„Und vor ihm her tanzt die Angst“

Collage: Andreas Galling-Stiehler

Angst vor Ansteckung, Krankheit, Tod; Angst vor der Schuld, andere anzustecken. Angst der Politik, die Kontrolle zu verlieren und nicht mehr entscheidungsfähig zu sein und vielleicht auch Angst davor, in Verdacht zu geraten, anderen Angst machen zu wollen – Angst ist im Zusammenhang mit der Pandemie ein klärungsbedürftiges Phänomen.

In Asterix’ neuntem Abenteuer1 wird man Zeuge, wie die Angst in die Welt kommt. Die Normannen (Nordmänner), „die alles kennen und alles wissen“, beschließen die ihnen noch unbekannte „sagenhafte Angst“ kennenzulernen. Ihr Häuptling hatte die Redensart „Angst verleiht Flügel“ beim Wort genommen und sich vorgestellt, mit Angst fliegen zu können wie die Vögel. Mit der Redewendung gemeint ist aber im übertragenen Sinn die beflügelnde und aktivierende Wirkung von Angst. Doch wie sollen die Normannen etwas finden, was ihnen gänzlich unbekannt ist? Schließlich erzeugt die musikalische Darbietung des gallischen Barden eine unangenehme diffuse Gefühlsregung, die ihnen von Asterix als Angst verkauft wird. Flugunfähig flüchten sich die Männer zurück auf ihr Schiff und treten mit dem vermeintlichen Gefühl die Heimreise an. Und Angst verbreitet sich wie im Fluge an Bord. Ganz so, wie Heidegger es formuliert: „Das Wovor der Angst ist die Welt als solche.“2

Angst und Furcht sind existenzielle Grundbefindlichkeiten. Es sind Gefühle, die als Bedrohung erlebt werden. Im Unterschied zur Furcht erscheinen die Quellen der Angst diffus und gegenstandslos. Diese Gegenstandslosigkeit mag bei vernünftiger Betrachtung nichtig erscheinen. Ebenso wie die Angst vor dem Tod, dem größtmöglichen Nichts – der Auflösung des Lebendigen. Trotzdem erscheinen Angst und Furcht unvernünftig. Der spanische Künstler Francisco de Goya hat dies nach einer ängstigenden lebensbedrohlichen Erkrankung in seinen Caprichos dargestellt. Blatt Nr. 43 mit dem Titel „El sueño de la razón produce monstruos“ (Der Traum der Vernunft erzeugt Ungeheuer) lässt mindestens zwei Interpretationen zu, je nachdem, ob der Schlaf oder der Traum der Vernunft Monster gebiert. So lässt sich der Schlaf der Vernunft als Plädoyer für die Aufklärung deuten, während eine Träumerei von Vernunft durchaus antiaufklärerisch verstanden werden kann.

“Ich bin ja kein Vorschlagswissenschaftler, der sich anmaßt, irgendwelchen ‘Kräften’ die Entscheidung abzunehmen”, sogenannten Fach-, Führungs- oder Sicherheitskräften, schreibt Jürgen Schulz im vorangestellten Postscriptum seines Buches “Glossar der Sicherheitsgesellschaft. Gegen die Verlockung der Eindeutigkeit“. In 26 Kapiteln von A wie Angst bis Z wie Zufall buchstabiert er “Wagnisse der Moderne” durch, und man rätselt, ob am Anfang das Wort war – oder das Bild, die Collagen von Andreas Galling-Stiehler; man kann sich aber auch einfach von dem inspirierenden Wechselspiel beeindrucken lassen. Bruchstücke dokumentiert die Kapitel “Angst” und “Zufall” und dankt der Edition Ästhetik und Kommunikation für das Abdruckrecht. ISBN 978-3-9822591-2-3.
110 Seiten, 22 €

Vorsicht ist trotzdem angebracht und wird vorausschauend auch zum Problem: Angst vor leeren Blättern, Leinwänden, Katastrophen, Krankheit oder Ansteckung. Die Präposition „vor“ verweist auf das noch Bevorstehende. Was Menschen ängstigt, ist also meist noch gar nicht da. Angst ist wie ein emotionaler Vorrat. Auch wird die Unterscheidung von diffuser Gegenstandslosigkeit und konkret bestimmbarer Bedrohung subjektiv verschieden erlebt. Fritz Riemann3 definiert verschiedene Grundformen der Angst, von denen „Angst vor Veränderung“, „Angst vor der Endgültigkeit“ und „Angst vor Nähe“ allein durch den Titel zu Gemütsverfassungen während der Corona-Pandemie passen könnten.

Ist Angst nun ein kollektives Gefühl oder Sache des Individuums? Die Antwort hängt ab vom insinuierten Menschenbild. Ein Stereotyp kollektiver Persönlichkeitsmerkmale ist die „German Angst“, mit der aber vor allem die Zögerlichkeit bei Entscheidungen gemeint ist. Von Angst als identitärer Eigenschaft erzählt Curzio Malaparte in seinem Kriegsroman „Kaputt“: „Wenn der Deutsche beginnt, Angst zu haben, wenn sich ihm die geheimnisvolle deutsche Angst ins Gebein schleicht, dann erst erregt er Schrecken und Mitgefühl. […] Und gerade dann wird der Deutsche gefährlich.“4 Folgt man solchen massenpsychotischen Gedanken, so ließe sich durch kollektive Angst Aggression schüren. Totalitäre Ideologien nivellieren dazu die Rolle des Individuums zu einem Mängelwesen unter dem Joch einer Massenpsyche, wie sie Gustave Le Bon5 5 beschreibt.

