Woher weiß der Zufall, wie er es will?

“Wir Menschen sind stets mehr unsere Zufälle als unsere Wahl“1, stellt der Philosoph Odo Marquard fest und rechtfertigt damit eine gern verdrängte Störung des absichtsvollen Lebens. „Hufeisen bringen Glück, auch wenn man nicht daran glaubt.“ Für den Nobelpreisträger Niels Bohr, dem dieses Zitat zugeschrieben wird, war der Zufall in der Mikrophysik allgegenwärtig. Doch nicht nur die Wissenschaften hadern mit dem Zufall. Zufälle sind weder logisch, noch kann man ihnen für den Verlauf der Geschichte etwas Vernünftiges abgewinnen. Sie stören einfach den hegelianischen Weltgeist, passen nicht ins Konzept und halten uns ab vom Geplanten. Schließlich betreibt niemand ein Geschäft, um dann wegen einer grassierenden Infektion monatelang zu schließen. Was ist zu halten von den Störungen der Lebensentwürfe in Zeiten der Corona-Pandemie?

Zufall ist eine Übersetzung des gleichbedeutenden lateinischen Wortes accidēns. Im Englischen ist die Wortherkunft noch zu erkennen. Allerdings bedeutet Accident nicht nur Zufall, sondern auch Unfall und als solcher werden die unglücklichen Zufälle in der Regel erlebt. Der Zufall stört die Menschen bei ihren Absichten, und die Frage ist, ob sie die Zufälle als solche hinnehmen oder sich ihrer erwehren. Für diejenigen, die dem Existenzialismus zugeneigt sind, ist der Zufall erträglicher. Es sei denn, der Zufall wird als Freiheitsberaubung erlebt. Wer mit weniger Sollen im Gepäck auf die Welt kommt und durch die Welt geht, hat es am Ende so leicht wie Hans im Glück. Oder die Seele erträgt das Schicksal mit der Leichtigkeit eines am Ende ebenfalls glücklichen Sisyphos wie ihn Albert Camus2 erfindet. Nur diejenigen hingegen, die auf Determinismus wie Identität, Volk, Herkunft, Historizismus oder sonstige bereits getrocknete Weltbilder Wert legen, geben sich mit der Unerklärlichkeit des Zufalls nicht zufrieden.

Dafür hat der Zufall das Zeug zur Narration. Durch den Zufall wird aus dem eigentlich nicht Erwähnenswerten, der Fahrt ins Büro oder dem Virus aus Wuhan, eine Geschichte, die sich weitererzählen lässt. Die Erzählung funktioniert, so der Dichter, Literaturkritiker und Philosoph Samuel Taylor Coleridge3, durch eine „willentliche Aussetzung der Ungläubigkeit“ in der Rezeption des Erzählten. Menschen sind als „animal symbolicum“4 befähigt zum symbolischen Denken und damit zum Geschichtenerzählen. Geschichten leben von ihren Akteurinnen und Akteuren. Verhängnisvoll wird es, wenn im Unglücksfall fiktive Erzählungen mit real existierenden Menschen besetzt werden. Der Zufall will es, dass Unschuldige und Unbeteiligte in den Verschwörungsgeschichten in die Rollen der Sündenböcke gepfercht werden. Das ist das eigentliche Unglück des Zufalls, dass die Menschen und vor allem die Mächtigen ihre Machtlosigkeit gegenüber Zufällen nicht aushalten und sie anderen in die Schuhe schieben.

Dabei könnte die Kontingenzformel, dass die Dinge möglich, aber nicht notwendig sind, eine Befreiung sein. Eine Variante des Zufalls ist nämlich das Glück. Das Glücksspiel beispielsweise ist eine, wenn auch in der Wertschätzung vieler nicht sehr ansehnliche Möglichkeit des produktiven Umgangs mit dem Zufall. Glücksspiel hat insbesondere den Vorteil, dass Spieler*innen die Entscheidung auf ihr eigenes Risiko nehmen und nicht andere Menschen verantwortlich machen. Auch Schifffahrt, Seehandel und Versicherungswesen haben historisch als Glücksspiel begonnen, und die Glücksritter mussten lernen, mit dem Zufall zu leben. Die Kunst liegt in der Moderne in der Fähigkeit, Zufälle produktiv zu kultivieren.

