3. Mai 2022. In der jetzigen Phase arbeite ich sehr viel. Ich bin den ganzen Tag im Ministerium und sitze meist abends noch bis spät vor dem Computer. Bis zum Krieg war es für mich und meinen Mann, der im Umweltministerium Staatssekretär ist, mit unserer Tochter ok. Aber nun sind wir in einer neuen Realität. Mein Ministerium ist dafür verantwortlich, alle Ukrainer mit Häusern und Wohnungen zu versorgen. Das ist im Moment extrem schwierig. Wir haben Gebiete, die besetzt sind. In anderen wird gekämpft, manche sind schon befreit.
Wir haben keinen Überblick, wie viele Häuser im ganzen Land bereits zerstört wurden. Alleine in Kyjiw und Umgebung sind es mindestens 3.000. Als UN-Generalsekretär Guterres vergangene Woche in unserer Hauptstadt war, hat die russische Armee hier gezielt zivile Häuser mit Raketen angegriffen, dabei starb auch ein Journalist. Wir müssen sehr viel regeln und organisieren, um den Wiederaufbau vorzubereiten und diejenigen unterzubringen, die keine Wohnung mehr haben und obdachlos sind. Im Osten und Süden können wir die Situation zur Zeit nur beobachten.
Wir versuchen im Kontakt mit internationalen Organisationen erst mal mobile Unterkünfte für die Menschen zu beschaffen, die durch die Bombardierungen ihre Häuser und Wohnungen verloren haben. Da ich gut Englisch spreche, ist meine Aufgabe, dafür Dokumente zu erstellen und zu übersetzen. Einige der Häuser wird man wahrscheinlich wieder aufbauen können, viele werden wir neu bauen müssen. Das wird eine gewaltige Aufgabe nicht für fünf, sondern viele Jahre werden, wenn der Krieg vorbei ist.
Natalia lebt mit ihrer neunjährigen Tochter und ihrem Mann am Rande von Kiew/ Kyjiw. Beide arbeiten für die Regierung. Über ihren Kriegsalltag berichtet sie in Skype-Gesprächen mit Ludwig Greven. Das erste Gespräch hat den Titel “Die Sirenen heulen meist nur nachts“, die weiteren “Wir beten jetzt alle“, “Im Fernsehen laufen nur noch Nachrichten“, “Wir planen schon den Wiederaufbau der Ukraine“, “Wie können Menschen so etwas Unmenschliches tun?“, “Das quirlige Leben dieser wunderbaren Stadt fehlt“, „Warum hilft uns Deutschland nicht zu 100 Prozent?„
Was habt Ihr in der Ukraine und den anderen Ländern gemacht?
Die russische Bevölkerung zahlt wie wir Steuern. Aber diese Gelder werden nicht genutzt, um Häuser und Wohnungen in ihrem Land zu bauen, sondern Raketen und Bomben, um unsere Häuser zu vernichten, Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser, die Infrastruktur, unser ganzes Land. Genauso wie in Syrien und schon in Georgien und Tschetschenien. Es ist ihnen egal. Vielleicht werden später einmal russische Kinder ihre Eltern und Großeltern fragen: Was habt Ihr in der Ukraine und den andere Ländern gemacht? Warum habt ihr den Krieg nicht gestoppt? Warum habt ihr mitgemacht und Putin und sein Regime unterstützt? So wie es in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war.
Ich war nur einmal in Russland, 2009, als ich anfing zu arbeiten, in St. Petersburg. Mein Mann war schon vorher dort und auch in Moskau. Meine Schwiegermutter, die wie er russischsprachig ist, hat in Petersburg studiert, in guten Zeiten für uns Ukrainer. Wir haben mit ihr oft darüber gesprochen, mit ihr und unserer Tochter gemeinsam dorthin zu fahren. Aber schon nach dem Angriff 2014 wollte ich nicht einmal die Krim besuchen, erst recht nicht russische Städte. Millionen Ukrainer haben Verwandte und Freunde in Russland, und umgekehrt. Auch das ist jetzt zerstört.
Ich mag die russische Sprache und Kultur nicht. Sie sind für mich Ausdruck eines aggressiven Volkes und Landes. Für die Russen und die russische Regierung zählt nicht, dass viele Menschen in der Ukraine russisch sprechen. Es geht allein um ihren imperialistischen Appetit. Sie wollen uns einverleiben. Als Ukrainischsprachige habe ich das Gefühl, dass wir stärker sind als sie, nicht nur physisch und mit unserer Armee, sondern auch in der Mentalität.
Unsere Nation ist ein Teil Europas, des friedlichen Europas. Wir wollen mit allen in Frieden leben. Frieden mit Russland und den Russen kann es aber erst geben, wenn der letzte russische Soldat unser Territorium verlassen hat und alle Gebiete befreit sind. Ich habe gelesen, dass einige Prominente in Deutschland und viele andere von uns Verhandlungen mit dem Putin-Regime und einen Kompromiss verlangen. Wie soll der aussehen? Wir können den Krieg nicht beenden, das kann nur Russland. Wir sind nicht verantwortlich für all die Toten, die vergewaltigten Frauen und Kinder, für die Zerstörungen. Wir sind die Opfer. Ich kann diese Leute ja in gewisser Weise verstehen. Sie wollen Frieden. Wir auch. Aber das ist im Moment nicht möglich. Es ist nicht ein begrenzter regionaler Konflikt. Es ist ein realer Krieg, nicht nur gegen uns. Womöglich ist das schon der Dritte Weltkrieg, und er kann lange dauern.
Als Russland uns 2014 überfiel, hatten wir keine starke Armee. Wir waren wehrlos. Der Krieg seitdem hat bereits acht Jahre gedauert. 14.000 Menschen sind dadurch gestorben. Das wird im Westen gerne vergessen.
Die Russen müssen den Krieg beenden
Alle Russen müssten darüber nachdenken, warum ihr Land nun international isoliert ist, nicht nur durch die Sanktionen, auch im Sport, in der Kultur. Sie müssten ihre Regierung und ihre lokalen Behörden fragen: Warum sind auch unsere Kinder davon betroffen? Warum wird auch unser Leben zerstört? Das ist der einzige Weg zum Frieden. Sie müssen den Krieg in der Ukraine beenden und unsere Grenzen respektieren. Erst dann kann es Friedensverhandlungen geben, erst danach können Europa und Russland wieder im Frieden miteinander leben.
Eine Freundin von mir hat in einer Kleinstadt in Donezk gelebt. Nach der russischen Eroberung dieses Gebiets 2014 ist sie von dort abgehauen und arbeitet jetzt in Kyjiw. Ihre Mutter lebt noch dort, unter schrecklichen Bedingungen. Meine Freundin hat mir gestern erzählt, dass all ihre Freunde, die ebenfalls dort geblieben sind, ihre Smartphones ausgeschaltet haben und nicht mehr ins Internet gehen. Denn dort wird nun wie in Luhansk allgemein mobilisiert. Sie haben Angst, dass sie gezwungen werden, russische Soldaten zu werden und gegen andere Ukrainer zu kämpfen und sie zu töten. Deshalb verstecken sie sich in ihren Häusern und Wohnungen. Ich kann mir nicht vorstellen, wie man dort überhaupt noch leben kann. Deutsche aber verlangen, dass wir die russische Besatzung eines Teils unseres Landes akzeptieren sollen. Würden sie das für einen Teil von Deutschland auch wollen? Dass dort Deutsche gegen andere Deutsche Krieg führen sollen?