Bleiben die Massen aus, können Radikalität und Sektierertum zum Ersatz werden

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Ich habe das Gefühl, für eine große Minderheit besteht die Katastrophe in Dürre, Hitze und der Tatsache, dass unverändert Vielflieger und rasende Autofahrer das Klima ruinieren. Und für die anderen, die große Mehrheit, besteht die Katastrophe darin, dass sie für ihren Flug nicht pünktlich abgefertigt werden. So Wolfgang Storz im Interview mit dem Bewegungs- und Protestforscher Dieter Rucht, der dazu sagt: „So ist es. Anzeichen einer Spaltung sind unverkennbar, wenngleich hierzulande noch keine Verhältnisse wie in den USA herrschen.“ Die Stiftung „Oneworryless“ hatte am 6. August unter anderem in Hamburg, München und Berlin dazu aufgerufen, die Aktion #IchBinArmutsbetroffen über das Internet hinaus auf Straßen und Plätzen sichtbar zu machen.

Annalena Baerbock, Außenministerin, spekulierte jüngst, es könne wegen der steigenden Energiepreise zu Volksaufständen kommen. Das erinnert an die heftigen Gelbwesten-Proteste in Frankreich im Frühjahr 2019. Gibt es Erkenntnisse, die dafür sprechen?

Rucht: Eine Protestwelle kann nicht ausgeschlossen werden. Aber sie wird kaum die Brisanz von Frankreichs Gelbwesten-Bewegung erlangen. Frankreich hat deutlich andere Ausgangsbedingungen für Protest. Die Preiserhöhungen können nicht der derzeitigen Bundesregierung in Deutschland angelastet werden. Das heißt, einer möglichen Protestwelle fehlt beispielsweise der ‚böse Schuldige‘ im direkten Gegenüber. Allein das nimmt einer Protestbewegung ein Stück Kraft und Schwung. Und zudem kann und wird diese Regierung einen Teil der Belastungen abfedern.

Haben wir es mit Apathie anstelle von Aufständen zu tun? Die Probleme sind existentiell, ob Pandemie, Krieg oder Klimakatastrophe. Trotzdem hat sich jüngst an den Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen nur gut die Hälfte der Wahlbevölkerung überhaupt beteiligt. Ein Zeichen von Apathie?

Rucht: Schwankungen der regionalen Wahlbeteiligung haben zumeist auch regionale Ursachen. Und es gibt gegenläufige Tendenzen: Seit 1972 war die Beteiligung an Bundestagswahlen in der Tendenz zwar rückläufig, sie hat sich aber in 2017 und 2021 wieder erhöht. Vor allem gibt es eine Zunahme des bürgerschaftlichen politischen Engagements. Eine allgemeine politische Apathie kann ich nicht erkennen.

Eine diffuse Unzufriedenheit, die sich verfestigt

Trotzdem: Wenn sich die Hälfte des Wahlvolks im größten Bundesland von den kandidierenden Parteien offenkundig nicht angesprochen und vertreten fühlt — wo und wie werden sich diese nichtrepräsentierten Haltungen dann organisieren oder entladen?

Rucht: Es besteht eine diffuse Unzufriedenheit bei einer Minderheit der Bevölkerung, die sich verfestigt. Und diese Minderheit greift unter Mitwirkung rechtspopulistischer und rechtsradikaler Kreise alle möglichen aktuellen Themen auf und wähnt sich dabei in einem Kampf um ihre „Freiheit“. Diese Leute wenden sich von den „Systemparteien“ und der „Lügenpresse“ ab, auch indem sie meinungsstark und faktenarm ein alternatives Weltbild konstruieren. Und sie haben eine Partei gefunden, die sich als ihr Sprachrohr versteht, die AfD.

Um Ihre Antwort gewichten zu können: Diese Minderheit, von der Sie sprechen, das sind fünf oder 20 oder 30 Prozent der Wahlbevölkerung? Und: Wird sie, beispielsweise seit 2015, stärker oder schwächer?

Rucht: Dieses Potential dürfte etwas größer sein als die rund 20 Prozent derer, die rechtspopulistische oder gar rechtsradikale Einstellungen aufweisen. Es existiert allerdings keine quantitative Bestandsaufnahme der von mir angesprochenen diffusen Unzufriedenheit. Vermutlich ist diese Gruppe in den letzten Jahren gewachsen.

