Das islamistische und das linke Opfernarrativ

Als der amerikanische Historiker Francis Fukuyama 1989 in einem Zeitschriftenaufsatz das „Ende der Geschichte“ ausrief und einen weltweiten Sieg des westlichen demokratischen und marktwirtschaftlichen Gesellschaftssystems vorhersagte, war das für viele eine kühne, aber nicht ganz unplausible Situationseinschätzung. Der Zusammenbruch der Sowjetunion hatte die Dysfunktionalität des sozialistischen Gesellschaftsmodells offenbar gemacht, in den Staaten des früheren Ostblocks gab es demokratische Revolutionen, China begann mit der Öffnung in Richtung Marktwirtschaft und viele erwarteten, dass sich damit dort langfristig auch liberale und demokratische Ideen durchsetzen. Heute, mehr als dreißig Jahre später, zeigt sich ein ganz anderes Bild.

Der Überfall Russlands auf die Ukraine am 24. Februar 2022 hat die Hoffnungen zerstört, durch die Einbindung des Landes in Handelsbeziehungen dessen imperiale Ansprüche zu bändigen und innerhalb des Landes demokratische Entwicklungen zu stärken. Die kommunistische Parteiherrschaft in China zeigt sich nach innen immer autoritärer und nach außen zunehmend aggressiv. Die in den „arabischen Frühling“ gesetzten Hoffnungen sind zerstoben. Der Versuch, in Afghanistan mit Milliarden an finanziellen Hilfsmitteln und militärischer Intervention einen demokratischen Staat und eine funktionierende Zivilgesellschaft nach westlichem Vorbild aufzubauen, endeten in einem Desaster. Antiwestliche Sentiments verstärken sich in vielen Teilen der Welt, nicht immer, aber sehr oft befeuert von autoritären Diktaturen und Gewaltherrschern.

Susanne Schröter (Foto: Raimond Spekking auf wikimedia commons)

Susanne Schröter, Leiterin des Frankfurter Forschungszentrums Globaler Islam und Professorin an der Goethe-Universität, sieht zwei Ursachen für das „globale Scheitern“ des Westens: eine aus Ignoranz und Arroganz gespeiste Hybris einer vermeintlichen Überlegenheit des westlichen Gesellschaftsmodells auf der einen Seite und einen damit in paradoxer Weise gepaarten Selbsthass der westlichen Gesellschaft auf der anderen, der sich nicht nur im Antikapitalismus der traditionellen Linken, sondern auch in den modischen und teilweise recht kruden Ideologien von „Postkolonialismus“, „Critical Race Theory“ und Genderaktivismus Ausdruck gibt. Der Westen sei seiner Sache viel zu sicher und gebe gleichzeitig seine Werte und Errungenschaften ohne Not preis.

Auf rund 200 sehr klar und verständlich, ohne soziologischen Begriffsschwulst geschriebenen Seiten schlägt Schröters Zeitdiagnose einen sehr großen Bogen von den Schauplätzen weltpolitischer Konflikte zu den identitätspolitischen und kulturellen Kampfplätzen an Universitäten, in Institutionen und Mittelschichtmilieus westlicher Gesellschaften. Es ist ein für ein so umfassendes Thema sehr kompakter Band, der aber in aller Knappheit, in der die jeweils für sich sehr komplexen Probleme abgehandelt werden doch viele Informationen und kluge Einblicke versammelt.

