Wie Phoenix aus der Asche: das freie Individuum

Bild: Joenomias auf pixabay

„Jeder hat das Recht auf die freie Entfaltung seiner Persönlichkeit, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt“, sagt unser Grundgesetz im Artikel 2. In dieser Formulierung drückt sich das ganze Drama des Freiheitsverständnisses aus, um das sich die Auseinandersetzungen drehen, auch in diesem Bundestagswahlkampf. Wie Phönix aus der Asche tritt das freie Individuum auf die Weltbühne, während die politische Ordnung, das Soziale und die Kultur – Natur kommt gar nicht vor – zu Freiheitsschranken degradiert werden. Unterschlagen, völlig ausgeblendet wird dabei, dass die politische, soziale, kulturelle, natürliche Umwelt zugleich und überhaupt erst die Bedingungen der Möglichkeit individueller Freiheiten schafft. Freiheit ist weder voraussetzungs-, noch folgenlos zu haben. Wer das ignoriert, provoziert unproduktiven und destruktiven Streit. Konflikte entstehen immer, wenn es um Freiheit geht, aber nicht notwendig so irreführende.

Das „unvollendete Projekt“ der Moderne (Jürgen Habermas) hat als Dreh- und Angelpunkt ein Freiheitsversprechen. Zuvor Jahrhunderte lang religiös bevormundet und politischer Herrschaft unterworfen, ging vom Europa des 18. Jahrhunderts eine revolutionäre Bewegung aus, die im Namen der Freiheit das Recht auf Selbstbestimmung und Selbstverwirklichung einforderte; zunächst nur für Männer mit Eigentum, inzwischen für jede Person und prinzipiell.

Selbst zu entscheiden, nenne ich Freiheit in Aktion. Aber mit dem Entscheiden ist es nicht getan. Eine Entscheidung zu verwirklichen, setzt in der Regel sehr viel mehr voraus als das Recht, sie zu treffen.

Entwickelt haben sich zwei Freiheitsdiskurse, ein liberal-maskuliner und ein sozial-verantwortlicher. Durchgesetzt hat sich ersterer, obwohl unter der Fahne von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit auch das zweite möglich gewesen wäre. Das liberal-maskuline Freiheitsverständnis hält den Anspruch hoch, die freie Wahl zu haben, und behandelt die Voraussetzungen und Folgen dieser Wahl als drittrangig, sofern es sie überhaupt als Thema anerkennt. Das andere Freiheitsverständnis thematisiert und problematisiert – zum Beispiel unter Stichworten wie Accountability (Amartya Sen) und Risikofolgenabschätzung – genau diese Voraussetzungen und Auswirkungen. Seine Protagonisten vergessen allerdings des Öfteren deutlich zu machen, dass es ihnen dabei um verantwortliche Freiheit geht, nicht um deren Geringschätzung oder gar Abschaffung.

Ist die Frage nach Verantwortung Freiheitsberaubung?

Wer ist dieses Selbst, das sich frei entscheiden können soll? Ein Individuum, eine Familie, eine Organisation, eine Nation? Schon angesichts einer so naheliegenden Nachfrage gerät ein Verständnis von Freiheit in Erklärungsnöte, das einfach nur ein Recht auf Selbstbestimmung verkündet. Für viele Prediger des Freiheitsanspruchs war es bis vor kurzem völlig normal, dass Frauen in Familien weniger Selbstbestimmung haben als Männer; auch dass in organisierten Arbeitsbeziehungen einige wenige bestimmen, während die anderen sich bestimmen lassen müssen. Und wer trifft die kollektiv bindenden Entscheidungen, die das Zusammenleben in einer Nation regeln? Das freiheitliche Verfahren heißt Demokratie. Aber wie viel individuelle Selbstbestimmung kann für die einzelnen Einwohner:innen dabei übrig bleiben? Soll sich jede Person ihre eigenen Gesetze machen können?

Was will uns die FDP sagen, wenn sie auf aktuellen Wahlplakaten für, Überraschung, die Freiheit der Wirtschaft plädiert, für eine „Politik, die Wirtschaft machen lässt“? Will sie die Gewerbeaufsicht abschaffen, die Monopolkommission nach Hause schicken und das Betriebsverfassungsgesetz für ungültig erklären? So etwas zu unterstellen, ist genau so demagogisch wie den Grünen Freiheitsberaubung vorzuwerfen, wenn sie auf Probleme des Fleischkonsums, des Autoverkehrs, der Agrarchemie etc. aufmerksam machen; oder Kapitalismuskritiker Freiheitsfeinde zu nennen, wenn sie mehr soziale Sicherheiten für Erwerbstätige und Arbeitslose fordern, die Casinos des Finanzkapitals stärker kontrollieren oder Steuerflucht erschweren wollen.

Für Empörung sorgte der Leiter des Bezirksamts Hamburg-Nord, ein Grüner, als er bei seinem Amtsantritt Anfang des Jahres (2021) erklärte, der Bezirk wolle in neu auszuweisenden Baugebieten auf Geschosswohnungsbau setzen – und keine Einfamilienhäuser mehr ausweisen. “Glaubt man manchen Liberalen und Konservativen auf Twitter, wollen Sie die Menschen in DDR-Plattenbauten stecken. Stimmt das?, fragte ihn die taz im Interview. Über eine solche Entscheidung kann und muss gestritten werden. Aber nicht so, nicht mit Demagogie und Probembewusstlosigkeit, wie es, natürlich mit Bild an der Spitze, geschehen ist, also nicht mit dem Selbstbestimmungs-Anspruch als Freiheitskeule, die Verantwortungsfragen mundtot zu machen versucht.

Wir müssen reden. Freiheit hat Voraussetzungen, Selbstbestimmung braucht Ressourcen, ohne kulturelle, soziale, finanzielle Potenzen schrumpft Freiheit in sich zusammen, wird sie zum Bettler. Der Gebrauch von Freiheiten hat Folgen. „Du stehst nicht im Stau, du bist der Stau“, drückt das sehr einfach aus. Die Klimakrise ist eine Folge der Freiheiten, die sich Menschen in verantwortungsloser Weise genommen haben. In das Zentrum der politischen Auseinandersetzungen gehört der vernünftige Gebrauch verantwortlicher Freiheit. Daran hängen wahrlich genug wichtige Fragen. Für die alten liberal-maskulinen Ansprüche bleibt ein Platz im Geschichtsbuch.

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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