Der weithin bekannte Produzent und Lieferant von politischer Führung hat jüngst aus seiner Schublade die Basta-Richtlinie gezogen und unter anderem seinen Ministern Robert Habeck und Christian Lindner unter Verweis auf Paragraph 1 der Geschäftsordnung der Bundesregierung in Anlehnung an Artikel 65, 1 Grundgesetz geschrieben, er sei kompetent anzuordnen, dass nicht nur zwei, sondern drei Atomkraftwerke noch ein bisschen weiterlaufen sollen.
Der Rechtswissenschaftler Jannis Lennartz, Humboldt-Universität Berlin, hat diesen sehr seltenen Vorgang — Kundige wissen, zuvor habe nur Kanzler Adenauer 1956 in Sachen europäischer Integration zu diesem Instrument gegriffen — auf dem verfassungsblog akribisch-differenziert gewürdigt.
Er stellt zunächst die Fragen, die in den letzten Wochen viele gestellt haben: Zog der Kanzler sein letztes Blatt? Ist er jetzt stärker oder schwächer? Was sagt das über ihn? Sein Schluss: Der Kanzler ist nicht fähig, seine Minister zu überzeugen und die wiederum nicht ihre jeweilige Fraktion und Partei.
Seine Betrachtungen führen den Autor zudem zu einer vorläufigen Charakterisierung des Scholzschen Führungsstils: Da gebe es eine „Mischung aus langem Schweigen und hervorschnappendem Bestimmen“, womit er sich sowohl „von Merkels stiller wie von Schröders jovialer Autorität“ unterscheide; Merkel wird “Führung aus der Deckung“ bescheinigt. Scholz sei manchmal besonnen autoritär, manchmal kombiniere er die Stile der Beiden und biete wie anlässlich des Konfliktes um die Energiepolitik „ein Basta in Slow Motion“.
Was dem Verfassungsjuristen besonders auffällt: Die Kunst des Regierens ruhe in Deutschland nicht auf Kompetenzen, sondern auf der Sicherung von Vertrauen und der Kunst des Überzeugens zwischen den führenden Regierenden und den Spitzen der jeweiligen Regierungsfraktionen. Lennartz: „Der Bundeskanzler ist nach der Anlage des Grundgesetzes und 70 Jahren gelungener republikanischer Praxis der politische Anführer der parlamentarischen Mehrheit.“
„Jargon der Entschlossenheit“
Vor diesem politischen Hintergrund falle besonders die „Formalität“ des Kanzler-Verhaltens auf, wie er da auftrumpfe mit seiner (formalen) Kompetenz. Mit einer Erinnerung an Angela Merkel schärft er diesen Vorgang noch: Einen Merkel-Brief an Seehofer, in dem diese auf Richtlinien poche, den gibt es nicht, den hält er (zumindest im Nachhinein) auch für unvorstellbar. So könne, schreibt Lennartz, das Scholz-Verhalten so gedeutet werden: Er habe „einen Jargon der Entschlossenheit“ gewählt, mit dem versucht wird, einen Mangel an politischer Gestaltungs- und Überzeugungskraft „ästhetisch zu überdecken“. Man kann die Scholz-Performance aber wie Fritz B. Simon auf seinem Blog Kehrwoche auch einfach zum Anlass nehmen, an Nutzen und Vorteile von Hierarchie zu erinnern: „Der Vorteil eines Machtworts bzw. der Rolle und Funktion der Hierarchie und der formalen Macht ist, dass keiner der Kontrahenten des Konflikts von seiner Position abgehen muss. Jeder kann das Gesicht wahren – zumindest wenn die Reihe der Entscheidungen über die Zeit keine dauerhaften Gewinner und Verlierer produziert.“
Vielleicht kann Scholz im Zweifel nur noch zu Formalien greifen. Politikwissenschaftler wie Wolfgang Schroeder, Universität Kassel und Wissenschaftszentrum Berlin, die es mit dieser Regierung eher wohlmeinen, vertreten bereits seit geraumer Zeit die These, der Koalitionsvertrag, also die politische Grundlage des Ganzen, trage nicht mehr und müsse eigentlich neu ausgearbeitet werden; der etwas hilflose Begriff eines Relaunches kursiert. Verabredet worden sei, vier Jahre lang im Geiste einer sozial-ökologischen Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft zu arbeiten. Mit dem Angriffskrieg gegen die Ukraine habe sich zu viel geändert, als dass dieses Viele einfach so im Alltag, quasi nebenbei, dem Geist des Koalitionsvertrages angepasst werden könne.
