„Alte weiße Männer“ (awM)

awM ist ein „Feindbild“, das (nicht nur) einige Feministinnen verwenden. Der Gebrauch dieses Bildes soll bewirken, dass dieser Typus von Mann etwas anerkennt: ihm stand sein starker Einfluss auf Institutionen und Ämtern nie wirklich zu.1
Ist dieses Feindbild geeignet, nicht-legitime Macht kritisch zu beleuchten? Trägt es – vielleicht sogar bei den awM selbst – dazu bei anzuerkennen, dass (zu viel) Macht in falschen Händen liegt? Was kann die Verwendung des awM-Bildes in der öffentlichen Kommunikation bewirken? Auf welche Erfahrungen lässt sich zurückgreifen?

Über das Verhältnis von Sprache und Realität ist schon alles gesagt und auch sein Gegenteil. Seit die Geistes- und Sozialwissenschaften Mitte des 20. Jahrhunderts ihre sprachkritische Wende (Linguistic Turn) vollzogen, wird der Sprache eine noch größere, (fast alles) entscheidende Bedeutung zuerkannt. Sprache bekommt beinahe den Charakter von Zaubersprüchen: Weil ich etwas ausspreche, verwandelt sich die Realität. Simsalabim, Abrakadabra oder das hex, hex der Bibi Blocksberg haben die magische Kraft, etwas herbeizuschaffen oder verschwinden zu lassen. Kirchliche Fluch- und Segenssprüche, die Negatives oder Positives bewirken (sollen), befinden sich ganz in der Nähe.
Dass ein Unwort des Jahres gekürt wird (siehe auch „Unworte und Undinge: Zu Gast in Teufelsküche“), dass landauf, landab Sprachpolizisten unterwegs sind, dass political correctness beim (Nicht-)Gebrauch bestimmter Wörter beginnt, das alles sind Hinweise auf die gesellschaftspolitische Relevanz der Sprache (siehe auch „Indianerhäuptling – ein schändlich diskriminierender Ausdruck?“). Treten die Auseinandersetzungen um den Sprachgebrauch an die Stelle der Konflikte um realexistierende Probleme, wie manche vermuten? bruchstücke setzt sich – beginnend mit diesem Beitrag über „Alte weiße Männer“ – in den kommenden Wochen immer wieder mit Begriffen und Formulierungen auseinander, gerade weil wir den Zusammenhang zwischen der Bedeutung von Zeichen und dem, was sie bezeichnen sollen, wichtig nehmen. Der gängigen Bedeutung von Begriffen andere Sinndimensionen entgegenzusetzen, selbstverständlichen Gebrauch in Frage zu stellen, kann zu Klärungen, vielleicht sogar zu Aufklärung beitragen. (at)

1 Im Jahr 1936 ließ Walter Benjamin unter dem Pseudonym Detlef Holz das Buch Deutsche Menschen im Schweizer Exil erscheinen. Es enthält 27 Briefe, die zwischen 1783 und 1883 – von männlichen Menschen – geschrieben wurden.2 Die Männer, die diese Briefe schrieben, waren damals mehrheitlich alt und weiß. Georg Christoph Lichtenberg war im Jahr 1783 40 Jahre alt, als er an Gottfried Hieronymus Amelung schrieb. Franz Overbeck verfasste seinen Brief im Alter von 46 Jahren 1883 an Friedrich Nietzsche. Gottfried Keller schrieb 60jährig im Jahr 1879 an Theodor Storm. Samuel Collenbusch war 71, als er 1795 an Immanuel Kant schrieb.

Der 40jährige Lichtenberg war nach heutigen Maßstäben nicht alt, aber damals wog dieses Alter deutlich höher als heute. Damals starben die Menschen früher, während sich heute viele einer besseren Gesundheit erfreuen. Außerdem wirken die Heutigen jünger. In unserer Gegenwart können 50-jährige Schauspieler*innen problemlos 30-jährige verkörpern – dies wäre noch in den 1940er Jahren, zu Zeiten einer Lauren Bacall und eines Humphrey Bogart, nicht möglich gewesen.

Für Theodor W. Adorno, der für Benjamins Briefbuch ein Nachwort beisteuerte, spielte das Alter der Briefautoren keine Rolle. Ihm war es wichtig, dass das Buch „gegen die Vernichtung des von den Nationalsozialisten vollends zur Ideologie erniedrigten deutschen Geist“ aufbegehrte – Betonung auf Geist, nicht auf deutsch. Die Briefe waren ausnahmslos asketisch, gesättigt „mit der Schwere der Stoffe“.

