Statistisch zeigen sich geradezu spiegelbildliche Verhältnisse: Wo die AfD stark ist, ist die Corona-Inzidenz eher hoch, wo die Grünen besonders stark sind, eher niedrig — das ist eines der Ergebnisse der folgenden Analyse. Achtung! Eine statistische Korrelation (Stärke der Beziehung zwischen zwei Variablen) ist ein Hinweis auf, aber kein Beweis für Kausalität (Ursache und Wirkung). Unter der Fragestellung “Gibt es soziale, politische und kulturelle Risikofaktoren für Covid-19-Infektionen?” werden Zusammenhänge zwischen Armut und Corona, Einflüsse von Herkunft und Kultur, Verhaltensweisen und Haltungen auf das Infektionsgeschehen empirisch untersucht.
Die „Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung“ (FAS) berichtete in einem Aufmacher am 16. Mai 2021 wie vor ihr bereits verschiedene andere Medien über Befunde, dass der Corona-Virus zwar alle in der Gesellschaft bedroht, aber dass es doch Schwerpunkte im Infektionsgeschehen gibt, die auf einen starken Einfluss der sozialen Lage hinweisen.
Der Gedanke an einen Zusammenhang zwischen Armut und Corona liegt ja auch durchaus nahe[1]. Es ist aus vielen Untersuchungen bekannt, dass Arme häufiger krank sind und auch, dass sie statistisch gesehen eine niedrigere Lebenswartung haben[2]. Und alles, was man über die Verbreitungswege des Corona-Virus bisher weiß, spricht ebenfalls für ein besonderes Erkrankungsrisiko bei Armen, sind diese doch aufgrund fehlender Bildung schlechter über die Risiken des Virus und mögliche Maßnahmen gegen eine Ansteckung informiert, leben häufiger in beengten Wohnungen, sind stärker auf öffentliche Verkehrsmittel verwiesen und arbeiten häufiger in Berufen und Branchen, die einen Rückzug des Arbeitsplatzes ins Home-Office nicht zulassen[3].
Weiterhin wird vermutet, u. a. vom Chef des Robert-Koch-Instituts (RKI), Lothar Wieler, dass Migranten besonders von Corona-Infektionen betroffen sind[4]. Regionale und lokale Untersuchungen, etwa in Baden-Württemberg und Köln zeigen in der Tat, dass die Covid-19-Inzidenz in einem signifikanten Zusammenhang mit dem Ausländeranteil in Kreisen bzw. in Stadtteilen steht. Bei Sozialindikatoren, etwa der Arbeitslosenquote und der Armutsquote, wurde in diesen Untersuchungen offenbar kein starker Zusammenhang mit der Covid-19-Inzidenz gefunden[5]. Auch die weiter unten noch etwas genauer dargestellten Ergebnisse aus der Stadt Offenbach am Main weisen in diese Richtung.
Christian Endt u. a. haben Daten aus 465 Stadtteilen in 10 Großstädten, darunter auch Berlin, analysiert und stellen dort zum Teil hohe Korrelationen der Corona-Inzidenz mit der Arbeitslosenquote und dem Ausländeranteil sowie eine starke negative Korrelation mit dem durchschnittlichen Haushaltseinkommen fest. Interpretiert wird dies allerdings so, dass es nicht der Ausländer-Status als solcher sei, sondern die durchschnittlich schlechtere soziale Situation von Menschen ohne deutschen Pass, die als Infektionstreiber anzusehen ist.
Es liegt nach allem, was man zu den Ausbreitungswegen des Covid-19-Virus weiß, nahe, dass auch Einstellungen und Verhalten der Menschen eine Rolle beim Infektionsrisiko spielen. Hier böte es sich an, auf Daten zu sozialen Milieus, etwa die sog. „Sinus-Milieus“ zurückzugreifen[6]. Leider gibt es dazu bisher keine (veröffentlichten) Untersuchungen. Bezieht man sich auf das Gewicht bestimmter politischer Orientierungen, kann man sich diesen über Stimmanteile einzelner Parteien nähern. Insbesondere die Wählerschaften der Grünen und der AfD repräsentieren, wie man aus der Wahlforschung weiß, relativ scharf bestimmte Milieus, die sich in vielen Hinsichten diametral gegenüberstehen. Bei den anderen Parteien mischen sich die Milieus in der Wählerschaft dagegen eher, so dass man etwa aus besonders hohen Stimmanteilen nicht unbedingt auf die Stärke bestimmter Milieus rückgeschlossen werden kann.
