Verantwortung beinhaltet die Verpflichtung, Antwort zu geben. Was soll „Eigenverantwortung“ sein im Unterschied zur Verantwortung? Beim Maskentragen zeigt es sich an den Gesichtern. Wer die Schutzmaske trägt, wo man sie tragen sollte, handelt verantwortlich, wer dort keine Maske trägt, „eigenverantwortlich“. Der Wortbestandteil eigen– (das entspricht dem Griechischen idi-o-) idiotisiert die Verantwortung und macht sie zur Privatsache. Wer für sich „Eigenverantwortung“ beansprucht, will keine Antwort geben und verabschiedet sich aus dem sozialen Bezug. Eine Gesellschaft, die „Eigenverantwortung“ nahelegt oder zuteilt, sagt allen, sie mögen selbst schauen, wo sie bleiben. „Eigenverantwortung“ steht damit auch als „Wert“ im politischen Diskurs in fundamentalem Gegensatz zur Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung, die das zentrale Versprechen enthält, auf dem Weg der Transformation niemanden zurückzulassen. „Eigenverantwortung“ ist ein neoliberales Unwort, im besseren Fall gedankenlos, im schlechteren Fall verantwortungslos. Gesellschaftlich ist „Eigenverantwortung“ zerstörerisch, persönlich führt sie letztlich in Idiotie und Wahn.
Kein treffendes Beispiel. Wer eine Maske trägt, wo sie getragen werden muss, handelt schlicht nach Vorschriften. Das ist weder verantwortlich noch eigenverantwortlich. Das Befolgen kann selbstverständlich bürger-ethisch überhöht werden: Dann handelt der, der Regeln befolgt, „nebenbei“ auch noch verantwortlich, also: fremdverantwortlich, weil er sich am „Wohl der Gemeinschaft“ orientiert.
Wer die Maske dort nicht trägt, wo sie getragen werden muss (Außenverpflichtung, nicht Selbstverpflichtung), da kann er (natürlich auch: sie) zur Verantwortung gezogen werden. Dann kann man ihn (sie) fragen, ob es gute Gründe für diesen Regelbruch gibt.
Eigenverantwortlich handelt nun gerade nicht, wer Regeln nicht befolgt. Eigenverantwortung ist handlungstheoretisch (und auch ethik-theoretisch) nur möglich, wo es Freiräume des Handelns gibt. Eigenverantwortung übernehme ich also in diesen Tagen, wenn ich in einem Supermarkt, der keine Maskenpflicht vorsieht, dennoch eine Maske trage. Ich könnte es ja auch lassen. Dass diese Eigenverantwortung Fremdverantwortung (für andere Supermarktkunden) einbezieht, ist ein netter Nebeneffekt, der bei meiner eigenverantwortlichen Entscheidung aber keine Rolle gespielt haben muss.
Eigenverantwortung als „fundamentalen Gegensetz zur Agenda 2030“ zu apostrophieren, bedeutet aber augenscheinlich mehr: Der Einzelne kann demnach nichts eigenverantwortlich für das Gemeinwohl tun, da er ja Opfer des Systems ist, das selbstredend für alles verantwortlich zu sein hat. Und die Unterstellung, dass, wer von Eigenverantwortung spricht, alle im sozialen Regen stehen lassen will, verkennt, dass Eigenverantwortung und Fremdverantwortung seit der griechischen Antike zentrale Begriffe stadtbürgerlicher Verhältnisse sind.
Eigenverantwortung ist auch einer der tragenden Begriffe von Aufklärung, die die Stärkung denkerischer und entscheidungsbezogener Verantwortung des Einzelnen im Blick hatte. Mithin also Eigenverantwortung im Gegensatz zur entmündigenden Existenz unter der Abhängigkeit von denjenigen, die glauben, Verantwortung für einen übernehmen zu müssen und damit behaupten, für alles verantwortlich sein zu können. Das wurde noch vor nicht langer Zeit als „Wahn einer verwalteten Gesellschaft“ diskreditiert.
Vielen Dank für den kritischen Kommentar! Dazu zwei Bemerkungen, die die Diskussion nicht abschließen, sondern weiterführen sollen.
1 Ich wiederhole meine Frage aus dem Zwischenruf: Was soll „Eigenverantwortung“ sein im Unterschied zur Verantwortung?
Mit dieser Frage will ich nicht in Abrede stellen, dass viele den Begriff „Eigenverantwortung“ mit einem aufklärerischen, sozialen: kurz positiven Verständnis verbinden und verwenden.
Nur: Braucht es zu diesem Verständnis die Wortbildung „Eigen-Verantwortung“? Was Positives lässt sich mit Eigenverantwortung sagen, was sich nicht viel einfacher und schöner mit dem bloßen Begriff „Verantwortung“ sagen lässt?
