Seit dem russischen Überfall auf die Ukraine ist es schwierig, abweichende Meinungen öffentlich zu vertreten. „Putintroll“ ist das gängige Schimpfwort, gemeint sind schlicht Leute, die sich für Frieden und Diplomatie einsetzen. Objekte des Zorns sind dabei weniger notorische Dissident:innen wie die seit Jahren als mediale Watschenfrau fungierende Linke Sahra Wagenknecht.
Das Bashing von Personen, denen oft zugleich die fachliche Eignung abgesprochen wird, trifft vor allem Sozialdemokraten – weil sie das Erbe von Willy Brandt und Egon Bahr hochhalten. Die einstigen Architekten der Ostpolitik waren stets für eine Versöhnung mit dem von den Nationalsozialisten überfallenen Russland eingetreten, sie haben dabei viel erreicht und mittelbar auch zur deutschen Vereinigung beigetragen.
Schon während der Pandemie machte sich ein intolerantes Diskussionsklima in Deutschland breit, das in der Verunglimpfung der Unterzeichner von „allesdichtmachen“ einen Höhepunkt fand. So stieß der Schauspieler Jan-Josef Liefers auf massive Empörung, weil er wie rund 50 seiner Kolleg:innen die deutsche Coronapolitik ironisch kritisiert hatte.
Für die Onlinevideos musst er sich in inquisitorisch geführten Interviews rechtfertigen, in Talkshows gegen drei oder vier weitere Gäste antreten, die sich untereinander und mit der Moderation einig waren. Die mediale Front, die Zweifelnde weitgehend ausgrenzte, war erschreckend genug. Noch extremer war die Reaktion des SPD-Politikers und früheren nordrhein-westfälischen Wirtschaftsministers Garrelt Duin. Liefers dürfte nicht länger beim „Tatort“ mitspielen, sein Engagement sei sofort zu beenden, verlangte Duin, der Mitglied im WDR-Rundfunkrat ist. Das ging selbst dem damaligen CDU-Ministerpräsidenten Armin Laschet zu weit. Der Künstler bekam seinen Vertrag verlängert, bis heute mimt er den skurrilen Münsteraner Rechtsmediziner Karl-Friedrich Börne.
Lange Liste von Abgekanzelten
Während die Affäre für Liefers noch glimpflich ausging, sind neben Politikern zurzeit auch Hochschullehrerinnen, Publizisten oder Kirchenfunktionäre heftigsten Vorwürfen ausgesetzt. Teils grenzen diese Kampagnen an Rufmord und gefährden berufliche Existenzen. Um ihren Job fürchten muss zum Beispiel Ulrike Guérot, die seit Herbst 2021 Europapolitik an der Universität Bonn lehrt. Früher CDU-Mitglied, stuft sich die Professorin heute als „linksliberal“ ein, eckt aber gerade in diesem Milieu am meisten an.
In einem umstrittenen, zum Teil tatsächlich verschwörungstheoretisch anmutenden Buch kritisiert sie die Coronamaßnahmen. In ihrer jüngsten Publikation „Endspiel Europa“ plädiert sie dafür, die Schuld für den Krieg nicht allein bei Russland zu suchen, bewertet die Nato-Erweiterung als Fehler und Provokation. In Leitmedien wie der Frankfurter Allgemeinen oder in Internetportalen wie t-online.de zweifeln Osteuropa-Experten Guérots wissenschaftliche Kompetenz an. Auch die Leitung und der AStA der Bonner Uni haben sich unterdessen von ihr distanziert.
Ähnlich unter Druck geraten ist Gabriele Krone-Schmalz, die lange für die ARD aus Moskau berichtet hat und in journalistischen Kreisen als fundierte Kennerin Russlands gilt. Ihr Vortrag an der Volkshochschule Reutlingen ging im Netz mit fast einer Million Aufrufen viral. Nicht nur die Referentin, auch der gastgebende VHS-Chef wurden heftig angegangen.
Die Entspannungsbemühungen der 1970er Jahre in der Rückschau positiv zu bewerten, auf russische Sicherheitsinteressen und Ängste hinzuweisen oder diese gar in Verbindung zu bringen mit den Naziverbrechen in der Sowjetunion: Das grenzt in einer aufgeheizten Stimmung, die bisweilen an den Beginn des Ersten Weltkriegs 1914 erinnert, für manche schon an Landesverrat.