Mit Kultivierung ist der menschliche Umgang gemeint. Die Erfahrung weiß von glücklichen Zufällen zu berichten. Bei der Entdeckung des Penicillins und der Röntgenstrahlung hatten glückliche Zufälle maßgeblichen Anteil. Das Zusammenspiel und insbesondere das Glück im Unglück ist eine allgegenwärtige menschliche Erfahrung, die hier nicht weiter durch Beispiele erläutert werden muss. Auch möchte man, trotz happy end, das vorausgehende Unglück nicht erfahren, noch ergäbe sich eine zwangsläufige Kausalität. „Das Unglück“, schreibt nochmals Odo Marquard5, „wird durch die Kompensation in der Regel nicht gelöscht, sondern eben nur kompensiert; zuweilen verdecken Kompensationen, statt zu heilen.“ Die Gitarristen Jean „Django“ Reinhardt und Tony Lommi waren nach schweren Handverletzungen gezwungen, ihr Spiel zu ändern und wurden erfolgreich damit.

Von A wie Angst, B wie Beraten, C wie Communication bis X wie Xenophie, Y wie Yoga und Z wie Zufall spannt sich das “Glossar der Sicherheitsgesellschaft“, illustriert mit Collagen von Andreas Galling-Stiehler, gestaltet von Fons Hickmann und Kathrin Siebenhandl, geschrieben von Jürgen Schulz als “eine Handreichung, ein Vademecum zum Gerede, zu Schlagwörtern, Phrasen und Gemeinplätzen”.
Bruchstücke dokumentiert die Kapitel “Zufall” und “Angst” und dankt der Edition Ästhetik und Kommunikation für das Abdruckrecht.
ISBN 978-3-9822591-2-3 | 110 Seiten | 22 €

Wenn das Einzelschicksal nicht durch Einzelglück kompensiert werden kann, sind die Mitmenschen in der Pflicht. Denn Glück und Unglück sind wie fast alles ungleich verteilt. Gesundheit, aber auch Hunger, Krieg und Vertreibung sind für die Betroffenen Schicksalsschläge. Die Verhältnisse können geändert werden. Immer noch ist die Geburt in prekäre Verhältnisse ein Fluch. Eigentlich ist es ein Gebot, sich daran zu beteiligen, die Zufälligkeiten des Unglücks zu kompensieren. Aber Unglück existiert nicht nur als Zufall, sondern auch als Struktur. Die Ausbeutung des Südens durch den Norden, die Benachteiligungen der Frauen, die Instrumentalisierung der Arbeit durch das Kapital, die Zerstörung der Natur haben System.

In der Coronakrise ist eine neue Herausforderung entstanden für den Sozialstaat, der ja kompensatorisch für Umverteilung sorgt. Die Unglückskompensation der einen darf nicht in Glückskompensation der anderen ausarten. Vor allem Kinder haben ein Recht auf Glück und wenn es nur Glück im Unglück ist. „Das Glück will legitim sein“, heißt es bei Max Weber. Das Unglück kommt von ganz allein.

