Tür und Tor.

Truth hurts hieß mal ein Werbeslogan der britischen Zeitschrift „The Economist“. Wahrheit kann verletzen und muss es vielleicht auch zuweilen. Natürlich sollte man auf Gefühle und Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen, wo immer es geht. Aber diese Rücksichten dürfen nicht zu Denkverboten und dogmatischen Vorfestlegungen bei der Suche nach der Wahrheit führen. Doch das tun sie aktuell leider immer häufiger. Emckes Rede von der „neuen Aufklärung“ scheint genau darauf hinauszulaufen, die Wahrheitssuche einzuhegen in einen Rahmen bestimmter normativer Festlegungen, wie sie in ihrem Milieu und vielleicht auch dem der meisten Grünen bestehen.

„Respekt“ ist dann nur noch eine Chiffre für Denkverbote.

Was hätte ein wirklich kritischer Geist den Grünen bei ihrem Parteitag noch mitgegeben? Vielleicht hätte er daran erinnert, dass die aktuellen Fortschritte bei den Corona-Impfstoffen sich zu großen Teilen der Anwendung der Gentechnik verdanken, einer Technik, die die Grünen am liebsten verboten hätten. Vielleicht hätte er auch daran erinnert, dass mit der Nukleartechnik eine zwar riskante, aber vollständig CO2-neutrale Technik zur Verfügung steht, über die man zumindest mal wieder nachdenken sollte, wenn es mit dem Klima so arg sein sollte, wie behauptet.

Wenn es um Wissenschaft und Aufklärung geht, hätte man vielleicht die Grünen auch einmal darauf hinweisen können, dass viele der dort so beliebten pseudowissenschaftlichen Gender-, Identitäts- und Postkolonialismus-Theorien gefährlich nahe an den dunkelsten Formen des Irrationalismus des zwanzigsten Jahrhunderts segeln und das Wissenschaftspathos Lügen strafen, mit dem die Grünen Zweifler stillstellen, wenn es um Klima und Umwelt geht.

Brauchen wir eine „neue Aufklärung“? Eigentlich nicht. Was wir brauchen, ist eine Besinnung auf die Grundsätze der Aufklärung, die Bereitschaft, offene Diskurse zu führen, die Haltung, bei allem Verurteilen doch besser erst zweimal hinzuschauen und zu verstehen, was Menschen umtreibt, die so ganz in die von einem selbst als falsch beurteilte Richtung streben. Nicht zuletzt sollten wir erkennen, dass eine mit Pathosformeln unterlegte Revision des Gedankens der Aufklärung den Keim von Unfreiheit und totalitärer Anmaßung in sich tragen kann. „Aufklärung jetzt!“ heißt ein vor einigen Jahren erschienenes lesenswertes Buch von Steven Pinker. Genauso darum muss es gehen.

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

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