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Ist das eine Möglichkeit: Die momentan ruhende Anti-Corona-Bewegung macht sich das Thema der steigenden Energiepreise zueigen. Und gewinnt damit noch mehr Einfluss und AnhängerInnen.

Rucht: Ja, das ist meines Erachtens nicht nur möglich, sondern auch wahrscheinlich. Allerdings ist das Mobilisierungspotential dieser Kreise begrenzt. Auch hier wird es einerseits zu einer Ernüchterung und zu Ermüdungserscheinungen kommen. Das könnte andererseits allerdings eine Tendenz zur Radikalisierung des harten Kerns fördern. Bleiben die Massen aus, kann Radikalität und Sektierertum als Ersatzdroge fungieren.

Erschöpfte Basisaktivist:innen

Wir erleben spätestens seit 2018 auch hier im Alltag die Klimakatastrophe: anhaltende Hitze mit bis zu 40 Grad, Dürre — mit finanziellen, mentalen und gesundheitlichen Folgen für viele Branchen und zig Millionen Menschen. Zeitgleich scheint die Klimabewegung wie gelähmt. Je drängender das Problem, desto schwächer die Bewegung. Warum?

Rucht: Die Straßenproteste der Klimaschutzbewegung und namentlich von Fridays for Future haben abgenommen. Viele der Basisaktivist:innen sind erschöpft. Interne Differenzen werden sichtbar. Jedoch: Insgesamt scheint die Bewegung eher an Stärke zu gewinnen. Die Unterstützung aus der Zivilgesellschaft wächst, auch aus der Wissenschaft, partiell sogar von Unternehmen. Und das aktivistische Geschehen könnte sich von Massendemonstrationen hin zu kleineren Aktionen zivilen Ungehorsams verlagern.

Nun wird der Umwelt- und Klimabewegung Katastrophismus vorgeworfen. Ist das nicht absurd? Wer die letzten Jahre verfolgt, halbwegs bei Verstand ist und nichts verdrängt, der muss doch zu dem Schluss kommen: Der Katastrophismus ist Wirklichkeit. Wo übertreibt die Klimabewegung?

Prof. Dr. Dieter Rucht ist Mitglied des Instituts für Protest- und Bewegungsforschung und Senior Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung.

Rucht: Der Begriff Katastrophismus ist negativ belegt, er wird mit Übertreibung assoziiert. Die aus den Wissenschaften kommenden Hinweise auf eine drohende Katastrophe sind jedoch ernst zu nehmen. Aber innerhalb der Klimaschutzbewegung gibt es auch Leute, die Aussagen der Wissenschaft selektiv aufnehmen, die beispielsweise Hochrechnungen, die auf Modellannahmen beruhen, oder reine Szenarien, die keinen prognostischen Gehalt haben, naiv rezipieren und mit der Unterstellung weiterverbreiten, genau so ’schlimm‘ werde es bald werden. Und es gibt Übertreibungen in der Bewegung. Zum Beispiel war auf der Webseite der Letzten Generation zu lesen, die Menschheit hätte nur noch zwei bis drei Jahre, um das Ruder herumzuwerfen. Das ist Panikmache in guter Absicht, die aber zu Abstumpfung und zu Zynismus führen kann. Ich warte schon auf den Kommentar des Kabarettisten Dieter Nuhr in drei Jahren: „Die Älteren unter uns werden sich erinnern: Waldsterben? War nix. Und an die Adresse der Jüngeren: Klimakatastrophe? War nix.“

Es gibt eine Minderheit, die sich radikalisiert, über friedliche Sabotage nachdenkt oder sich auf Straßen festklebt, um SUV-Pendler dem Herzinfarkt näher zu bringen. Wir haben über diese Radikalisierung bereits gesprochen. Nun widmete die FAZ Ende Juli ihren Leitartikel dem Thema „Grüne Armee Fraktion?“ Die auch optisch herausgehobene These des Autors: „In der Klimabewegung gibt es Leute, die die RAF romantisieren.“ Ist das mediale Propaganda gegen die Klimabewegung oder gibt es diese zunehmende Radikalisierung tatsächlich?