Die Liste der öffentlich Abgekanzelten ist lang: Emma-Herausgeberin Alice Schwarzer, die Ende April einen offenen Brief initiierte, der Kanzler Olaf Scholz gegen den Vorwurf des „Zauderns“ bei Waffenlieferungen in Schutz nahm. Die Autoren Richard David Precht und Harald Welzer, die in ihrem Bestseller „Die vierte Gewalt“ die Rolle der Medien hinterfragen, nicht nur aus aktuellem Anlass. Hamburgs Ex-Bürgermeister Klaus von Dohnanyi, der in einem noch vor dem Krieg abgeschlossenen Buch für die Verfolgung „nationaler Interessen“ und gegen eine zu starke Abhängigkeit von den USA Position bezieht.
Wesentlich beteiligt an dieser Cancel Culture in Kriegszeiten ist auch die ukrainische Propaganda, die sich nicht wesentlich von der russischen unterscheidet. Selbst gemäßigt auftretenden Politikern, wie SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich, macht man in Kiew den Vorwurf, Desinformationen zu verbreiten. Der Dauertwitterer und mittlerweile abgesetzte, weil untragbar gewordene Botschafter in Deutschland Andrij Melnyk überzog Andersdenkende mit polemischen Vorwürfen und verbalen Tiefschlägen.
Zuletzt, obwohl schon in die Heimat zurückbeordert, traf sein undiplomatischer Furor die Synode der Evangelischen Kirche, die er als „Diener von Judas“ bezeichnete. Die dort Versammelten hatten es gewagt, sich nicht klar vom christlichen Pazifismus abzuwenden. Sie regten einen Waffenstillstand an und forderten, „das Gespräch nicht zu verachten“. Das reicht offenbar, um sich den Vorwurf einzuhandeln, ein „Putintroll“ zu sein.
Unter dem Titel „Antimilitaristen im Abseits“ erschien der Beitrag zuerst in der taz.
Siehe auf bruchstücke auch den Podcast „Ein Diplomat als Superstar der Meinungsfreiheit“ sowie den Beitrag „Ukraine, NATO, Neutralität oder Irrungen und Wirrungen des Klaus von Dohnanyi“
Grundsätzlich stimme ich dem Autor zu, was das verengte Meinungsklima in der Öffentlichkeit betrifft, also in den meinungsbildenden klassischen Medien, erst recht den sog. sozialen. Allerdings: Auch konträre, den überwiegenden Positionen widersprechende Personen müssen sich der Kontroverse stellen und sollten sich nicht beklagen, wenn sie heftigen Gegenwind bekommen. Die in dem Text genannten, mit denen ich z.T. lange Interviews geführt habe wie z.B. mit Guerot, teilen sie selbst gerne heftig aus.
Die Ost-Politik von Willy Brandt und Egon Bahr hat sicherlich historische Verdienste, auch langfristig mit Blick auf die Überwindung der dt. und europ. Teilung. Aber sie basierte auf den Gegenbenheiten des Kalten Kriegs, nicht der heutigen Zeit mit einem neo-imperialistischen Russland. Ihre Vertreter aus der damaligen Zeit oder heute wie Mützenicht, wollen das offensichtlich entweder nicht einsehen. Oder sie ignorieren bis heute, dass Nazi-Deutschland nicht Russland überfallen hat, sondern die Sowjetunion. Die meisten Opfer gab es damals in der Ukraine, die schon vorher von Stalin einem Völkermord und von den Bolschewisten wie vorher den Zaren dem Versuch der kulturellen und sozialen Auslöschung ausgesetzt waren. Zudem wird meist vergessen, dass Stalin sich mit Hitler durch ihren Pakt Mittel- und Osteuropa aufgeteilt hatten (4. polnische Teilung usw.). Ab 1945 konnte die Moskauer Führung dann für Jahrzehnte den östlichen Tei Europas incl. der DDR unterwerfen.
An all das knüpft Putin an, und darauf müssten auch die Kritiker der jetzigen Politik des Westens eingehen. Tun sie aber i.d.R. nicht.
Die Gegenkritik richtet sich auch nicht gegen „den Pazifist“. Ich bin selbst anerkannter Kriegsdiensverweigerer und sehe mich als Pazifisten. Einem Volk und Land, dass in dieser entsetzlichen Weise angegriffen wird, muss man m.E. jedoch zur Hilfe eilen. Unabhängig davon, was man von der ukrainischen oder westlichen Politik sonst hält.
Gesterkamp schreibt: „Das Bashing von Personen, denen oft zugleich die fachliche Eignung abgesprochen wird, trifft vor allem Sozialdemokraten – weil sie das Erbe von Willy Brandt und Egon Bahr hochhalten.“ Aber die beiden Sozialdemokraten auf seiner Liste der „gebashten“ Personen sind doch deutlich die Minderheit.
