„Wie können Menschen so etwas Unmenschliches tun?“  

Bild: Микола Василечкоauf wikimedia commons

Die letzten Tage waren für uns ein Wechselbad von Erleichterung und Schrecken. Für uns in Kyjiw hat sich die Situation entspannt, nachdem die russischen Truppen sich zurückgezogen haben und von unsere Armee zurückgedrängt wurden. Es ist jetzt ruhiger, es gibt kaum noch Luftalarm. Meine Schwiegermutter, die in der Nähe wohnt, hat von ihrer Wohnung aus einen anderen Blick auf die Stadt. Sie hat mehrfach gesehen, dass unser Abwehrsystem anfliegende russische Raketen zerstört hat. Die machen einen guten Job. Das ist beruhigend. Aber dann kamen die furchtbaren Nachrichten und Bilder aus Butscha.Wir haben Freunde dort. Bis zum Krieg haben wir sie oft besucht.

Butscha war eine schöne Stadt, mit kleinen Häusern, ungefähr 30 oder 40 Minuten mit dem Auto von uns entfernt. Die Freunde haben ein Haus, wie viele dort. Gottseidank haben sie es rechtzeitig verlassen. Sie wohnen jetzt bei ihren Eltern. Aber ich kann mir nicht vorstellen, wie Menschen nach diesen schrecklichen Ereignissen noch in Butscha leben können. Die Freunde haben zwei kleine Kinder. Ich habe mich bisher nicht getraut, sie anzurufen, weil ich Angst davor habe, wie die Lage für sie ist.

Das, was die russische Armee in Butscha wie in anderen unserer Städte und Dörfer angerichtet hat und anrichtet, hat mit Zivilisation nichts mehr zu tun. Es ist für mich auch deshalb so schockierend, weil die Russen ja eigentlich Kyjiw erobern wollten. Diese Menschen sind also nur deshalb gestorben. Ich will mir nicht ausmalen, was die russischen Soldaten uns, meiner Tochter, meinem Mann, mir und all den anderen angetan hätten, wenn sie in unsere Stadt vorgedrungen wären. Ich habe keine Idee, wie wir damit und mit Russen in Zukunft leben sollen.

Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew/ Kyjiw. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven.
Das erste Gespräch hat den Titel “Die Sirenen heulen meist nur nachts“, das zweite “Wir beten jetzt alle“, das dritte “Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten“, das vierte “Wir planen schon den Wiederaufbau der Ukraine“.

Meine Schwiegermutter ist russischsprachig, wie mein Mann. In meiner Kindheit habe ich viel russische Literatur und russische Schriftsteller gelesen, weil es in unseren Büchereien wenig ukrainische Bücher gab. Wie können Menschen, die wie ich Dostojewski und Tolstoi gelesen haben, so etwas Unmenschliches tun? Zum Glück spricht mein Mann sehr gut Ukrainisch. Ich habe ihn gebeten, auch mit unserer Tochter nur Ukrainisch zu reden.

Gottseidank sind bisher keine Verwandte oder Freunde von mir getötet worden. Ich denke allerdings die ganze Zeit an eine Kollegin von mir. Ihr Sohn studiert an der Kyjiwer Universität Militärkunde. Wir sprachen zwei Tage vor Kriegsbeginn darüber. Ich kann mich noch genau an ihren Gesichtsausdruck erinnern. Ich merkte, dass sie sich nicht nur als Ukrainerin fühlte, sondern als Mutter eines Sohnes, der auf militärische Spezialoperationen vorbereitet wurde. Er durfte darüber mit seinen Eltern nicht sprechen. Sie hat gesagt, dass sie mich anrufen würde, aber sie hat sich nicht gemeldet. Deshalb weiß ich nicht, wie es ihr, ihrer Familien und dem Sohn geht.

In den ersten zwei Wochen des Kriegs habe ich, wenn ich nicht schlafen konnte, oft gedacht und mit meinem Mann am anderen Morgen darüber gesprochen, dass Putin auf ukrainischen Boden einen Krieg gegen die Nato führen wollte. Dann wäre es leichter für ihn gewesen, die eigenen Verluste zu erklären. Aber nachdem seine Armee so viele ukrainische Zivilisten umgebracht hat, Babys, Kinder, Frauen, Männer, alte Menschen, ist klar, was seine wirklichen Absichten sind. Er will die Ukraine und uns Ukrainer auslöschen. Wir kämpfen dagegen alleine. Die Länder im Westen nehmen unsere Flüchtlinge auf und helfen ihnen. Das ist gut. Aber sie greifen nicht militärisch ein, sie geben uns nicht die Waffen, die wir brauchen, um uns zu verteidigen. Im Gegenteil haben europäische Firmen Waffen an Russland verkauft, mit denen russische Soldaten jetzt gegen uns kämpfen. Die europäischen Führer tragen Schuld, dass sie das nicht verhindert haben und dass sie weiterhin russisches Öl und Gas importieren, so dass Putin seinen Krieg gegen uns weiter finanzieren kann.

Nach Butscha, nach Mariuopol, nach Charkiw kann es nur noch darum gehen, dass wir den Krieg gewinnen. Die allermeisten Ukrainer wollen das. So viele Menschen sind schon dafür gestorben. Wir müssen diese Kriegsverbrechen beenden. Das Regime in Moskau muss verschwinden. Für sie ist es normal, Regionen und andere Länder zu erobern. Die einzige Chance dagegen ist, eigene unabhängige freie Staaten zu bilden.

Die Russische Föderation besteht aus verschiedenen Völkern. Hier in der Ukraine kämpfen Leute aus Tschetschenien, aus Dagestan, aus anderen Gebieten, aus Syrien, aus Moskau und St. Petersburg. Sie werden alle von Putins Propaganda zusammengehalten. Deshalb müssen wir unser Land nun endgültig ukrainisieren.

Mein Mann ist hoffnungsvoller als ich, dass wir den Sieg erringen. Normalerweise malt meine Mutter, wie auch meine Tochter. Aber jetzt sagt sie, dass sie das nicht mehr kann. Stattdessen male ich in diesen Kriegstagen, um meine Hoffnung auf die Zukunft auszudrücken.

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Ludwig Greven
Ludwig Greven (lug) ist Journalist, Publizist, Kolumnist, Buchautor und Dozent für politischen und investigativen Journalismus. Er schreibt regelmäßig für die christliche Zeitschrift Publik Forum und Politik & Kultur, die Zeitung des Deutschen Kulturrats, Spiegel, Stern, Cicero u .a. Medien sowie NGOs wie das Zentrum für liberale Moderne.

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