Freiheit nicht gegen, sondern aus Vernunft  

Im Jahr 2020 jährte sich der Geburtstag des Philosophen Georg Friedrich Wilhelm Hegel zum 250. Mal. Anlass für eine Welle von Veranstaltungen und Büchern zu Hegel, neue Biographien, philosophische Standortbestimmung, aber auch viele Versuche, die Aktualität dieses neben Immanuel Kant bedeutendsten Vertreters des deutschen Idealismus und seiner Philosophie für das Verständnis der Gegenwart und ihrer Probleme neu zu bestimmen. Der Philosoph Alexander Schubert legt mit klugem Abstand zum Hype des Jubiläumsjahrs einen schmalen, aber interessanten und gut lesbaren Band zu Hegel vor, der die Aktualität des hegelschen Denkens in einer ebenso fundierten wie originellen Weise deutlich macht.

Das komplexe und keineswegs leicht zugängliche Werk Hegels hat bekanntlich sehr unterschiedliche Interpretationen ausgelöst. Für die einen war er ein dunkler Denker, der seine Leser mit intellektuellen Vexierspielen verwirrte und so letzten Endes dem Irrationalismus in der Moderne den Weg bahnte, für die anderen war er der preußische Staatsphilosoph, der den Staat an die Stelle Gottes rückte und damit gerade das Gegenteil einer offenen und demokratischen Gesellschaft als Ziel der Geschichte beschwor. Schließlich wurde Hegel zu seinem 250. Geburtstag auch als der große Philosoph der Freiheit gewürdigt, der mit seinem Denken modellhaft gezeigt hat, wie dogmatische Verhärtungen aufgelöst werden und eine Freiheit gedacht werden können, die sich nicht gegen, sondern aus Vernunft begründet.

Wofür steht der Zeitgeist?

Genau darin könnte auch die Aktualität Hegels liegen. Denn nicht nur die Freiheit ist, wie man fast täglich in den Medien verfolgen kann, weltweit bedroht, auch Vernunft und Rationalität scheinen es zunehmend schwer zu haben. Der Zeitgeist steht, so scheint es zumindest, nicht für gründliches und kritisches Nachdenken, sondern für das schnelle Urteil, sich überbietende Moralverdikte und eine sich als Vielfalt verkleidende Beliebigkeit, wo jeder seine Wahrheit hat und dafür unbedingten Respekt einfordert.

Alexander Schubert ist kein akademischer Philosoph, sondern, wenn man so will, Privatgelehrter. Er hatte Mitte der achtziger Jahre eine Dissertation zum „Strukturbegriff in Hegels Wissenschaft der Logik“ vorgelegt. Seither war er zumindest auf dem philosophischen Publikationsmarkt verstummt. Er machte eine Karriere als Unternehmensberater und Dozent und kehrt jetzt in späten Jahren wieder zu Hegel zurück. Und zwar mit einer spannenden Publikation durchaus auf der Höhe der aktuellen philosophischen Debatte.

Der Titel des Bändchens lässt leichte Ironie durchschimmern. Einen philosophischen Wegweiser durchs noch recht lange 21. Jahrhundert auf gerade mal etwas mehr als hundert Seiten – das hatte man noch nicht. Im Text selbst geht es aber durchaus ernsthaft zu. Teilweise wird ein wissenschaftlicher Duktus gepflegt, teils sind es eher lose miteinander verbundene essayistische Betrachtungen zu verschiedenen Erscheinungsformen des „Zeitgeistes“, denen sich Schubert mit hegelschen Kategorien nähert.
Systematisch bezieht sich Schubert auf die „Phänomenologie des Geistes“, dem frühesten von Hegels Hauptwerken, einem auch unter seinen ohnehin nicht einfach zu lesenden Schriften besonders schwer zugänglichen Werk. Es gilt als dunkles Buch, in dem Hegel auf jeder Seite erkennbar um einen angemessenen Ausdruck des Denkens ringt. Man muss sich bei der Lektüre auf seine besondere Methode der Dialektik einlassen, einem nicht-linearen Denken, das auf eindeutige Definitionen verzichtet, Begriffe immer wieder in neuem Licht erscheinen und in kreisenden Bewegungen in andere Begriffe übergehen lässt.