Vielleicht erklärt das Wegbrechen des politischen Grundes dieser Regierung, warum der selbsternannte Produzent und Lieferant von politischer Führung sich gezwungen sah, zu einem sachlich eher kleinlichen, wenngleich politisch ausgeblasenen Vorgang — ob jetzt zwei oder drei AKW`s noch ein bisschen weiterlaufen — ein so wuchtiges Instrument aus der Schublade zu holen, das er darüber ein wenig der Lächerlichkeit preisgab.
Ein Theaterstück:
Robert: Wir müssen was tun. Vielleicht ist der Weiterbetrieb der AKWs gar keine so schlechte Idee. Ich denke darüber nach, muss aber Rücksicht auf meine Partei nehmen. Das ist ein Problem unserer Identität.
Christian: Wir brauchen die AKWs auf jeden Fall. Ich plädiere für eine Verlängerung der Laufzeit bis 2024 oder 2025.
Olaf: [Schweigen, schlumpfiges Grinsen]
Christian: Robert, könntest du mit einer Verlängerung leben?
Robert: Im Prinzip ja, aber meine Partei, wir haben den Parteitag vor der Brust, da müssen wir sensibel sein, es gibt Befindlichkeiten.
Olaf: [Schweigen, schlumpfiges Grinsen]
Christian: Robert, wir müssen eine Lösung finden, so kommen wir nicht zusammen.
Robert: Vielleicht finden wir einen Kompromiss, aber bitte erst nach dem Parteitag, sonst gibt es ein echtes Problem.
Christian: Olaf, jetzt musst du ran. Sprich ein Machtwort. Wir müssen vermeiden, dass das an uns hängen bleibt.
Olaf: OK, wenn ihr meint… – Was soll ich sagen?
Robert: AKW-Laufzeit mindestens bis April 2023. Aber bitte mit klarem Ende.
Christian: Das ist scheiße, aber besser al nichts. Also gut. Aber es muss klar werden, dass wir eigentlich mehr haben wollten. Sonst kacken wir von der FDP ab wie schon in Niedersachsen.
Olaf: OK, also wenn ihr meint. Ich spreche ein Machtwort und nehme meine Richtlinienkompetenz in Anspruch. AKW-Laufzeit bis April, aber ohne zusätzliche Brennstäbe.
Robert: Super, aber erst nach dem Parteitag.
Olaf: Und ihr müsst so tun als ob ich euch echt gezwungen habe. Schließlich habe ich ein Image zu verlieren.
Robert/Christian: OK, wir sind dabei, wenn auch mit Bauchschmerzen.
Olaf: Ich trete mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, aber es muss klar sein, dass das meine Idee und Entscheidung war.
Christian/Robert: OK, leg los.
Olaf: [Schlumpfiges Grinsen]. Seht ihr. Ihr wollt Führung, ihr kriegt Führung. Hab ich’s doch gesagt.
In einer Koalition kann die im Grundgesetz vorgesehene Richtlinienkompetenz des Bundeskanzlers nur sinnvoll angewendet werden, entweder um die Koalition zu beenden, oder wenn die Koalitionspartner den Bundeskanzler bitten, seine Richtlinienkompetenz anzuwenden.
In der Entscheidung zum Weiterbetrieb der Atomkraftwerke dürfte das Letztere der Fall gewesen sein.
FDP und Grüne hatten sich in einer aus dem Ruder gelaufenen „Detailfrage“ der Energiepolitik – der Länge der überschaubaren Laufzeit der noch verbliebenen Atomkraftwerke – bis zur Handlungsunfähigkeit und letztlich auch nicht nachvollziehbar so verhakt und gefesselt, dass beide Parteien zu einer Bewegung in Richtung Kompromiss nicht mehr in der Lage waren, ohne dass eine der beiden Parteien eine Niederlage hätte einräumen müssen. Dabei hätte eine Niederlage einer der beiden Parteien die Koalition insgesamt geschwächt.
Für die Entscheidung des Kanzlers mit Berufung auf seine Richtlinienkompetenz, die im Ergebnis einen realistischen Koalitionskompromiss im Streit um die „Detailfrage“ darstellt, hätte es die Anwendung der Richtlinienkompetenz nicht gebraucht. Diese Anwendung hat jedoch FDP und Grüne vor einer offenen Niederlage bewahrt, und damit die Koalition insgesamt stabilisiert.
Mehr noch: Der Rückgriff auf die Richtlinienkompetenz des Grundgesetzes, die sonst bisher kein wirkliche Bedeutung im politischen Leben der Bundesrepublik hatte, gleichsam als Zauberkniff in einer scheinbar schwierigen Situation zeigt, dass die Ampel bei allen Schwierigkeiten zu einer von vielen unerwarteten Kreativität in der Lage ist.