„Wird auch gerne genommen!“

Wählen bedeutet, sich zu entscheiden zwischen verschiedenen Alternativen. Für die 60,4 Millionen Stimmberechtigten stehen insgesamt 47 Parteien und 6.211 Kandidat:innen zur Wahl zum Deutschen Bundestag am 26. September. Ob, was und wen sie wählen wollen – wüssten sie es, bräuchten sich die Menschen nicht zu entscheiden oder hätten schon entschieden. Wenn unsichere Wähler:innen auf unsichere Kandidat:innen treffen…

Die Situation ist vertrackter als man zunächst annehmen möchte, denn mit der Wahl entscheiden wir im Grunde über zukünftige Entscheidungen der Parteien. Und damit trifft unweigerlich Unsicherheit auf Unsicherheit.
Zwar haben die Parteien Programme formuliert mit Zielen und Plänen. Allerdings versprechen Programme nur eine Zukunft, die noch nicht eingetreten ist. Erst hinterher sind alle klüger, inklusive der Expertinnen und Experten, die vorgeben, es immer schon besser gewusst zu haben.

Die Bedeutung von Zielen und Zwecken im Politischen erklärte Ex-Kanzler Helmut Kohl mit den Worten „entscheidend ist, was hinten rauskommt“ und machte Aussitzen zu seinem Regierungsstil. 

Das ist aber nur die halbe Wahrheit; denn Entscheidungen werden auch durch Gelegenheiten motiviert. Flut, Feinstaub, Fukushima, Fridays for Future, FIU (Zentralstelle für Finanztransaktionsuntersuchungen) – es gibt viele Beispiele dafür, dass Politik meist viel agiler im Erkennen und Ausnutzen von Chancen operiert als mit langfristigen Plänen und Zielbeschreibungen, sozusagen mehr aus dem Handgepäck lebt als aus dem großen, schweren Koffer. 

“Nun musst du dich entscheiden”

Es sind also Entscheidungen zu unterscheiden, die ein Ziel verfolgen von solchen, die Bedingungen ausnutzen, und selbstverständlich lässt sich auch beides kombinieren; lassen sich doch auch Bedingungen nutzen, um Ziele zu erreichen. Es bleibt trotzdem eine Herausforderung, denn Ziele und Bedingungen werden gewöhnlich nicht auf einem Silbertablett serviert. Nur Maschinen sind auf Zwecke festgelegt und nur Computer entscheiden auf Basis der programmierten Algorithmen im erwartbaren Modus „Wenn-dann“. Über Ziele wird unter Menschen gestritten und Bedingungen, insbesondere veränderte und neue, müssen erst noch erkannt, anerkannt und genutzt werden, wie an den Umweltbedingungen zu sehen ist. 

Was richtig oder falsch bzw. besser oder schlechter ist, hängt ab von den Präferenzen der Entscheider:innen. Und auch die Wahlentscheidungen der Bürgerinnen und Bürger changieren zwischen Zielen und Bedingungen der individuellen Lebenswelt. Im Grunde sind sie aber so paradox wie die finale Aufforderung in der berühmten Flirt-Show Herzblatt: „Nun musst Du Dich entscheiden.“

Paradoxie des Entscheidens

Das eigentliche Problem des Entscheidens wird meist verheimlicht. Woher wissen wir eigentlich, dass es nicht noch andere Optionen gibt, als die von den Parteien als Programm angebotenen? Umfragen und Hochrechnungen beziehen sich immer auf die Entscheidungsoptionen des Stimmzettels, die zusammen 100 % ergeben. Vielleicht gibt es aber viel attraktivere Programme und damit viel bessere Entscheidungen. Ist die Wahl vielleicht eine unangemessene Limitierung der Möglichkeiten?

Heinz von Foerster trifft zu diesem Problem der Entscheidung eine irritierende Feststellung, die mehr ist als ein Wortspiel: „Only those questions that are in principle undecidable we can decide.“1 Nur die Fragen, die prinzipiell unentscheidbar sind, können wir entscheiden? Was soll man mit dieser paradoxen Aussage anfangen, dass Entscheidungen notwendig und unmöglich zugleich seien. 