Welche Daten gibt es? Methodische Hinweise
Auf der Ebene der Kreise, also der Landkreise und der kreisfreien Städte, liegen für die Betrachtung der sozialen Faktoren eine Vielzahl von aussagefähigen und in der Forschung etablierten Indikatoren vor. Das RKI veröffentlicht Daten zur Covid-19-Inzidenz ebenfalls auf dieser Ebene, die gleichzeitig die Ebene ist, auf der auch die Zuständigkeit der Gesundheitsämter in Deutschland angesiedelt ist. Zu soziodemographischen Faktoren findet man dort außer zu Alter und Geschlecht allerdings kaum etwas. Angaben zur Staatsangehörigkeit der Infizierten fehlen ebenso wie Angaben zum sozialen Status.
Es ist sinnvoll, in einem ersten Schritt zu prüfen, ob es sich auf dieser Ebene Hinweise für den postulierten Zusammenhang zwischen sozialen, demographischen und politischen Faktoren einerseits und der Pandemiedynamik gibt. Ich ziehe dazu auf der einen Seite die Daten der Datenbank INKAR des Bundesinstituts für Bauen, Stadt- und Regionalforschung (BBSR) für die kreisfreien Städte bzw. Stadtkreise in Deutschland heran. Für das Covid-19-Infektionsgeschehen werden aus den Daten des RKI die gemeldeten Infektionen und die Todesfälle im Zusammenhang mit einer Covid-19-Infektion im ersten Halbjahr 2021 berechnet. Um diese Daten interregional vergleichbar zu machen, werden sie auf jeweils 100.000 Einwohner bezogen. Damit kann man einen längeren Zeitraum und damit strukturell bedeutsame Merkmale überschauen.
Es wurden für diese Analyse alle 116 kreisfreien Städte Deutschlands betrachtet. Berlin wurde dabei ausgeklammert, weil bestimmte Daten nicht auf der Ebene der Bezirke vorliegen, für die das RKI Infektionsdaten ausweist.
Für die soziale Situation der Städte wurden die folgenden Indikatoren betrachtet:
- Durchschnittliches Haushaltseinkommen
- Arbeitslosenquote
- SGB II-Quote (Anteil der Leistungsberechtigten nach dem Sozialgesetzbuch II, Grundsicherung für Arbeitsuchende, an der Bevölkerung im Alter von 0 bis 64 Jahren)
- SGB II-/SGB XII-Quote (kombinierte Kennzahl zur Abbildung des Anteils der Leistungsberechtigten nach den Sozialgesetzbüchern II und XII, Grundsicherung bei Erwerbsunfähigkeit und im Alter sowie Sozialhilfe, an der Bevölkerung insgesamt)
Für die Bevölkerungsstruktur wurde der Ausländeranteil an der Bevölkerung herangezogen, für den Bildungsstand der Bevölkerung der Anteil von Schulabgängern ohne Abschluss, der Anteil von Beschäftigten an ihrem Wohnort, die einen akademischen Berufsabschluss aufweisen, und der Anteil der Beschäftigten am Wohnort ohne Berufsabschluss. Für die Wohnsituation kann die Kennziffer der durchschnittlichen Wohnfläche pro Person Hinweise geben. Für die Altersstruktur wurde als Kennziffer das durchschnittliche Alter der Bevölkerung in den kreisfreien Städten herangezogen.
Für die politische Orientierung der Bevölkerung wurden die Stimmanteile der Parteien CDU/CSU, SPD, Bündnis90/Die Grünen, FDP und Die Linke bei der Wahl zum Europaparlament 2019 herangezogen.
Im Folgenden werden statistische Zusammenhänge mit dem einfachen Korrelationsmaß „r“ (Pearson´s R) untersucht. Ein Wert von 1,0 drückt dabei eine vollständige Korrelation aus, Werte zwischen 0,4 und 0,6 schwache bis mittlere Korrelationen und Werte ab 0,7 starke statistische Korrelationen, die auf einen starken sachlichen Zusammenhang hinweisen[7].
Ergebnisse für die kreisfreien Städte
Für die Gesamtheit der kreisfreien Städte lässt sich kein signifikanter statistischer Zusammenhang zwischen einem der genannten Sozialindikatoren und der Covid-19-Inzidenz feststellen. Das Korrelationsmaß „r“ weist durchweg sehr niedrige Werte aus. Den stärksten Zusammenhang gibt es zwischen dem Anteil der Schulabgänger ohne Abschluss an allen Schulabgängern sowie dem Anteil der sozialversicherungspflichtig Beschäftigten mit akademischem Abschluss in der Wohnbevölkerung und der Covid-19-Inzidenzrate für das erste Halbjahr 2021 mit 0,29 bzw. -0,32. Aber diese Werte sind allenfalls ein schwacher Hinweis auf Zusammenhänge. Dieser Befund gilt mit geringen Änderungen auch, wenn man Westdeutschland betrachtet.