Angst als Mittel der Politik hat Tradition. Bereits in den abrahamitischen Religionen wird mit der Angst vor Versündigung und Gottesfurcht Politik gemacht. Gottesfurcht wird dabei u.a. durch angsteinflößende Monstra erzeugt. Im Buch Hiob des Alten Testaments werden die Monstra Behemoth und Leviathan als göttliche Machtdemonstration eingesetzt. Bereits im Zusammenhang mit der Erwähnung des biblischen Monstrums Leviathan wird das Angstmotiv hervorgehoben: „Und vor ihm her tanzt die Angst“ (Hiob 41, 14) Die Angst, sich gegenüber anderen zu versündigen, kann als eine säkularisierte Form der ursprünglich vorherrschenden Gottesfurcht interpretiert werden. Wer sich diesem Vorwurf der Versündigung aussetzt, ist argumentativ schnell auf moralisch verlorenem Posten. Hilflose Patientinnen in Krankenhäusern sind ein unschlagbares Argument.

Wie kann man sich der Angst selbst entledigen, bevor sie uns erledigt? Die Fähigkeit zum Umgang mit Angst und Furcht gehört zur Lebenspraxis und kann sogar vor Lebensmüdigkeit schützen. Entscheidend ist wie so oft die Dosierung, die leider im Fall von Angst und Furcht meistens nicht in unserer Macht liegt. Die Frage „Was wäre wenn?“ wird für die Erfindung der Zukunft produktiv genutzt. Angst verleiht der Frage einen negativen unheilvollen Beigeschmack. Die gutgemeinten Ratschläge im Umgang mit Angst sind so paradox wie die Aufforderung kreativ zu sein. Neben Quietismus, also der passiven Hinnahme, können Angst und Furcht, wie bereits erwähnt, auch in Aggression umschlagen. Weniger aggressiv gedacht ist der Zusammenhang von Angst als notwendige Quelle für Mut. Fritz Riemann kehrt den Zusammenhang um und rät zu einem fortwährenden Prozess der Angstbewältigung durch Mut, Vertrauen, Erkenntnis, Macht, Hoffnung, Demut, Glaube und Liebe.

Ein fünfjähriges Kind radelt mit seinem Vater durch ein einsames Waldstück. Es beginnt zu dämmern und an einer Wegkreuzung darf das Kind entscheiden, welcher Weg genommen werden soll. Die Wege sind quadratisch angelegt. Um zu dem Ziel zu gelangen, kann rechts und dann wieder links abgebogen werden oder man fährt geradeaus und biegt bei nächster Gelegenheit rechts ab. Beide Optionen führen zum Ziel. Das Kind entscheidet sich für einen Weg, und der Vater besteht darauf, den anderen Weg zu nehmen. In wenigen Minuten sieht man sich ja wieder. Die Wege sind bekannt. Das Kind hat Angst und will nicht alleine durch den Wald radeln. Der Vater besteht aber auf getrennten Wegen. Von Angst beflügelt rast das Kind durch den Wald und erwartet stolz den Vater an dem verabredeten Treffpunkt. Das Kind wird dieses Erlebnis niemals vergessen.

POSTSKRIPTUM
„Sich mit seinen Ängsten an[zu]freunden“6 lautet der Rat der französischen Philosophin und Psychoanalytikerin Anne Dufourmantelle. Sie beschreibt einen zärtlichen Umgang mit Ängsten: „Die Angst beunruhigt und lähmt uns, und doch, warum sollte man nicht Freundschaft mit ihr schließen, so wie man sich nachts manchen großen Tieren nähert? Dafür müssen wir durch das Dunkel auf sie zugehen.“ Das Wort Angst kommt ursprünglich von Enge und Bedrängnis. Der produktive Umgang mit Ängsten ist eine Befreiung.

1 Goscinny, René; Uderzo, Albert (1971). Asterix und die Normannen. Leinfelden-Echterdingen: EHAPA, S. 9 2 Heidegger, Martin (1984) [1927]. Sein und Zeit. Tübingen: Niemeyer, S. 187 3 Riemann, Fritz (2019) [1961]. Grundformen der Angst. 45. Aufl. München: Ernst Reinhardt 4 Malaparte, Curzio (2007). Kaputt. Frankfurt a. M.: Fischer, S. 268 f. 5 Le Bon, Gustave (1911) [1895]. Psychologie der Massen. Stuttgart: Kröner 6 Dufourmantelle, Anne (2018) [2011]. Lob des Risikos. Ein Plädoyer für das Ungewisse. Berlin: Aufbau Verlag

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Jürgen Schulz
Prof. Dr. Jürgen Schulz lehrt und forscht im Studiengang Gesellschafts- und Wirtschaftskommunikation an der Universität der Künste Berlin (UdK). Er arbeitet auch in der Redaktion von „Ästhetik & Kommunikation“.

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