Machtlogik patriarchalischer Stammesgesellschaften

Am Beispiel des westlichen Scheiterns in Afghanistan zeigt Schröter, mit welch naiven Vorstellungen der Westen meinte, eine tief in archaischen Stammesstrukturen verwurzelte Gesellschaft in kurzer Zeit zu westlichen Standards von Liberalität und Demokratie führen zu können. Hier sei die westliche Allianz von NATO-Staaten einfach eigenen Wunschvorstellungen aufgesessen, habe es versäumt, die eigenen Prämissen kritisch zu hinterfragen und sich ernsthaft mit der Kultur des Landes und seinen Machtstrukturen zu beschäftigen. Im Ergebnis habe man nicht nur eine schmähliche, von der ganzen Welt beobachtete politische und militärische Niederlage erlebt, sondern habe während der über zwanzig Jahre währenden Kampagne eine durch und durch korrupte Gesellschaft genährt, die sich schließlich widerstandslos den Taliban ergeben hat. Wenn man sich nur etwas näher mit der Machtlogik einer patriarchalischen Stammesgesellschaft, wie sie in Afghanistan herrschte, beschäftigt hätte, hätte man, wie Schröter zeigt, von Anfang an zu einer realistischeren Einschätzung der Möglichkeit kommen können, westliche Standards bei Geschlechterrollen, Bildung, Zivilgesellschaft und staatlicher Verwaltung durchzusetzen. So aber hat man sich von ein paar Vorzeigeprojekten und dem oberflächlichen Eindruck von gesellschaftlicher Modernisierung in den wenigen städtischen Zentren blenden lassen und ist schließlich an der Realität gescheitert.

Foto: 12019 auf Pixabay

Einen Mangel an Realismus sieht Schröter auch beim Umgang mit dem Islam. In knapper, aber präziser Form gibt sie einen Abriss des Aufstiegs des Islam, seiner Rückschläge und den Quellen der wirkmächtigen Narrative der Muslime als Opfer von Kolonialismus und Unterdrückung. Der moderne politische Islam hatte stets vielfältige Erscheinungsformen. Einig war man sich dort aber immer in der Ablehnung westlicher Werte, hinter denen man kolonialistische oder imperialistische Unterwerfungsstrategien zu erkennen meinte.

Genau darin besteht die ideologische Brücke zur westlichen Linken. Der Aufstieg des Ajatollah Khomeini wurde maßgeblich von linken Intellektuellen wie Michel Foucault gefördert, die islamische Revolution im Iran bei den westlichen Linken durchweg begrüßt. Man übersah die fundamentalistischen Motive und den absoluten Herrschaftsanspruch Khomeinis gerne, weil der von den Islamisten gebrandmarkte „große Satan“ USA doch auch in der eigenen Ideologie als Ursache fast aller Weltübel angesehen wurde. Ähnlich verfuhr man bei islamistischen Bewegungen in anderen Weltteilen. Das islamistische Opfernarrativ und das linke Opfernarrativ ergänzten sich immer wieder bestens. Dass man damit genuin linke Werte wie Gleichberechtigung und Emanzipation massiv konterkarierte, gehört, wie Schröter zeigt, zur Schizophrenie der Linken, die sich auch im Umgang mit dem sogenannten „realen Sozialismus“ oder mit autoritären Regimen in der dritten Welt zeigt. Die Ablehnung der USA und des von ihr verkörperten kapitalistischen Gesellschaftssystems wiegt in aller Regel schwerer als Menschenrechte, liberale Werte oder nur eine genauere Betrachtung der tatsächlichen sozialen Lebensverhältnisse in den Ländern, mit denen man sich solidarisch erklärt.

Instruktiv sind auch die Kapitel zum Umgang mit dem Islamismus. Auch der kranke daran, dass man sich kritiklos dem Opfernarrativ anschließt, das vor allem von den organisierten Vertretern des Islam immer wieder reproduziert wird. Kritik an den rückwärtsgewandten Vorstellungen und Werten unter den Muslimen werde nicht nur von den Islamverbänden, sondern auch von sich links gebenden Politikern, Wissenschaftlern und Medienschaffenden schnell mit dem Vorwurf der „Islamophobie“, wenn nicht gar des „antimuslimischen Rassismus“ gekontert. Damit verfehle man nicht nur die Sache selbst, sondern falle auch all denen in den Rücken, die sich für eine Modernisierung und Liberalisierung des Islam einsetzen. Es ist Schröter zuzustimmen, dass eine realistische und ehrliche Bestandsaufnahme der bestehenden Probleme wesentlich mehr zur Integration und zum wechselseitigen Verständnis von Muslimen und Nicht-Muslimen beiträgt als Beschönigungen und Tabus. Wunschdenken führt auch in der Migrations- und Integrationspolitik in die falsche Richtung. Notwendig scheint vielmehr eine selbstbewusste Verteidigung der Werte und Normen einer liberalen Gesellschaft.