Er gilt im Übrigen auch für die Covid-19-Mortalität, also den Anteil der im Zusammenhang mit der Infektion Verstorbenen an allen Infizierten. Die Mortalität kann als Hinweis auf den Anteil schwerer Krankheitsverläufe verstanden werden.
Bei der Bevölkerungsstruktur lässt sich nur bei den kreisfreien Städten Westdeutschlands ein gewisser Zusammenhang zwischen Ausländeranteil und Inzidenzrate feststellen. Der Wert von „r“ beträgt hier 0,38[8]. In den ostdeutschen Städten lässt sich zwischen den Indikatoren der durchschnittlichen Wohnfläche pro Person sowie dem durchschnittlichen Haushaltseinkommen und der Covid-19-Inzidenz ein mittlerer statistischer Zusammenhang feststellen. Die Werte von „r“ betragen hier 0,53 und 0,62.
In Bezug auf die Durchschnittsalter gab es im ersten Halbjahr 2021 keinen signifikanten Zusammenhang mit der Covid-19-Inzidenz. Die Werte von „r“ sind hier mit knapp 0,2 niedrig und ohne Aussagekraft – und zwar auch, wenn man West- und Ostdeutschland gesondert betrachtet. Ein wenig stärker ist, nicht überraschend, der Zusammenhang zwischen Covid-19-Mortalität und Durchschnittsalter. Dieser Zusammenhang ist mit r=0,4 für alle kreisfreien Städte in Deutschland und r=0,3 für die Städte in Ostdeutschland aber keineswegs so stark, dass man hier einen stärkeren eigenständigen Wirkungsfaktor vermuten könnte.
Differenzierte Befunde auf der Ebene von Bundesländern
Das Bild ändert sich, wenn man einzelne Bundesländer gesondert betrachtet[9]. So gibt es in Nordrhein-Westfalen (NRW) mittlere bis starke Zusammenhänge zwischen dem Bildungsstand der Bevölkerung und der Covid-19-Inzidenz, ebenso zwischen dem durchschnittlichen Haushaltseinkommen und den Armutsindikatoren einerseits und der Inzidenz andererseits. Das gleiche gilt sogar besonders ausgeprägt für Hessen und Baden-Württemberg, nicht aber für Bayern und Niedersachsen.
Der Ausländeranteil spielt sowohl in Niedersachsen als auch in NRW, Hessen und Baden-Württemberg eine große Rolle. Die Zusammenhänge sind hier stark mit Werten von 0,87, 0,85 und 0,76 in Niedersachsen, Hessen und Baden-Württemberg und von mittlerer Stärke mit einem Wert von 0,49 in NRW[10].
Alle diese Werte beziehen sich auf die kreisfreien Städte, nicht die Landkreise. Für die Landkreise ist das Bild noch diffuser, nicht zuletzt weil diese intern in der Regel mit ihren verschiedenen kreisangehörigen Städten und Gemeinden deutlich heterogener strukturiert sind als Städte.
Als Zwischenergebnis kann man also festhalten, dass sich die Situation in den einzelnen Regionen sehr unterschiedlich darstellt. In den westdeutschen Flächenländern mit hoher Bevölkerungszahl gibt es den postulierten Zusammenhang zwischen Corona und Armut in der Tat, und zwar auch dann, wenn man Armut aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet. Zwischen der ausländischen Bevölkerung und einer sozial belasteten Lebenssituation gibt es, darauf wird in dieser Diskussion zu recht immer wieder hingewiesen, eine Schnittmenge. Der Anteil von nicht-deutschen in den unteren Einkommensklassen, in der Arbeitslosigkeit, beim Bezug von staatlichen Transferleistungen und im Bereich der Beschäftigten ohne Berufsabschluss liegt deutlich über dem Durchschnitt[11]. Insofern könnte man den Zusammenhang zwischen dem Ausländeranteil und der Covid-19-Inzidenz durchaus als direkten Ausdruck von benachteiligten Lebenslagen ansehen. Das ist aber nicht durchgängig festzustellen, wie wir gesehen haben. Deshalb macht es durchaus Sinn, den Status Nicht-Deutsch als einen zumindest in Teilen eigenständigen Wirkungsfaktor anzusehen.
Politische Präferenzen und Corona
Bevor wir dies alles interpretieren, werfen wir erst noch einmal einen Blick auf die angesprochene Dimension, die politische Haltung der Bevölkerung bzw. das relative Gewicht bestimmter Haltungen, wie sie sich in Wahlergebnissen ausdrückt, in den Städten. Für diese Variable ziehen wir die Ergebnisse der Wahl zum Europaparlament im Jahr 2019 heran, die vom Bundeswahlleiter kreisscharf bereitgestellt werden.