POSTSKRIPTUM
Camus’ Pendant im deutschen Märchen ist Hans im Glück. Er kündigt eine Arbeitsstelle fern seiner Heimat und wird für seine treuen Dienste mit einem großen Goldklumpen belohnt. Er ist zu Fuß unterwegs und begegnet auf der beschwerlichen Heimreise zufällig einem Reiter. Der Reiter bietet ihm an, das Pferd gegen den Goldklumpen zu tauschen. Hans willigt ein und setzt seinen Weg unbeschwert fort, bis das Pferd ihn unverhofft störrisch abwirft und darum gegen die Kuh eines zufällig anwesenden Bauern getauscht wird. Die Kuh, die wider Erwarten keine Milch geben will, wechselt ebenso den Besitzer wie das Schwein gegen eine Gans und die Gans schließlich gegen einen Feldstein, der, oh Glückes Geschick, als Schleifstein feilgeboten wird. Von der neuerlichen Last völlig erschöpft, lässt er sich an einem Brunnen nieder. Beim Trinken fällt der Stein in den Brunnen. Hans trauert dem Verlust nicht nach, sondern beendet glücklich seine Reise.

1 Marquard, Odo (1986). Apologie des Zufälligen. Stuttgart: Reclam, S. 127 2 Camus, Albert (1942). Le mythe de Sisyphe. Paris: Gallimard 3 Coleridge, Samuel Taylor (1907) [1817]. Biographia Literaria. Gloucestershire: Clarendon Press, S. 6 4 Cassirer, Ernst (2007) [1944]. Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur. Hamburg: Meiner, S. 50 5 Marquard, Odo (1978). Glück im Unglück. Zur Theorie des indirekten Glücks zwischen Theodizee und Geschichtsphilosophie. In: Bien, Günther. Die Frage nach dem Glück. Stuttgart: Frommann-Holzboog, S. 93–111

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

2 Kommentare

  1. Der Autor des präzise-liebevoll gestalteten Bändchens mitsamt den kongenial gebastelten Collagen ist augenscheinlich („lesescheinlich“?) Jäger & Sammler. Wie kann man einen solchen unterstützen? Sammelt einer kleine Porzellanelefanten, ist die Sache klar. Sammelt einer unkörperliche kulturelle Puzzlestücke, bietet sich das Zitat zum Thema:

    „Die Topographie der Rhetorik entfaltet sich mit Zufällen. Manche Engländer übersetzen bloßer Zufall mit mere coincidence. Das ist zwar ein schöner Begriff, weil man mit ihm nicht nur – wie beim Zufall – Äußerlichkeit, sondern auch Interferenz assoziieren kann. Übersetzer bringt aber gerade diese Kombination aus Äußerlichkeit und Interferenz manchmal in die Bredouille: Wenn ein Eigenname besonders gut passt, dann sagt der Deutsche: „Das ist kein Zufall!“ Der mutige Übersetzer sagt: „That is coincidence!“ Der Gesprächspartner, der ein paar Monate in Deutschland Philosophie studiert hat und die deutsche Sprache ansatzweise beherrscht, ist irritiert und sagt zum Übersetzer: „But he said, it wasn’t!?“ Der Deutsche möchte nun wissen, was sein Gesprächspartner einzuwenden hatte. Wie soll man den Einwand gegen die Übersetzung übersetzen? Man steht an einer quasi englisch-deutschen Grenze, an der sich auch das Meer der Fälle und die Landschaft des Gesetzes trennen, Passen und Nichtpassen aber zusammenfallen.“
    Steinhauer, Fabian: Gerechtigkeit als Zufall. Zur rhetorischen Evolution des Rechts. Wien/New York 2007, S. 1

    Und noch einen kleinen Nachschlag:
    „Der Zufall ist die Muttermilch, an der sich jeder Plan vollsaugen muß, wenn er zum kräftigen Erfolg heranreifen soll.“
    Johann Nepomuk Nestroy, aus: Das Haus der Temperamente, 1837

    1. Pardon lieber Jo Wüllner. Kein Jäger (Lafcadio / Shel Silverstein), eher Neue Frankfurter Schule, um es mit Gernhardt zu sagen:
      “[…] Dem Leser aber sei bei der Lektüre des Buches das bekannte Klopstockzitat zugerufen, das unser junger Dichterfürst einst dem jungen Goethe auf den Weg zu Frederike von Seesenheim mitgab: »Viel Spaß!«” WIMS Februar 1966

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