Identitätspolitik als Geschäftsmodell

Sehr instruktiv sind die Kapitel zu den Varianten der neuen linken Identitätspolitik und deren Hintergrundtheorien wie die sogenannte „postkolonialistische“ Theorie und die vor allem in den USA mit den „Black-Lives-Matter“-Bewegung bekannt und prominent gewordene „Critical Race Theory“. Beide sind, so scheint es, mehr Ideologie als Wissenschaft. Auf jeden Fall stehen sie auf sehr wackeligen Grundlagen, was Schröter am Beispiel des einflussreichen „Postkolonialismus“-Theoretikers Edward Saïd zeigt. Was diese Theorien eint, ist der anti-westliche Duktus, zugleich aber ihr großer Einfluss auf mediale Diskurse und ihre hohe Mobilisierungskraft. Ähnlich wie die pseudowissenschaftlichen „Gender“-Theorien haben sie ihren Siegeszug in den geisteswissenschaftlichen Fakultäten amerikanischer Eliteuniversitäten begonnen, dann aber auch in Europa und anderen Teilen der Welt großen Einfluss gewonnen. Die „Critical Race Theory“ erweise sich, so Schröter, bei näherer Betrachtung als so etwas wie ein umgedrehter Rassismus, der den Weißen eine nicht zu löschende Schuld an allen historischen Missetaten der wirklichen Rassisten zuschiebt, so etwas wie eine Erbsünde des Weißseins. Ein solche Auffassung wäre harmlos, bliebe sie eine der ja nicht so wenigen Skurrilitäten im Denken einer abgehobenen Schicht von Akademikern und Intellektuellen. Hochproblematisch ist allerdings, wenn sich diese Theorien, wie geschehen, Alleinvertretungsansprüche für bestimmte Themen anmaßen und neue Formen der Intoleranz befeuern, etwa der Cancel-Culture in Universitäten, Medien und der Öffentlichkeit. Auch die Nähe der Postkolonialismus-Theorie zu antisemitischen Positionen und zur Relativierung des Holocaust sollte eigentlich skeptisch stimmen.

Identitätspolitik ist, folgt man Schröter, inzwischen nicht nur eine ideologische Verirrung, sondern ein regelrechtes Geschäftsmodell. Mit ihr werden Quotierungen bei der Vergabe von gutbezahlten Stellen im öffentlichen Dienst begründet. Eine Vielzahl von Instituten und Bildungseinrichtungen lebt inzwischen von der üppigen Förderung identitätspolitischer Themen. Identitätspolitisch instruierte Absolventen geisteswissenschaftlicher Studiengänge haben Einfluss in Medien, Kommunalparlamenten und Verbänden und treiben von dort aus die Verbreitung ihrer Deutungsmuster voran. Eine regelrechte Diversitätsindustrie von Beauftragten, Trainern, Handbuchautoren und Projektemachern lebt inzwischen recht gut von diesem Trend.

Susanne Schröter negiert die vielfältigen Probleme westlicher Gesellschaften mit Ungleichheit, Diskriminierung und auch Rassismus keineswegs. Sie weist allerdings deutlich darauf hin, dass man diese Probleme nicht lösen kann, wenn man sie als Legitimation für einen fundamentalen Selbsthass der freiheitlichen Gesellschaft missbraucht und damit letzten Endes das Geschäft all derer betreibt, denen Aufklärung und Liberalität selbst Dorne im Auge sind.

Das Doppelphänomen von Hybris und Selbsthass

Was man in dem bei den vielen Reizthemen durchaus produktiv zuspitzenden Buch etwas vermisst, sind Erklärungen für das Doppelphänomen von Hybris und Selbsthass. Warum hat der Selbsthass Konjunktur? Warum sind Postkolonialimus-, Critical-Race- und Gendertheorien im öffentlichen Diskurs so anschlussfähig? Warum gelingt es so leicht, kritische Stimmen dazu in die „rechte“ Ecke und diskursive Tabuzonen zu drängen? Warum gibt es die „doppelte Selbstüberschätzung“ des Westens, der sich gleichzeitig die Macht zum Bösen in Form von Rassismus und Kolonialismus und die Macht zum Guten der Demokratisierung und Liberalisierung der ganzen Welt zumisst?