Für die Parteien CDU (CSU), SPD, FDP und Die Linke lassen sich keine signifikanten Zusammenhänge mit den Inzidenzraten von Covid-19 feststellen. Anders stellt es sich bei den Parteien „Bündnis90/Die Grünen“ (Grüne) und „Alternative für Deutschland“ (AfD) dar[12]. Hier gibt es ausgeprägte Zusammenhänge – negativ bei den Grünen, positiv bei der AfD. Dort, wo die Grünen besonders stark sind, ist die Inzidenz eher niedrig, dort, wo die AfD stark ist, ist sie eher hoch. Die Zusammenhänge sind dabei fast spiegelbildlich. Das Zusammenhangsmaß „r“ beträgt für die AfD 0,45 bei allen kreisfreien Städten in Deutschland, 0,43 unter den westdeutschen Städten und 0,69 unter den Städten in Ostdeutschland, was als starker Hinweis auf einen Zusammenhang interpretiert werden kann. Bei den Grünen betragen die entsprechenden Werte -0,45 für alle kreisfreien Städte Deutschlands (außer Berlin), -0,42 für die Städte in Westdeutschland und -0,59 unter den Städten Ostdeutschlands (außer Berlin).
In den westdeutschen Bundesländern sind diese Zusammenhänge teilweise noch deutlich ausgeprägter. Für die AfD: Niedersachsen 0,56, NRW 0,64, Hessen 0,84 und Baden-Württemberg 0,76. Bayern schert auch hier von 0,30 bei den großen Ländern aus, was auch damit zusammenhängen dürfte, dass es in Bayern sehr viele kleine kreisfreie Städte gibt, die in anderen Ländern Landkreisen zugeordnet wären. Spiegelbildlich auch hier die Situation im Hinblick auf die Grünen: Niedersachsen -0,39, NRW -0,62, Hessen -0,66, Baden-Württemberg -0,87.
Diese Zusammenhänge bestätigen sich durchweg auch bei der Betrachtung der Mortalität. Wenn man es mal etwas zugespitzt ausdrückt, hat Corona in Regionen mit hoher Zustimmung zur AfD besonders schwere gesundheitliche Folgen und eher leichtere Folgen dort, wo die Grünen stark sind.
Dieser Befund ist sicher außerordentlich interpretationsbedürftig. Es spielt ohne Zweifel eine Rolle, dass die Wähler der AfD durchschnittlich älter sind als der Durchschnitt und die der Grünen jünger. Auch Bildungsstand, Milieuzugehörigkeit und soziale Lage spielen eine Rolle, wobei immer zu beachten ist, dass die AfD in sozialer Hinsicht keineswegs die Partei der „Abgehängten“ ist. In unserem Städtepool ist der Korrelationswert zwischen AfD-Stimmanteilen und der SGB II/SGB XII-Quote mit 0,22 nur schwach positiv. Bei den Grünen ist er mit -0,18 schwach negativ. Das heißt, anders als bei den Nicht-Deutschen ist hier nicht davon auszugehen, dass die hier zum Ausdruck kommende politische Haltung im Grund nur ein Widerschein einer dahinterstehenden sozialen Problematik ist.
Es gibt allerdings auch unter den Städten einen Zusammenhang mit der Qualifikation der Bevölkerung. Städte mit hohen AfD-Stimmanteilen haben in der Bevölkerung deutlich weniger sozialversicherungspflichtige Beschäftigte mit akademischem Abschluss als Städte mit hohen Grünen-Stimmanteilen, die – das ist nicht neu – vor allem in Städten mit hohen Akademikeranteilen erfolgreich sind. Die Korrelationsmaße liegen für diese Variable bei -0,36 bzw. 0,60.
Es wäre sicher sinnvoll, diesen Bereich noch näher auszuloten. Aber schon diese wenigen Befunde zeigen, dass der kulturell-habituelle Faktor doch ganz offensichtlich eine gewisse Bedeutung hat. Aus den Berichten der Presse zu Corona-Demonstrationen ist ja nun auch vielfältig darüber berichtet worden, dass die für die Pandemie getroffenen Vorsichtsmaßregeln bei den Anhängern der AfD eine geringere Akzeptanz haben als bei Anhängern der Grünen, die sich ja auf fast allen politischen Ebenen immer wieder für eher strenge und restriktive Regelungen ausgesprochen haben und natürlich in ihrer Anhängerschaft besonders viele Menschen haben, die sich aufgrund ihrer privilegierten sozialen und beruflichen Situation deutlich besser mit restriktiven Regelungen (etwa einem „Lockdown“) arrangieren können als der Durchschnitt der Bevölkerung. Auch kann man die typische Haltung der Anhänger der Grünen inzwischen eher als konformistisch, die der AfD-Anhänger eher als nonkonformistisch und im Hinblick auf Corona eher etwas risikobereiter beschreiben. Das „grüne Milieu“, wenn man das einmal so ausdrückt, ist in Richtung Mainstream und Anpassung herrschende Strömungen gerückt, die widerständige und risikobereite Einstellung finden sich eher bei den AfD-Anhängern. Was immer man von diesen beiden Polen in der Milieu- und Haltungslandschaft halten mag, im Hinblick auf Corona scheinen die „grünen Milieus“ eher etwas im Vorteil zu sein. (Siehe die beiden Grafiken zu Beginn.)