Dass Kritiken an den genannten Personen nicht durch die Bank weg als Bashing diffamiert werden sollten, zeigt die durchaus differenzierte Kritik von Franziska Davies an Gabriele Krone-Schmalz (die Davies umgehend eine Unterlassungsklage an den Hals hängen wollte), nachzulesen unter https://zeitschrift-osteuropa.de/blog/desinformation/.
Und was das Erbe von Willy Brandt und Egon Bahr anbelangt: Die Kritik richtet sich (a) gegen eine einseitige Interpretation der Brandtschen Ostpolitik und (b) gegen Versuche, diese ohne Berücksichtigung des völlig anderen Umfelds auf die heutige Zeit übertragen zu wollen.
Lieber Thomas Gesterkamp, ich habe mir antrainiert, mit dem Wort Dissident vorsichtig umzugehen. Das lateinische Verb „dissidere“ hatte oft etwas mit der Trennung in feindliche Lager während eines Krieges zu tun. Krieg liegt in der Deutung. Es ist übrigens eine Fremdbezeichnung, in der Neuzeit auf jene angewandt, die eine bestimmte Glaubensrichtung nicht akzeptierten. Daher bin ich skeptisch, ob das Wort auf Sahra Wagenknecht passt. Das nur am Rand. Abweichende und konträre Meinungen zu äußern, ist durchaus üblich, ist nicht zu schelten. Es ist gutes Recht. Wer sich einmengt, ernsthaft den Diskurs will, nicht zustimmt, also etwas auseinander nehmen will, Zweifel äußert, der muss freilich bereit sein, seine Quellen offen zu legen. Meinung allein reicht da nicht. Das mag bei Frau Will oder anderen genügen, im Diskurs genügt es nicht. Was heißt: In der „echten“ verbalen oder schriftlichen Auseinandersetzung haben Augenblicks-Taktiken und nicht zu überprüfende Hinweise nichts zu suchen.
Das beginnt bereits bei der Berufung auf Willy Brandt und die Versöhnung. Brandt hat im Gegensatz zu manchem, was im nachgesagt worden ist, den Aspekt der äußeren Sicherheit nicht vernachlässigt. Beispiel Regierungserklärung vom 28.Oktober 1969. Seine einleitenden Sätze lauteten klar und unmissverständlich: „Wir sind entschlossen, die Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland und den Zusammenhalt der deutschen Nation zu wahren, den Frieden zu erhalten und an einer europäischen Friedensordnung mitzuarbeiten, die Freiheitsrechte und den Wohlstand unseres Volkes zu erweitern und unser Land so zu entwickeln, daß sein Rang in der Welt von morgen anerkannt und gesichert sein wird.“
Sicherheit, Zusammenhalt, Frieden wahren, Freiheitsrechte und Wohlstand mehren. Die Sicherheit der Bundesrepublik stand für ihn 1969 an erster Stelle.
Als Beispiel für an Rufmord grenzende Kampagnen nennen Sie den Fall Guerot. Ich zitiere aus plagiatsgutachten.com: „Plagiiert sie (auch) absichtlich? Um diese Fragen zu beantworten, lohnt es sich, einen Blick in das kürzlich erschienene, schmale Pamphlet „Wer schweigt, stimmt zu“ von Ulrike Guérot zu werfen. ….. Und tatsächlich: Am auffälligsten sind absatz- bis seitenweise ungekennzeichnete und unbelegte Übernahmen aus Paul Watzlawicks „Wir wirklich ist die WIrklichkeit?“ aus dem Jahr 1977. Man möchte fast sagen: Diese Trivial-Ausgabe des Radikalen Konstruktivismus wurde hier 45 Jahre später für Corona-Maßnahmen-Skeptizismus missbraucht.
Ich könnte diese Reihe fortsetzen. Ich hätte mich Ihnen gegenüber auch nicht zu Wort gemeldet, wäre ich nicht über den folgenden Satz gestolpert: „Wesentlich beteiligt an dieser Cancel Culture in Kriegszeiten ist auch die ukrainische Propaganda, die sich nicht wesentlich von der russischen unterscheidet.“
…die sich nicht wesentlich… unterscheidet. Können Sie das wirklich belegen? Wo sind auf der ukrainischen Seite die Pendants zu den Mordgesellen in den staatlich-russischen Medien, wo solche Lügenbolde wie Lawrow oder Peskow? Wohlan! Belegen Sie!