Die emanzipatorische Pointe

Aus der „Phänomenologie“ ist vielen die Parabel von Herr und Knecht bekannt, mit der Hegel beschreibt, wie in einem Kampf um Leben und Tod, der schließlich dadurch beendet wird, dass der Knecht den Herrn anerkennt und sich in seinen Dienst stellt, Identität und Selbstbewusstsein entstehen. Der Knecht arbeitet, der Herr genießt. Der Herr scheint derjenige zu sein, der die Freiheit gewonnen hat. Die emanzipatorische Pointe kommt aber erst danach. Durch die Arbeit nämlich, in der sich der Knecht die Natur aneignet, erringt er die wahre Freiheit, die ihn letzten Endes als Sieger vom Platz gehen lässt. Unschwer zu erkennen ist darin der historische Prozess der Emanzipation des Bürgertums von der feudalen Herrschaft. Für den Hegel der „Phänomenologie“ ist die Arbeit also nicht nur Fron und Mühe, sondern in ihr liegt das Potential zur Verwirklichung der Freiheit. Wie Alexander Schubert schön zeigt, war Hegel hier eigentlich weiter als der viel spätere Marx, der die Sphäre der Arbeit nur als „Reich der Notwendigkeit“ verstand und das „Reich der Freiheit“ jenseits der Arbeitssphäre ansiedelte. Hegel dagegen zeigt, dass es nicht formale Rechte allein sind, die den Knecht schließlich emanzipieren, sondern die Erfahrung der Arbeit, das in ihr gewonnene Wissen und die Selbstverwirklichung im Produkt seiner Arbeit. Allen Verfechtern des „bedingungslosen Grundeinkommens“ ohne Arbeit sollten dabei eigentlich die Ohren klingeln. Diese Konzepte führen eben nicht in die Freiheit, sondern in Abhängigkeit und Entfremdung.

Hegels Grab in Berlin, Dorotheenstädtischer Friedhof (Foto: Daderot auf wikimedia commons)

Schubert findet in seiner Lektüre der „Phänomenologie“ immer wieder interessante Verknüpfungen von Hegels Denkfiguren zu aktuellen Debatten. Das Beharren auf einer unvermittelten Subjektivität und das Absolutsetzen von Empfindungen und Befindlichkeiten, wie sie die gegenwärtige Identitätspolitik mit ihren Wirrungen von Gendertheorie, Postkolonialismus und „Critical Race Theory“ kennzeichnet, würde dem Vernunftanspruch Hegels sicher ebenso wenig gerecht werden, wie die eigentümliche Melange von irrationaler Angstkommunikation und naiver Wissenschaftsgläubigkeit, die sich nicht nur in der aktuellen Diskussion um den richtigen Umgang mit der Corona-Pandemie, sondern auch in der Klima-Diskussion immer mehr ausbreitet.

Hegels Denken könnte also durchaus ein probates Gegenmittel sein zu vielen dieser ebenso lautstarken wie gedanklich schlichten Positionen im Zeitgeistpanorama. Es könnte sensibel machen für die Fallen der Moralisierung des politischen Diskurses und des Denkens in einfachen Gegensätzen. Dialektik ist, das kann man in Schuberts Band lernen, ein Denken, dem es gelingt die Einheit von Identität und Nicht-Identität zu fassen. Identität ist ohne das Moment des Nicht-Identischen gar nicht möglich. Damit war Hegel ganz offenkundig schon vor mehr als zweihundert Jahren vielen heute hoch gehandelten Positionen weit voraus.