Noch deutlicher ist, wie oben bereits bemerkt, der Zusammenhang zwischen der Covid-19-Mortalität, hier gemessen als Zahl der Sterbefälle pro 100 (gemeldete) Infizierte, ebenfalls in fast spiegelbildlicher Ausprägung, wenn man die Stimmanteile für Grüne und AfD gegenüberstellt:
Hier dürfte die unterschiedliche Altersstruktur in Städten mit starken AfD-Anteilen bzw. starken Grünen-Anteilen eine Rolle spielen. Zwischen der Mortalität und dem Durchschnittsalter der Städte gibt es mit r=0,6 in Bezug auf die Stimmanteile der AfD einen deutlichen statistischen Zusammenhang, ebenso, nur gegenteilig gerichtet, in Bezug auf die Stimmanteile der Grünen mit r= -0,6. Wenn man berücksichtigt, dass der Zusammenhang zwischen Durchschnittsalter und Mortalität insgesamt zwar vorhanden, aber nicht sehr stark ist, könnte man diese Befunde aus dem Blickwinkel der Parteipräferenzen durchaus als Hinweis auf eine eigenständige Verhaltenskomponente verstehen. Auch hier sollte man aber mit schnellen Schlussfolgerungen vorsichtig sein. Es wäre für die weitere Forschung sicher eine sehr interessante Fragestellung, ob es jenseits von objektiven Merkmalen wie Alter auch Faktoren im Verhalten der Menschen oder vielleicht auch der Institutionen wie Ärzten und Krankenhäusern gibt, die Covid-19-Krankheitsverläufe tendenziell schwerer und riskanter machen.
Einfluss von Herkunft und Kultur
Daten zur Staatsangehörigkeit von Covid-19-Infizierten und deren evtl. Migrationshintergrund liegen auf Bundesebene nicht vor. Auf kommunaler Ebene lassen sich anhand der Datenbankeinträge der Gesundheitsämter zumindest Aussagen zu Staatsangehörigkeit treffen.
Für diese Untersuchung konnten Daten der Stadt Offenbach am Main erschlossen werden, einer kleineren Großstadt mit rund 140.000 Einwohnern in der Region Frankfurt/Rhein-Main. Charakteristisch ist der sehr hohe Anteil von Migranten an der Bevölkerung. Der Anteil von Nicht-Deutschen liegt bei rund 40 Prozent, der Anteil der Menschen mit Migrationshintergrund, der auch die Deutschen mit ausländischen Wurzeln umfasst, liegt bei rund 65 Prozent[13].
Es bestätigt sich auch hier, dass Nicht-Deutsche stärker von der Pandemie betroffen sind als Deutsche. 2021 liegt der Anteil von Nicht-Deutschen an den Infizierten mit 53 Prozent deutlich über dem Durchschnitt. Besonders interessant ist allerdings, dass es innerhalb der nicht-deutschen Bevölkerung eine sehr große Streuung gibt. Nimmt man den gut eingeführten Indikator der „7-Tage-Inzidenz“ (also der Zahl der Fälle über 7 Tage, hochgerechnet auf jeweils 100.000 Einwohner), liegen die durchschnittlichen Werte 2021 zwischen 465 (Afghanen) und 103 (Portugiesen). Der Durchschnittswert liegt bei 155, die durchschnittliche 7-Tage-Inzidenz der Deutschen liegt bei 110[14]. Berechnet man, wie in den Betrachtungen weiter oben, eine Kennziffer aus der Gesamtzahl der Fälle in den ersten fünf Monaten 2021 und der auf jeweils 100.000 Einwohner hochrechneten Bevölkerungszahl der jeweiligen Gruppe streuen die Werte zwischen über 10 Tausend und etwas über 2000.