Ist es nicht eine Befreiung, vor dem Horizont einer ungewissen Zukunft und unklarer Ergebnisse die Unentscheidbarkeit zu akzeptieren? Entscheidungen haben wenig zu tun mit Mathearbeiten, in denen alles schon entschieden ist. Aber worum geht es dann, wenn nicht um die Wahl zwischen Alternativen und richtig oder falsch?
Das formuliert Heinz von Foerster als ethischen Imperativ, die Handlungsalternativen zu erweitern: „Handle stets so, dass die Anzahl der Wahlmöglichkeiten größer wird!“2 

 Die in der Pandemie propagierte Alternativlosigkeit der Politik wäre demzufolge ein ethisches Armutszeugnis – jede Wahl, die das Ziel hat, Wahlmöglichkeiten einzuschränken, allerdings auch.

Warum muss man sich entscheiden?

Bild: Die Sendung mit der Maus

Politik ist nicht Persil, aber bei Wahlen treffen unweigerlich Angebot und Nachfrage aufeinander. Das Grundmuster der Verhaltensbeeinflussung dazu lautet: wecke oder appelliere an Bedürfnisse und informiere, dass Dein Angebot diese Bedürfnisse besser bedienen kann, als das der Konkurrenz. Mit den Bedürfnissen ist es so eine Sache. Das erleben wir spätestens Weihnachten, wenn viele bekunden, dass sie schon alles haben, und andere auf ihren Wünschen sitzen bleiben. Aber wie an Weihnachten wird auch bei Wahlen mitgemacht.

Ganz offensichtlich sind aber die Angebote für nicht wenige Menschen so lebensfern und unattraktiv, dass gar nicht mehr oder nur noch aus Protest gewählt wird. Für solche Verfallserscheinungen der Demokratie müssen sich beide, Anbieter:innen und Nachfrager:innen, Kritik gefallen lassen.

Das Risiko bei Wahlen ist, dass man vielleicht nicht das bekommt, was man gewählt hat. Das Zusammentreffen von öffentlichem Angebot und geheimer Wahl ist schließlich kein einklagbares Rechtsgeschäft nach dem Rechtsgrundsatz pacta sunt servanda (Verträge sind einzuhalten). Wähler:innen können nicht sicher sein, dass sie das bekommen, was sie gewählt haben bzw. meinten, gewählt zu haben. 
Zudem würde für viele Wahlversprechen die alte römische Lehre gelten, nach der unmögliche Leistungen grundsätzlich nichtig sind: impossibilium nulla obligatio, Unmögliches verpflichtet zu nichts.

Doch inzwischen kommt es für Teile der Wählerschaft gar nicht mehr so weit, weil die Angebotspalette für bestimmte Wählergruppen unattraktiv und realitätsfern ist. Aber wenn das Wahlvolk zurücktritt, entsteht eine für die Demokratie bedrohliche Repräsentationslücke. An der Wahl führt also kein Weg vorbei.

Bild: Die Sendung mit der Maus

Auch bei verlässlichen Parteien hängt der Wahlerfolg von Mehrheiten ab. Was zu wenig Stimmen bekommt, schafft den Sprung nicht vom Wahl- zum Regierungsprogramm – oder nicht einmal ins Parlament. Das ist das Leid der kleinen Parteien unter fünf Prozent, dass die Wählerschaft befürchten muss, ihre Stimme zu vergeuden. Abgesehen davon, dass einige vielleicht ungern zu den Verliererinnen und Verlierern gehören möchten: auch beim Fussball macht die Anhängerschaft im Tabellenkeller auf Dauer wenig Freude. 

Mehrheiten haben Anziehungskraft. Der Hinweis „wird auch gerne genommen“ gehörte früher zum Standardprogramm des Verkaufspersonals, um Unentschlossene doch noch zu überzeugen, gleichsam als letzter Schub, als entscheidende Entscheidungshilfe. Der Onlinehandel hat den Satz als Algorithmus kultiviert und die Kundschaft geht ihm auf den Leim. Mit Wahlen hat das so wenig zu tun wie Persil mit Politik. Wir sollten uns mehr mit dem beschäftigen, was (noch) nicht gerne genommen wird.

1 Foerster, Heinz von (1992). Ethics and second order cybernetics. Cybernetics and Human Knowing, 1(1), p 9–20, p 14 doi: https://cepa.info/1742.

2 Foerster, Heinz von (1993). Wissen und Gewissen: Versuch einer Brücke. Frankfurt am M.: Suhrkamp, S. 49

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

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