Wer von „Eigenverantwortung“ redet, nimmt – auch wenn er/sie etwas Positives meint – an der Verantwortung einer Veränderung vor.
Eine Veränderung, die auch geschieht, wenn aus „Sinn“ „Eigensinn“, aus „Lob“ „Eigenlob“, aus „Macht“ „Eigenmacht“, aus „Liebe“ „Eigenliebe“, aus „Sprache“ „Eigensprache“, aus „Denken“ „Eigendenken“, aus „Heim“ „Eigenheim“ etc. wird.
Der Wortbestandteil Eigen- privatisiert und überführt das Wort, dem er angefügt wird, in das „Eigentum“ einzelner, der/die damit auch die Verfügbarkeit über die Bedeutung und den Inhalt des jeweiligen Begriffes bekommt.
Wenn der Begriff, dem „Eigen-“ angefügt wird, ein Begriff mit sozialem Inhalt ist, dann verdreht das „Eigen-“ den Sinn dieses sozialen Bergriffes geradezu ins Gegenteil.
Auch wenn das unbeabsichtigt geschieht, schwächt die Rede von der „Eigenverantwortung“ das Verständnis von Verantwortung und bedient ein – ich nenne es neoliberales – Framing der Privatisierung auch von Sachverhalten, die qua definitione nicht privatisiert werden können.
2 Verantwortung bezieht sich immer auf das eigene Verhalten.
Ob jemand, der/die sich an Regeln hält, verantwortlich ist, hängt nicht davon ab, ob er/sie sich an Regeln hält oder nicht, sondern davon, ob er/sie Rechenschaft darüber ablegen kann, warum er/sie sich an bestimmte Regeln hält und an andere Regeln nicht hält.
Der Kern der Verantwortung ist nicht das eigene Verhalten, sondern das Rechenschaft ablegen über das eigene Verhalten.
Dem widerspricht nicht, dass Verantwortung immer auf ein eigenes Verhalten bezogen ist, über das dann Dritten Antwort geben werden kann und muss.
Für das Verhalten anderer kann man daher nur insofern zur „Verantwortung“ gezogen werden, als das Verhalten des anderen durch das eigene Verhalten verursacht bzw. nicht verhindert wurde, über das dann wieder Dritten Antwort gegeben werden kann und muss.
Auch hier zerstört der Begriff „Eigenverantwortung“ den Kern der Verantwortung, weil er fälschlicher Weise suggeriert, es gebe noch eine andere Verantwortung als die für das eigene Verhalten.
Insofern ist die Begriffsbildung „Eigenverantwortung“ geradezu ein Gegenbegriff der Aufklärung.
Thomas Weber fragt aufgrund der Intervention von Jo Wüllner: Was soll „Eigenverantwortung“ sein im Unterschied zur Verantwortung?
Als erstes schlage ich vor, bei der Diskussion erst einmal bei dem Begriff Verantwortung zu bleiben. Die Ausflüge von Weber zu Eigen-Sinn, Eigen-Lob etc. etc. lenken nur ab und passen nicht, genauso wenig wie das Eingangsbeispiel mit dem Maskentragen; da stimme ich Wüllner ausdrücklich zu.
In Westdeutschland — und in Ostdeutschland erst recht — kann man in den vergangenen 50 Jahren in einer politischen Mentalität des passiven Konsumentendasein aufgewachsen sein: Was für das Allgemeine zu tun ist, das entscheidet die große Politik, egal auf welcher Ebene, die werden dann schon Verordnungen und Gesetze machen, an die ich mich dann zu halten habe; ob bei Tempolimit, höheren Steuern, Energiesparen, Maskentragen, Fragen der Lebensführung (Gesundheit etwa) oder was auch immer.
Weil diese Mentalität sehr weit verbreitet war, vielleicht noch ist, deshalb schätze ich den Begriff Eigen-Verantwortung, als Aufforderung und als Wertschätzung.
Beispiel Energiesparen: Tempolimit wird nicht angeordnet. Jemand hält sich freiwillig trotzdem an eine Grenze — der handelt EIGENVERANWORTLICH. Also rundum ein positiver und ein nützlicher Begriff, weil er zusätzlich den Akteur des
Verhaltens benennt, die Person selbst, die etwas tut, ohne es aufgrund von äußerem Zwang tun zu müssen oder aufgrund von äußeren positiven Anreizen dazu angehalten zu werden.
Dass ich selbst etwas tue, aus eigener Verantwortung und eigenem Antrieb heraus und nicht aus einer allgemein verordneten, das wurde selten gefördert, und oft auch nicht gerne gesehen, denn diese Eigen-Verantwortung hat auch etwas mit Eigen-Ständigkeit, die unberechenbar sein kann.
Insofern betont der Begriff Eigen-Verantwortung den Wert des Individuums und macht deutlich, dass eigenes Tun auch allgemein geschätzt und gefördert wird.