Im Hinblick auf die soziale Situation gibt es zwischen den Nationalitäten in Offenbach wie in anderen Städten auch eine gewisse Abstufung, die sich unter anderem im Anteil der für Leistungen des SGB II (Grundsicherung für Arbeitsuchende) berechtigten Personen an der Gesamtzahl der Einwohner zwischen 0 und 64 Jahren dieser Bevölkerungsgruppe, der SGB-II-Quote, ausdrückt. Diese streut bei den von der Einwohnerzahl her wichtigsten Gruppen der Nicht-Deutschen zwischen 49,2 und 4,5 (Durchschnitt: 13 Prozent). Das sind erhebliche Diskrepanzen, die auch ein wenig darüber mitteilen, wie gut die Integration dieser Gruppen in Wirtschaft und Arbeitsmarkt bisher geglückt ist.
Zwischen der Betroffenheit der einzelnen Gruppe von Covid-19 und dieser spezifischen Armutsquote gibt es eine gewisse Kongruenz, aber nur von einer mittleren Stärke. Klammert man eine herausstechende Gruppe mit einer sehr hohen SGB-II-Quote und zu gleich einer sehr hohen durchschnittlichen 7-Tage-Inzidenz aus, liegt der Wert für die Stärke des Zusammenhangs bei r=0,45, also allenfalls in einem unteren bis mittleren Bereich. Auch hier scheint es weitere Faktoren zu geben, die man ins Auge fassen muss, wenn man etwas über „Vulnerabilität“ in Bezug auf den ansteckenden Virus wissen will.
Es liegt nahe, für die Frage der Einflussfaktoren der Pandemie auch über Kultur und Lebensstil nachzudenken. Leider gibt es dafür auf der lokalen Ebene direkt keine Daten. Man könnte hier über Daten zu den „Sinus-Milieus“ nachdenken, die auch die auch für die Stadt Offenbach und dort auch getrennt für die migrantische Bevölkerung vorliegen[15]. Diese Milieudaten lassen sich zwar Sozialräumen, Stadtteilen und Quartieren zuordnen, nicht aber einzelnen Bevölkerungsgruppen nach ihrer Nationalität. Insofern würden sie uns bei dieser Frage nicht helfen.
Es bleibt ein Blick auf die anzunehmende Religionszugehörigkeit der Bevölkerungsgruppe, sofern man darauf aus dem Herkunftsland schließen kann. Es ist bei vielen Bevölkerungsgruppen durchaus möglich. Man wird nicht falsch liegen, wenn man etwa der Bevölkerung mit türkischer Nationalität in der Mehrheit eine muslimische Prägung zurechnet, der serbischen eine überwiegend orthodox-christliche und der polnischen oder italienischen Bevölkerungsgruppe eine überwiegend katholisch-christliche Prägung. Aber es sind natürlich Verallgemeinerungen, die sich zwar auf einigermaßen plausible Annahmen, nicht aber auf präzise Daten stützen können. Insofern ist auch hier große Vorsicht bei Schlussfolgerungen geboten. Die religiöse Orientierung wäre in unserem Zusammenhang auch eher eine Chiffre für eine kulturelle Prägung, die auf den Lebensstil und das Verhalten abfärbt. Für fast alle Religionen gilt, dass für Gläubige Zusammenkünfte in der Gemeinschaft eine besondere Bedeutung haben und damit natürlich in einer Situation wie in der Pandemie, in der eigentlich Abstand und Separierung am ehesten Schutz vor einer Infektion geben können, eine gewisse Spannung zwischen gesellschaftlichen Normen und den Normen und Werten der eigenen Gruppe entstehen kann.
Familienstruktur – eine neue Perspektive?
Jenseits der Religionszugehörigkeit ist, wie der Anthropologe Emmanuel Todd in seinen Arbeiten gezeigt hat, die Familienstruktur bzw. das vorherrschende Familienmodell ein machtvoller Faktor, der die kulturelle, soziale und politische Entwicklung von Ländern und sogar die Religion und die Religionspraxis maßgeblich beeinflusst. Todd hat eine Typologie von Familienmodellen entwickelt, die nach seinem Anspruch weltweit gültig ist und eine wichtige Grundlage für die Klassifizierung und Analyse von Gesellschaften im Quervergleich wie in der historischen Entwicklung bietet.
Diese Typologie ist relativ komplex und kann hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Für unser Thema wäre vor allem die Unterscheidung von „Kernfamilie“, „Stammfamilie“ und „kommunitärer Familie“ mit jeweils einigen Untertypen relevant. Diese Familientypen prägen nach Todd die Kultur, die normative Orientierung und den Lebensstil eines Landes, aber auch die der Diaspora-Gemeinden der jeweiligen Länder maßgeblich. Oft gibt es innerhalb von Nationalstaaten regional unterschiedliche Prägungen, so dass man die Zuordnung von vorherrschenden Familienmodellen auf der regionalen Ebene vornehmen muss, was dann auch auf die Situation der Diaspora-Gemeinden ausstrahlt, die sich dann uneinheitlich darstellt und erst durch die Klärung der Herkunftsregion in einem bestimmten Land geklärt werden kann. Eine kartographische Darstellung Europas mit den Zuordnungen der Familienmodelle nach dem Konzept von Todd findet sich im Anhang[16].
