„Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten“

Ein Lächeln für Ukraine, von Beskiden bis zum Dnjepr, 25. Jahrestag der Unabhängigkeit der Ukraine, Ukrainische Kulturtage in Bielitz, 13. August 2016 (Foto: Silar auf wikimedia commons

Mittwoch, 23. März 2022. Auch wenn man es sich von außen schwer vorstellen kann, geht das Leben bei uns irgendwie weiter. Die Menschen nicht nur in Kyjiw* gehen ihrer Arbeit nach, die meisten wie mein Mann und ich im Moment wegen der Bomben- und Raketenangriffe und der Gefechte von zuhause aus. In den vergangenen Tagen habe ich öfter Schüsse gehört, nicht von Maschinengewehren oder schweren Waffen, eher vereinzelt. Hier in der Nähe sind Parks und Wälder, vielleicht treiben sich da russische Soldaten und verdeckte russische Kämpfer herum.

Die Menschen, die in Fabriken arbeiten, fahren dorthin, wann immer es geht. Es müssen ja weiter die Dinge hergestellt werden, die wir brauchen, nicht nur Lebensmittel, sondern auch für ausländische Firmen und die deutsche Autoindustrie, damit wir Devisen bekommen, um uns verteidigen zu können. Und die Menschen müssen ja auch Geld verdienen. Manchmal gibt es Lieferprobleme. Vor ein paar Tagen brauchten wir bestimmte Stifte für meine Tochter. Normalerweise dauert es zwei Tage, jetzt hat es eine Woche gedauert.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven.
Das erste Gespräch hat den Titel „Die Sirenen heulen meist nur nachts„, das zweite „Wir beten jetzt alle„.

Ab Sonnenuntergang müssen alle zuhause bleiben. Es gilt eine nächtliche Ausgangssperre, aus Sicherheitsgründen und damit unsere Polizei und unsere Sicherheitskräfte gegen Eindringlinge und Saboteure vorgehen und sie ausschalten können.

Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten, von allen Sendern zusammen, damit die Menschen das Geschehen aus ukrainischer Sicht sehen, um der gegnerischen Sicht und Propaganda entgegenzuwirken. Wenn ich mal entspannen will, höre ich Musik im Radio, lese oder schaue Filme. Aber in den vergangenen Wochen kann ich mich an solche Momente kaum erinnern.

Wir kommen auch fast nicht mehr dazu, als Familie gemeinsam zu essen. Mit meiner Tochter esse ich abends früher. Mein Mann erst spät, wenn er seine Arbeit für sein Ministerium beendet hat. In den vergangenen zwei Wochen hat ein Kollege von ihm mit einem Hund bei uns gewohnt, weil seine Wohnung in einer gefährdeten Zone liegt. Seine Frau und seine beiden Töchter haben Kyjiw schon früher verlassen, sie sind mit seinen Eltern nun in Deutschland. Den Hund hatte seine Großmutter in ihrer Wohnung vergessen, als sie von dort fliehen musste. Er ist dorthin gefahren und hat Polizisten oder Soldaten gebeten, ihn aus dem Haus zu retten. Inzwischen haben er und der Hund eine andere Bleibe gefunden.

Meine Eltern leben im Norden, nahe der Grenze zu Belarus. Die Gegend ist Gott sei Dank noch frei und nicht von Russen erobert. Die belarussischen Soldaten haben beschlossen, nicht gegen uns zu kämpfen. Bis zum Krieg kamen viele Belarussen in die kleinen Stadt meiner Eltern, wo ich und meine Schwester, die seit dem ersten russischen Krieg gegen uns seit 2014 in Hamburg mit ihrem kleinen Sohn und ihren Mann lebt, aufgewachsen sind, um dort auf dem Markt und in den Apotheken einzukaufen, weil Lebensmittel und Medikamente bei uns billiger waren als in ihrem Land. Es war ein normales Leben beiderseits der Grenze.

Für meine Eltern und meine Schwiegermutter ist es eine schwierige Situation, auch weil sie in der UdSSR aufgewachsen sind. Sie haben dieselben Bücher gelesen und dieselbe Musik gehört wie Russen und Belarussen. Die Generäle der russischen Armee sind im gleichen Alter wie sie. Wie können sie jetzt Krieg gegen uns führen?

Im Moment kann ich meine Eltern nicht besuchen. Ich müsste durch Gegenden fahren, die von der russischen Armee besetzt sind. Vor einigen Tagen habe ich mit Kollegen darüber gechattet, was wir am ersten Tag nach dem Krieg tun werden. Ich werde mit meiner Tochter zu meinen Eltern fahren und sie in die Arme schließen.

Wir alle hoffen und beten, dass die Kämpfe bald vorbei sind. Die Ukraine ist erst seit 1991 eine unabhängige Nation. Die Bürger der baltischen Staaten haben damals eine riesige Menschenschlange gebildet, von Tallin bis Riga und Vilnius, gegen die russischen Besatzer. Ich habe dieser Tage wieder ein Video davon gesehen. Auch die ukrainische Frage wurde damals entschieden. Es war eine friedliche Zeit, wir haben alle gemeinsam gezeigt, dass wir unabhängig sein können. So wie es jetzt die Bürger von Cherson tun, das von Russen besetzt ist. Freiheit und Unabhängigkeit sind stärker als die Gewalt.

*Es wird ab jetzt auf Wunsch von Natalia P. die ukrainische Schreibweise Kyjiw für die ukrainische Hauptstadt benutzt, weil „Kiew“ die russische Transkription ist.

Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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