2 Dem Briefschreiber Lichtenberg war nicht nur die große Geste des Pathos fremd, sondern er ist bis auf den heutigen Tag für seine große Skepsis gegenüber der Physiognomik bekannt. Er fasste seine Begründung in folgende Worte: „Ich wollte hindern, dass man nicht zu Beförderung von Menschenliebe physiognomisierte, so wie man ehemals zur Beförderung der Liebe Gottes sengte und brennte; ich wollte Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstandes lehren, bei welchem Irrtum leichter ist und gefährlicher werden kann, als bei irgendeinem anderen, Religion ausgenommen.“

Lichtenberg wollte zeigen, dass man nicht immer „aus dem Äußern beurteilt, verleitet, noch nicht vom Leib auf ein Wesen schließen könne, dessen Verbindung mit ihm uns unbekannt ist, und überhaupt nicht auf den Menschen schließen kann.“ „Was für ein unermeßlicher Sprung von der Oberfläche des Leibes zum Innern der Seele! Hätten wir einen Sinn, die innere Beschaffenheit der Körper zu erkennen, so wäre jener Sprung immer noch gewagt“.3

3 Lichtenbergs Kritik trifft auch das awM-Bild. Es arbeitet mit entsprechenden „Zeichen an der Stirn, die man deuten will, jemals waren es Zeichen am Himmel.“ Es lenkt die Aufmerksamkeit dieser Spielart des Feminismus auf Sichtbarkeit.4 Dies ist eine schnelle situative Methode, geeignet „für die fähigen Köpfe, für leichtfassende, praktische Menschen, die, mit einer gewissen Gewandtheit ausgestattet, ihre Superiorität über die Menge fühlen, wenn sie gleich selbst nicht zum Höchsten begabt sind“.5 Wer schnell Bescheid weiß, woran sie oder er ist, braucht den Umweg über die Reflexion nicht zu machen.

Lichtenbergs hätte wohl dagegen gehalten und das „Recht auf Opazität des Leibes“6 verteidigt. [Opazität meint das Gegenteil von Transparenz.] Und dies mit gutem Recht. Es ist nicht ungefährlich, wenn eine politische Gruppe eine andere so konstruiert, dass sie ganz spezielle körperliche und spirituelle Merkmale hat, an denen sie zu identifizieren ist. Für die Engländer der Kolonialzeit war dies sehr leicht, denn Afrikas sogenannte Eingeborene waren schwarz oder braun.

awM ist eines dieser Fabrikate menschlicher Vorstellungen. awM sind mit einem Blick zu erkennen. Darauf beruht die kommunikative Effizienz. Ähnlich ist George Grosz bei einigen seiner Werke vorgegangen, z.B. den Stützen der Gesellschaft von 1926. Der Kapitalist war immer dick, er hatte ein barbarisches Gesicht und eine große Zigarre und war aufgrund seiner körperlichen Merkmale als Angehöriger einer besonderen Klasse schnell ausgemacht.7

4 Die Folgen solcher merkmalsbezogener pejorativer Konstruktionen von Sichtbarkeit seien an drei Beispielen erläutert.

Lichtenberg war ein chronisch kranker Mann und hatte einen Buckel. Die Angriffe gegen ihn bedienten sich einer primitiven Semiotik. Allen voran tat sich Lavaters Mitstreiter, der Arzt Johann Georg Zimmermann, mit ekligen Ausfällen und der Aufforderung hervor, Lichtenberg möge dem johlenden Publikum doch einen Schattenriß seiner selbst präsentieren.8 Walter Benjamin hat die Mischung aus barbarischer Heiterkeit, und Brutalität, die diese Denkfigur steuert, lakonisch verdeutlich: „Ja, meine Herren, dass ein Buckliger auf die Physiognomik nicht gut zu sprechen ist, das können sie sich ja wohl leicht erklären.“ (Hörmodelle) „Hüte dich vor den Nicht-Gezeichneten“, repliziert Lichtenberg. (Über Physiognomik)