Rucht: Ich kenne keine Stimme aus der Klimabewegung, die die RAF romantisiert. Erkennbar ist aber eine gewisse Verklärung von Militanz: Die sei das entscheidende Mittel, das zum Erfolg führe. Dass der Klimaprotest eine härtere Gangart einschlagen wird, halte ich für wahrscheinlich. Allerdings existiert keine abschüssige Bahn vom zivilen Ungehorsam in Richtung Terrorismus, wie es manche Medien suggerieren. Ziviler Ungehorsam ist ganz entschieden gewaltfrei und auf Deeskalation ausgerichtet. Doch es kann nicht ausgeschlossen werden, dass anders gepolte Kleingruppen zu schwerer Sachbeschädigung und Sabotage übergehen. Das war auch so in manchen Phasen des Protests gegen die Nutzung von Atomenergie, vor allem in den 1980er Jahren.

Radikalität hat keine Legitimität per se

Nun haben wir eine Bewegung, die sich einerseits radikalisiert und die andererseits sich in Endzeit-Szenarien ergeht. Ist ihr das vorzuhalten? Oder ist das nicht die berechtigte Konsequenz aus der Lage: Seit vielen Jahren geht es der Natur an den Kragen, das Klima wird extremer, die Politik redet und macht gemessen an der Herausforderung wenig bis nichts. Dann ist es doch rational, irgendwann einmal entweder radikal zu handeln oder sich über Untergangsszenarien Gedanken zu machen. Oder nicht?

Rucht: Ich stimme zu. Doch während das Leben und Überleben per se einen Wert und ein Recht darstellen, gilt dies nicht für Radikalität. Radikalität muss erforderlich und angemessen sein. Nur dann kann sie Legitimität für sich beanspruchen. Das verlangt von denjenigen, die radikal handeln: Sie müssen vorher abwägen, müssen es begründen können. Und dieser Schritt kann nicht ausgelassen oder umgangen werden, indem man einfach sagt, mein Gewissen und meine Gewissheit rechtfertigen die Radikalität. Nein, ein solches Handeln muss sich einer freien und öffentlichen Prüfung unterwerfen.

Spaltet sich diese Gesellschaft in der Wahrnehmung dieser Klima-Gefahren noch tiefer als zuvor? Ich habe das Gefühl, für eine große Minderheit besteht die Katastrophe in Dürre, Hitze und der Tatsache, dass unverändert Vielflieger und rasende Autofahrer das Klima ruinieren. Und für die anderen, die große Mehrheit, besteht die Katastrophe darin, dass sie für ihren Flug nicht pünktlich abgefertigt werden.

Rucht: So ist es. Anzeichen einer Spaltung sind unverkennbar, wenngleich hierzulande noch keine Verhältnisse wie in den USA herrschen. Wir haben aber auch ein Problem innerhalb grüner umweltbewusster Milieus: So wissen wir aus Untersuchungen, dass diese grüne Klientel etwa in Fragen der Ernährung oder der Mülltrennung durchaus umweltbewusst handelt. Aber zugleich weist diese Gruppe im statistischen Durchschnitt einen bedenklichen ökologischen Fußabdruck auf: weil diese Leute, meist wohlhabend, oft fliegen und dicke Autos fahren. Wenn diese Leute jedoch ihren Müll akribisch trennen oder Plastikprodukte kaufen, die einen von den Unternehmen bewusst nicht ausgewiesenem, meist minimalen Anteil an recyceltem Material aufweisen, dann besänftigen sie damit ihr (schlechtes) Gewissen. Mehr aber auch nicht. Darauf setzt inzwischen die Verpackungsindustrie und rechnet, durchaus realistisch, mit weiter steigenden Produktionszahlen.

Wie müsste sich die Umwelt- und Klimabewegung Ihrer Meinung nach äußern und verhalten, um möglichst starken Einfluss zu gewinnen?

Rucht: Ratschläge wirken oberlehrerhaft. Ich halte mich somit zurück. Und als Binsenweisheiten (Langer Atem. Einigkeit macht stark. Vorbildhaft handeln …) helfen sie in konkreten und zumal dilemmatischen Situationen ohnehin kaum weiter.

Wolfgang Storz
Dr. Wolfgang Storz (sto), (*1954), arbeitet als Publizist, Kommunikationsberater und Coach, zuvor tätig bei Badische Zeitung, IG Metall und Frankfurter Rundschau. Das Foto gibt eine jüngere Ausgabe der Person wieder.

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