Ist das nicht doch eine Bereicherung? Und alles andere als eine neoliberale Idiotie?
Wenn Wolfgang Storz seinem Vorschlag „bei der Diskussion erst einmal bei dem Begriff Verantwortung zu bleiben“ in seinem Kommentar selbst gefolgt wäre, und er an jeder Stelle, statt „Eigenverantwortung“ oder „eigenverantwortlich“ nur „Verantwortung“ und „verantwortlich“ geschrieben hätte, wäre es ganz einfach. Ich würde zustimmen.
Der Kommentar will aber die „Eigenverantwortung retten“. Ich glaube nicht, dass das gelingt.
Meine Frage „Was soll „Eigenverantwortung“ sein im Unterschied zur Verantwortung?“ führt doch direkt zur Verantwortung. Um diese Frage zu beantworten, ist es hilfreich anzugeben, was man unter Verantwortung versteht. In meinem Eingangs-Zwischenruf habe ich ein Verständnis als Eingangssatz formuliert: „Verantwortung beinhaltet die Verpflichtung, Antwort zu geben.“ Ich kann das noch etwas erweitern: Verantwortung beinhaltet die Verpflichtung und die Fähigkeit, gegenüber Dritten Antwort zu geben, warum man sich so und nicht anders verhalten hat oder verhält.
Ist an diesem Verständnis etwas falsch? Entspricht es nicht in etwa dem, was man unter Verantwortung versteht?
Was meint dagegen Eigenverantwortung?
Was meine Ausflüge zu den Analogien angeht: Das Wort „Eigenverantwortung“ wurde von irgendjemandem aus irgendeinem Grund zu irgendeinem Zweck gebildet – ich vermute vor nicht viel länger als vor 40 Jahren, wenn überhaupt.
Da das Wort „Eigenverantwortung“ nicht selbsterklärend ist, und offensichtlich auch kein inhaltliches Mehr gegenüber Verantwortung angegeben werden kann, ist es doch hilfreich für das Verständnis des Wortes auf gängige Analogiebildungen mit „Eigen-“ zu schauen, da solche Analogiebildungen in irgendeiner Weise bei der Wortbildung der „Eigenverantwortung“ entweder Pate gestanden haben oder sonst im Hinterkopf der Wortbildnerin oder des Worbildners waren.
Dass die Hinweise, die aus dieser Analogiebetrachtung gewonnen werden können, nicht unbedingt für die „Eigenverantwortung“ sprechen, mag einem nicht in den Kram passen. So einfach wegwischen lassen sie sich aber nicht.
Im Kommentar führt Wolfgang Storz folgendes Beispiel an: „Tempolimit wird nicht angeordnet. Jemand hält sich freiwillig trotzdem an eine Grenze — der handelt EIGENVERANWORTLICH.“
Was soll in diesem Beispiel „eigenverantwortlich“ sein? Dass sich jemand freiwillig an eine Grenze hält? Was ist das für eine Freiwilligkeit? Kann man über diese Freiwilligkeit reden, kann man Gründe und Zwecke dafür angeben? Und wenn ja: Wäre das nicht der Fall, wenn jemand nur „verantwortlich“ handelt?
Weiter wird im Kommentar ausgeführt: „Dass ich selbst etwas tue, aus eigener Verantwortung und eigenem Antrieb heraus und nicht aus einer allgemein verordneten, das wurde selten gefördert, und oft auch nicht gerne gesehen, denn diese Eigen-Verantwortung hat auch etwas mit Eigen-Ständigkeit, die unberechenbar sein kann.“
Hier lässt der Schlusszusatz „die unberechenbar sein kann“ erkennen, dass der Schreiber der Zeilen ahnt, dass den Wortbildungen mit „Eigen-„ etwas „Eigenes“ anhaftet, das zumindest verdächtig und nicht nur positiv erscheint. Die Erfahrung, dass Eigenständigkeit, Eigensinn, Eigenwille etc. etwas Unberechenbares in sich tragen und meinen, wird hier erkennbar. Ist das bei der „Eigenverantwortung“ anders. Oder ist nicht gerade die Berufung auf „Eigenverantwortung“ die Berufung auf etwas Unberechenbares? Und ist Unberechenbarkeit nicht geradezu das Gegenteil von Verantwortlichkeit?
Vor diesem Hintergrund fängt vielleicht auch mein Maskenbeispiel an zu treffen.
Den Schlusszeilen des Kommentars: „Insofern betont der Begriff Eigen-Verantwortung den Wert des Individuums und macht deutlich, dass eigenes Tun auch allgemein geschätzt und gefördert wird.
Ist das nicht doch eine Bereicherung? Und alles andere als eine neoliberale Idiotie?“
kann ich mit einer kleinen Änderung zustimmen: Statt Eigenverantwortung muss da Verantwortung stehen. Dann stimmt das.