In Dennis Hoppers Film Easy rider von 1969 betreten drei außergewöhnliche Typen ein einfaches Restaurant irgendwo in Louisiana, das der Ortschaft auch als Treffpunkt dient. Zwei sind langhaarig und tragen Bikeroutfits (Peter Fonda, Dennis Hopper), der dritte (Jack Nicholson) ist ein Rechtsanwalt in einem weißen Anzug und mit einem Motorradhelm. Eine Gruppe junger Mädchen ist von diesen exotischen Gestalten fasziniert, die Männer des Ortes hingegen, darunter auch ein Polizist, sind voller Ablehnung und Hass gegen die drei vermeintlichen Hippies. Diese bemerken die zunehmende gegen sie gerichtete Aggressivität und entscheiden, das Lokal und die Ortschaft zu verlassen. Außerhalb der Stadt verbringen sie die Nacht an einem Lagerfeuer. Am anderen Morgen ist der Mann im weißen Anzug tot.

In den späten 70er Jahren waren es die Anzüge und Kostüme von Professor*innen, die das Mißtrauen militanter Student*innen an geisteswissenschaftlichen Fachbereichen der Freien Universität Berlin erregten. Sie galten als „bürgerlich“, „politisch konservativ“ oder „reaktionär“. Und wenn sie einen „Klassiker“ wie Karl Marx nicht von einem „emanzipatorischen Standpunkt“ aus interpretierten, Stand das Urteil über sie fest. So geschah, dass einige dieser Studierenden vor den Hörsälen und Seminarräumen Sitzstreiks durchführten, um die sehr korrekt gekleideten Professor*innen und ihre Zuhörer*innen am Betreten der Räume und an ihrer Arbeit zu hindern.

5 Auch die drei-Faktoren-Kombination awM beruht auf Sichtbarkeit und setzt den Verdacht von selbstgefälliger Haltung, Arroganz und fehlendem Unrechtsbewusstsein frei. Sie räumt dem Fremden und Unbekannten keinen Kredit ein. Und zwar auf eine Art, die „radikal“, „unbequem, anstrengend, omnipräsent und lästig“ sein muss. Die äußeren Merkmale schaffen dafür schnelle Orientierung. Oder doch nicht ganz. Denn: „Nicht jeder Mann, der alt und auch weiß ist, gehört automatisch zum Feindbild „alter weißer Mann“. Es gibt Männer, bei denen ist völlig klar, dass sie niemals Gefahr laufen, ein alter weißer Mann zu werden, weil sie sich und ihrer Umwelt mit Respekt, Humor und Aufmerksamkeit begegnen.9

Der awM bleibt eine vage Idee, eine diffuse Ahnung und ein zwischenmenschliches Gefühl, ist „Zeichen an der Stirn, die man deuten will“. Mehr Klarheit würde es bringen, genau zu beobachten, ob es Männer sind, die den Wandel, für den andere mühsam kämpfen, verhindern und ob sie die gesellschaftliche Ungleichheit und die ungerechte Verteilung von Chancen zwischen Mann und Frau anerkennen. Also die „Behutsamkeit bei Untersuchung eines Gegenstandes“. Dafür braucht es kein Feindbild awM.


1  Sophie Passmann, Alte Weisse Männer, Ein Schlichtungsversuch, Kiepenheuer & Witsch 2019, S.10f 2 Walter Benjamin, Deutsche Menschen, Bibliothek Suhrkamp, Frankfurt 1977 (1972) 3 Georg Christoph Lichtenberg, Über Physiognomik; wider die Physiognomien, Einleitung zur zweiten Auflage (1778), S. 79f, zit. nach Georg Christoph Lichtenberg, Aufsätze Satirische Schriften, Insel Verlag Frankfurt am Main 1983 4 Hans Blumenberg, Beschreibung des Menschen, Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 2006, S.788, 802f 5Johann Wolfgang Goethe im Alter von sechsundsiebzig Jahren an Carl Friedrich Zelter 6 Blumenberg (2006, 802) 7 Vgl. Agnes Heller, Die neue Völkerwanderung, in: Neue Gesellschaft / Frankfurter Hefte, Nummer 9, 1993, Seite 782 ff. 8Silvia Bovenschen, Lichtenbergs Buckel, in: dies., Über-Empfindlichkeit, Suhrkamp Taschenbuch, Frankfurt a.M. 2007, S.60f 9 Vgl. Passmann (2019, S.10, 299f)

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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