Todd´s Ansatz ist damit auch für die Analyse von Formen und Folgen von Migration überaus interessant, wirft sie doch ein ganz neues Licht auf förderliche und hemmende Bedingungen für Integration in den Aufnahmeländern. Es zeigt durchaus plausibel „Tiefenstrukturen“ in der kulturellen und sozialen „DNA“ von Gesellschaften auf, die auch jenseits von wirtschaftlichen Rahmenbedingungen und politischen Konjunkturen wirksam sind. Man muss den zum Teil sehr weitreichenden Schlussfolgerungen von Todd nicht in allen Schritten folgen, wird aber in seinem Konzept doch immer wieder sehr anregende Perspektiven auf Probleme gesellschaftlicher Vielfalt und die Gelingens- und Misslingensbedingungen von Integration finden.
Ob und inwieweit diese Familienmodelle auch bei den Immigranten in der deutschen Diaspora wirkmächtig sind, wäre sicher näher zu untersuchen. Die Befunde der vielfältigen Forschung zu gesellschaftlicher Vielfalt und Integration scheinen in diese Richtung zu weisen[17].
Wenn man die Typologie von Todd mit dem Ranking der von Infektionen meistbetroffenen Nationalitätengruppen in Offenbach verknüpft, ergibt sich an der Spitze ein sehr stark vom „kommunitären“ Familienmodell geprägtes Bild[18]. Prägend für den „kommunitären“ Familientypus ist neben anderen Merkmalen das Zusammenleben von mehreren Generationen und sehr enge Kontakte in einer weit gefassten Verwandtschaft. Dies könnte darauf hinweisen, dass es selbst bei Beachtung aller Kontakteinschränkungen einfach durch die Logik der Familienstruktur weiter streuende private Kontakte als in der Durchschnittsbevölkerung gibt.
Fazit
Um das Geschehen in Situation wie der Covid-19-Pandemie zu verstehen, ist es notwendig und sinnvoll auch soziale, kulturelle und politische Faktoren einzubeziehen, nicht nur im Sinne einer Folgenanalyse, sondern auch im Sinne von sozialen Randbedingungen, die die Infektionsdynamik begünstigen oder auch hemmen können. Die Daten sprechen dafür, dass Bildung und eine gute berufliche Position in einer pandemischen Situation Vorteile bringen, Armut und ein niedriger sozialer Status eher Nachteile. Dies ist in der Allgemeinheit nicht überraschend und entspricht den Erwartungen. Interessant ist jedoch, dass diese Zusammenhänge eher in bestimmten regionalen Kontexten, nicht aber in der Gesamtschau deutlich hervortreten. Die Zusammenhänge sind zu komplex, um sie mit einem einfachen Erklärungsmodell auf den Begriff zu bringen, das vor allem auf soziale Ungleichheiten abstellt.
Wichtig sind offenkundig auch Verhaltens- und Einstellungsvariablen, beispielhaft hier dargestellt anhand der regionalen Stimmgewichte von zwei polar gegenüberstehenden Parteien. Auch Herkunft und Kultur dürften eine gewichtige Rolle spielen. Die vorhandenen Daten geben dazu Hinweise, mehr aber noch nicht. Die Befunde dieser kleinen Studie deuten eher die Richtung an, in die die sozial-epidemiologische Forschung sich bewegen müsste, um die soziale Dynamik der Pandemie besser zu verstehen.