Und natürlich fragt sich der politisch interessierte Leser, wie die Alternativen zur kritisierten Politik des Westens in Afghanistan und in anderen Ländern aussehen könnten. Dazu schweigt die Autorin. Hätte man Afghanistan sich selbst überlassen sollen? Soll man vor der Verletzung von universell geltenden Menschenrechten in archaischen Kulturen die Augen verschließen? Wäre das Realpolitik?

Noch ist nicht klar, wie eine realistische Politik aussehen könnte, die nicht in Hybris verfällt, aber dennoch den universalistischen Anspruch von Aufklärung und Menschenrechten nicht aufgibt. Klarer scheint allerdings, wie mit den Ideologien des Selbsthasses der westlichen Gesellschaft umzugehen ist. Man muss sie kritisieren. Ideologiekritik war einmal die Meisterdisziplin der aufgeklärten Linken. Zeit, mal wieder darüber nachzudenken. Gelegentlich hilft dabei ein gutes Buch.

Susanne Schröter: Global gescheitert? Der Westen zwischen Anmaßung und Selbsthass.
Verlag Herder, 4. Auflage 2022. Klappenbroschur, 240 Seiten. 20 €

Matthias Schulze-Böing
Dr. Matthias Schulze-Böing studierte in Frankfurt am Main und Berlin Soziologie, Volkswirtschaft und Philosophie. Er arbeitete in der Sozialforschung, schrieb Schulfunksendungen und lehrte in der Erwachsenenbildung. Bis Ende 2020 war er Leiter des Amtes für Arbeitsförderung, Statistik und Integration der Stadt Offenbach am Main, zur Zeit arbeitet er als Berater für die Stadt Offenbach und ist Vorsitzender der Gesellschaft für Wirtschaft, Arbeit und Kultur e. V. (GEWAK), Frankfurt am Main, in der er zusammen mit der Goethe-Universität Frankfurt Forschungsprojekte und Projekte zum Wissenschaftstransfer im Bereich der Arbeitsmarktpolitik umsetzt. Zahlreiche Veröffentlichungen zum Arbeitsmarkt, zur Sozialpolitik, zur Verwaltungsreform, zur Stadtentwicklung und zu Themen der Migration.

1 Kommentar

  1. Im Schlussabsatz schreibt Matthias Schulze-Böing: „Klarer scheint allerdings, wie mit den Ideologien des Selbsthasses der westlichen Gesellschaft umzugehen ist.“
    Immerhin drückt sich in diesem Satz der Wunsch nach Klarheit am Ende eines aus meiner Sicht nicht wirklich klaren Beitrages aus.

    Und auch dieser Satz im Schlussabsatz ist nicht wirklich klar, nimmt er doch „Ideologien des Selbsthasses der westlichen Gesellschaft“ als gegeben an.

    Schon der Begriff des „Hasses“ im politischen Kontext bedarf der Klärung und Erläuterung, noch mehr der Begriff des „Selbsthasses“, und mit der Begriffsverbindung „Selbsthass der westlichen Gesellschaft“, der dem ganzen Beitrag zugrunde liegt, befindet man sich ganz im Dunklen, Trüben und Unklaren.

    Was soll „Selbsthass der westlichen Gesellschaft“ sein?

    Und um mit der Beschreibung und dem Begriff des Selbsthasses nachvollziehbare und politisch sinnvolle Aussagen zu machen, müsste schon dargelegt und begründet werden, warum man der Meinung ist, dass es einen Zustand der westlichen Gesellschaft gibt, der mit der Befindlichkeit des Selbsthasses angemessen zu beschreiben ist.

    Ohne diese Aufklärung, was Selbsthass im politische Kontext ist und warum man selbst in diesem Kontext von Selbsthass redet, erscheint die Beschreibung einer vermeintlichen ideologischen Befindlichkeit der westlichen Gesellschaft als Selbsthass, doch selbst Ausdruck einer ideologischen Befindlichkeit der oder des Beschreibenden zu sein.

    Zurecht schreibt Matthias Schulze-Böing im Schlussabsatz weiter: „Ideologiekritik war einmal die Meisterdisziplin der aufgeklärten Linken.“

    Einer ideologiekritischen aufgeklärten Betrachtung allerdings dürfte meines Erachtens der Beitrag nicht wirklich standhalten.

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