Selbstreflexion des Wissens als Tiefenbohrung

Spannend ist Schuberts dankenswert vorsichtig vorgetragene Interpretation des Begriffs des „absoluten Wissens“. Mit dem „absoluten Wissen“ schließt in Hegels Buch der Weg des Geistes durch seine verschiedenen Erscheinungsformen ab. Man hat dies oft so interpretiert, dass mit diesem Wissen ein Endpunkt erreicht ist, in dem die Widersprüche und Konflikte in der Entwicklung des Geistes aufgehoben sind und zum Stillstand kommen. In der Lesart Schuberts ist dies jedoch kein Wissen am Ende allen Wissens, sondern die Selbstreflexion des Wissens, ein Wissen um das menschliche Wissen, seine Perspektivität, Standortgebundenheit und unabschließbare Kontingenz im Lichte anderen Wissens aus anderer Perspektive oder zu anderer Zeit.
So gesehen erscheine es als Vorgriff auf das Wissen in der digitalisierten Welt. Wissen wird von einem festen Bestand zu einem Verweisungszusammenhang, in dem alles mit allem zusammenhängt, gleichsam mit Hyperlinks verbunden ist und sich ständig verändert. Schubert versucht damit eine durchaus originelle Interpretation der „Phänomenologie des Geistes“, die er nicht in erster Linie als Entwicklungslogik des Geistes in der Geschichte liest, vom einfachen Hier und Jetzt der „sinnlichen Gewissheit“ über eine aufsteigende Abfolge von Stufen geistiger Entwicklung hin zur ausgebildeten und sich selbst gewissen Vernunft im „absoluten Wissen“. Es sei eher eine Art „Tiefenbohrung“, die Schritt für Schritt all die Elemente hervorholt und analysiert, die einen vernünftigen, sich und andere erkennenden Geist ausmachen. Hier sieht Schubert Parallelen sowohl zur Psychoanalyse als auch zum strukturalistischen Denken.

Der Autor erschließt die Gedankenwelt der „Phänomenologie“ klar und gut nachvollziehbar, so dass sein Buch auch all denjenigen als anregende Lektüre empfohlen werden kann, die sich noch nicht intensiver mit Hegels Denken beschäftigt haben. Anregend sind seine Betrachtungen zu den Erscheinungsformen des „Zeitgeistes“ und aktueller gesellschaftlicher Fragen, zu den Debatten um Identität und Identitätspolitik, zu künstlicher Intelligenz und den heute fast schon überpräsenten Fragen von „Geschlechtergerechtigkeit“, „Rassismus“ und „Sexismus“.

Schubert hat zu diesen Phänomenen eine erfrischend kritische Distanz, aber er schlägt nicht alles über einen kulturpessimistischen Leisten. Die „Black-Lives-Matter“-Bewegung etwa sieht er als berechtigten Ausdruck eines langen und nach wie vor notwendigen Kampfes gegen Rassismus. Er versucht dabei auch, die bekannt problematischen Einlassungen Hegels zur Sklaverei zu erläutern. Hegel war kein Befürworter der Sklaverei. Aber er sah sie als einen Weg, das Licht der Aufklärung auch zu den „primitiven“ Völkern zu tragen. Das würde heute sicher niemand mehr unterschreiben. Aber es zeigt sich doch hier wieder die eigentümliche Denkweise Hegels, auch in abscheulichen Erscheinungen latente Potentiale von Fortschritt und Vernunft zu suchen.

Gedenktafel auf dem Berliner Gendarmenmarkt (Foto: OTFW auf wikimedia commons)

Disput statt Kommunikation der Einverstandenen

Bei der „Me-Too“-Bewegung und den „Fridays for Future“ sieht Schubert dagegen vor allem neurotische Übertreibungen und hysterische Phobien mit letztlich vernunft- und freiheitsfeindlichem Potential. Wem die gegenwärtige Erregungskultur auf den Wecker geht, wird sich in vielen zugespitzten Formulierungen Schuberts wohl wiederfinden. Wer sich den Anliegen dieser Bewegungen verpflichtet fühlt, wird sich mehr Abwägung und vielleicht auch mehr dialektische Reflexion wünschen. Ob man sich in Deutschland, wie Schubert mit Peter Sloterdijk meint, auf dem Weg in eine „Phobokratie“ befindet, müsste man ausführlicher diskutieren. Aber es wäre wahrscheinlich im Sinne Hegels, den Weg zur Wahrheit nicht über das gläubige Einverständnis, sondern über den Disput und die Kunst des Gegen-den-Strich-Bürstens zu suchen.

Dialektisches Denken ist also neu zu entdecken. In der Sehnsucht nach Gewissheiten und festen Überzeugungen liegt eine Gefahr für die Freiheit, ob im Gewande eines unerbittlichen moralischen Tugendbewusstseins, als Szientismus neuen Typs mit der Forderung „Folgt den Wissenschaften!“ oder als Identitätspolitik linker und rechter Prägung. Mit einem neuen Blick auf Hegel könnte man sich davor ein wenig schützen.