[1] Dieser Aufsatz ist eine Weiterführung eines ersten Arbeitspapiers zum Thema. Für die hier vorgestellten Analysen wurde eine wesentlich breitere und Analyse von Daten zum Pandemiegeschehen vorgenommen. Zugleich wurden neue Untersuchungsperspektiven eingefügt. Siehe: https://www.researchgate.net/publication/351903434_Corona_und_Armut [2] Siehe z. B. Kooperationsverbund Gesundheitliche Chancengleichheit (2010): gesundheitliche-chancengleichheit (Download 24.05.2021) [3] So zeigt eine Untersuchung des wissenschaftlichen Instituts der AOK, dass Menschen, die in „Sorgeberufen“ arbeiten, ein deutlich höheres Risiko der Erkrankung an Covid-19 aufweisen als der Durchschnitt. Zit. nach Aleksandra Lewicki: Sind Menschen mit Migrationshintergrund stärker von Covid-19 betroffen?, University of Sussex, Juni 2021, S. 3. Dort auch weitere Hinweise zu Forschungsergebnissen zum Zusammenhang von Berufstätigkeit, sozialer Stellung und Erkrankungsrisiko. Quelle: Warum Covid-19 Minderheiten härter trifft | Artikel | MEDIENDIENST INTEGRATION (mediendienst-integration.de) (Download 05.06.2021) [4] Siehe etwa RKI-Chef Wieler: Sehr viele Corona-Erkrankte haben einen Migrationshintergrundhintergrund (rtl.de) (Download 24.05.2021) [5] Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 16.05.2021 https://www.nzz.ch/international/deutschland/warum-corona-migranten-und-afd-waehler-oefter-trifft-ld.1624457 (Download 24.05.20219) [6] Vgl. dazu: Bernd Hallenberg: Gesellschaftliche Vielfalt transparent machen: die Rolle der Milieuforschung, in: Naomi Alcaide, Christian Höcke (Hg.): Vielfalt gestalten. Ansätze zur Förderung der sozialen Kohäsion in Europas Städten, Berlin 2019: Jovis, S. 55-70 [7] wohlgemerkt nicht auf kausale Abhängigkeit. Korrelationen sind keine Kausalbeziehungen, können aber ein Hinweis auf kausale Zusammenhänge sein, die dann näher zu untersuchen wären. [8] Siehe dazu die Tabellen im Anhang. [9] Für verschiedene Zwecke werden die Kreise, Städte und Regionen in Deutschland in sog. „Raumtypen“ unterteilt, etwa verstädterte Verdichtungsräume und ländliche Räume. Siehe dazu die detaillierten Darstellungen des BBSR auf www.raumbeobachtung.de/raumabgrenzungen Diese Raumtypen repräsentieren auch unterschiedliche soziale und siedlungsstrukturelle Umfelder. Eine Betrachtung des Inzidenzgeschehens im Hinblick auf die Zugehörigkeit einzelner Städte solchen Raumtypen erbrachte jedoch kein Ergebnis. [10] Siehe auch dafür die Tabellen im Anhang. [11] Siehe dazu etwa: Lebenslagen in Deutschland. Der sechste Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung, Berlin 2021. [12] Auch für die Zusammenhänge wird auf die Tabellen im Anhang verwiesen. [13] Quellen für die Daten zur Stadt Offenbach: Stadt Offenbach, Abt. Statistik und Wahlen, Sozialbericht 2019 der Stadt Offenbach, eigene Berechnungen auf der Basis von Daten der Datenbank für Infektionskrankheiten des Gesundheitsamtes Offenbach. Weitere, erwähnenswerte Merkmale der Stadt Offenbach sind auf der einen Seite der relative hohe soziale Problemdruck mit einer deutlich überdurchschnittlichen Armutsquote und einer zumindest im prosperierenden regionalen Umfeld chronisch überdurchschnittlichen Arbeitslosigkeit, auf der anderen jedoch der relativ geringe Grad von sozialer und ethnischer Segregation. Vgl. dazu Matthias Schulze-Böing: „Stadt der Vielfalt, Stadt in Bewegung. Arrival City Offenbach.“ In: Klaus Schäfer (Hg.): Aufbruch aus der Zwischenstadt, Bielefeld 2018: Transcript-Verlag sowie Marcel Helbig / Stefanie Jähnen: Wie brüchig ist die soziale Architektur unserer Städte? Trends und Analysen der Segregation in 74 deutschen Städten. Discussion Paper P 2018–001: Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung 2018 [14] Kalenderwochen 1-21; siehe Tabellen im Anhang. [15] Siehe Fußnote 7 [16] Vgl. Emmanuel Todd: Das Schicksal der Immigranten: Deutschland – USA – Frankreich – Großbritannien, Frankfurt am Main 1998: Büchergilde Gutenberg; deutlich weniger prägnant und die Erklärungskraft des Modells überreizend: Emmanuel Todd: Traurige Moderne: Eine Geschichte der Menschheit, München 2018: C. H. Beck; Todd hat seine Konzeption über ein ganzes Forscherleben hinweg entwickelt und dabei immer wieder modifiziert. Einen ganz guten Überblick gibt Jacques Demorgon: Emmanuel Todd. Familles et sociétés. Toute l´histoire; in: Synergies Pays germanophones, Numéro 12 / Année 2019, pp. 75-92; ebenso der deutschsprachige Wikipedia-Eintrag zu Emmanuel Todd : Emmanuel Todd – Wikipedia (Download 24.05.2021) [17] Siehe etwa Paul Scheffer: Die Eingewanderten: München 2016: Hanser [18] Siehe die Übersicht im Anhang.