Schubert plädiert in diesem Sinne für einen „dialektischen Skeptizismus“. Wie man in der inzwischen schon langen Geschichte der Rezeption und des Wirkens der Philosophie Hegels sehen kann, musste jede Generation einen neuen Anlauf nehmen, um das große Werk dieses Denkers zu erschließen und mit den Fragen ihrer eigenen Zeit zu verknüpfen. Der Generation von Klimaaktivisten, „Woke“-Bewegung und naivem Technikoptimismus steht diese Aufgabe wohl noch bevor. Ein Blick in den schmalen Band von Schubert könnte dabei Hilfestellung leisten.

Alexander Schubert: Phänomenologie des Zeitgeistes. Mit Hegel durchs 21. Jahrhundert. Passagen Verlag, Wien 2022. 136 Seiten, 17 €

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Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er für die Stadt Offenbach an einem Datenmonitoring zur Corona-Pandemie. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

1 Kommentar

  1. Hegel sah Napoleon am 13. Oktober 1806, einen Tag vor der Schlacht bei Jena, in Jena durch die Stadt reiten und schrieb noch am selben Tag an seinen Bamberger Freund Niethammer von der “wunderbare(n) Empfindung”, den Kaiser, “den es nicht möglich ist, nicht zu bewundern”, “diese Weltseele”, “auf einem Pferde sitzend” zu sehen. Was hätte er von Putin gedacht, wenn er diesen mit nacktem Oberkörper über die Taiga hätte reiten sehen?

    Über heroische große Männer noch dieses Hegel-Fragment:

    „Dies sind die großen Menschen in der Geschichte, deren eigne partikulare Zwecke das Substantielle enthalten, welches Wille des Weltgeistes ist. Sie sind insofern Heroen zu nennen, als sie ihre Zwecke und ihren Beruf nicht bloß aus dem ruhigen, angeordneten, durch das bestehende System geheiligten Lauf der Dinge geschöpft haben, sondern aus einer Quelle, deren Inhalt verborgen und nicht zu einem gegenwärtigen Dasein gediehen ist, aus dem innern Geiste, der noch unterirdisch ist, der an die Außenwelt wie an die Schale pocht und sie sprengt, weil er ein andrer Kern als der Kern dieser Schale ist, – die also aus sich zu schöpfen scheinen, und deren Taten einen Zustand und Weltverhältnisse hervorgebracht haben, welche nur ihre Sache und ihr Werk zu sein scheinen. Solche Individuen hatten in diesen ihren Zwecken nicht das Bewußtsein der Idee überhaupt, sondern sie waren praktische und politische Menschen. Aber zugleich waren sie denkende, die die Einsicht hatten von dem, was not und was an der Zeit ist. Das ist eben die Wahrheit ihrer Zeit und ihrer Welt, sozusagen die nächste Gattung, die im Innern bereits vorhanden war. Ihre Sache war es, dies Allgemeine, die notwendige, nächste Stufe ihrer Welt zu wissen, diese sich zum Zwecke zu machen und ihre Energie in dieselbe zu legen. Die welthistorischen Menschen, die Heroen einer Zeit, sind darum als die Einsichtigen anzuerkennen; ihre Handlungen, ihre Reden sind das Beste der Zeit. Große Menschen haben gewollt, um sich zu befriedigen, nicht um andre. Was sie von andern erfahren hätten an wohlgemeinten Absichten und Ratschlägen, das wäre vielmehr das Borniertere und Schiefere gewesen, denn sie sind die, die es am besten verstanden haben, und von denen es dann vielmehr alle gelernt und gut gefunden oder sich wenigstens darin gefügt haben. Denn der weitergeschrittene Geist ist die innerliche Seele aller Individuen, aber die bewußtlose Innerlichkeit, welche ihnen die großen Männer zum Bewußtsein bringen. Deshalb folgen die andern diesen Seelenführern, denn sie fühlen die unwiderstehliche Gewalt ihres eignen inneren Geistes, der ihnen entgegentritt.“ Hegel: Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte. Einleitung. Reclam Verlag 1924, S. 16 f.

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