Lesen für die Demokratie

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Im Kontext der diesjährigen Frankfurter Buchmesse diskutierten der Dichter und Essayist Durs Grünbein, der slowenische Autor Aleš Šteger und der Lyriker und Übersetzer Matthias Göritz über das Ljubljana-Manifest.1 Dieses Manifest ist eine Warnung angesichts der Entwicklung des Lesens. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern haben sich mit dem Leseverhalten auseinander gesetzt, das im Zuge der Digitalisierung entstanden ist. Ihnen haben sich u.a. PEN International, die International Federation of Library Associations, EURead und die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung angeschlossen. Das Manifest hat eine Art Vorläufer, der aus dem Jahr 2019 stammt. Damals unterzeichneten mehr als 130 Leseforscherinnen und -forscher aus ganz Europa die Stavanger-Erklärung zur Zukunft des Lesens im Zeitalter der Digitalisierung. Sie hatte damals eine breite Debatte über die Nachteile des Bildschirmlesens angestoßen.

Die Diskussion der drei Schriftsteller im großen Saal der Deutschen Nationalbibliothek suchte Antworten auf die Frage Warum noch Bücher lesen? Von der Vielzahl der Themen, die sie diskutierten, seien zwei hervorgehoben: die Leseerfahrung der Gesprächspartner, die das Lesen und Schreiben zum wichtigsten Antrieb ihres Lebens gemacht haben, und die Frage, ob das Lesen zu einer stärkenden Kraft für die Demokratie werden kann.

Keiner von ihnen hielt das Lesen für einen Wert an sich, weil es zu guten wie zu bösen Zwecken verwendet werden kann. Ein Beispiel, welches Unheil Bücher anrichten können, war Hitlers Buch „Mein Kampf“. Deshalb geht es beim tiefen Lesen stets um kritisches, philosophisch reflektiertes Lesen. Für die Diskutanten ist es „Meditation“ oder „Ausbruch aus dem Hier und Heute“. Als „Erkenntnis- und Erlebnisform“ macht es den Unterschied zu den informellen Texten der mobilen Kommunikationsträger, mit denen sie täglich „zugeschüttet“ werden.

Generationswechsel beim Lesen

Gleichwohl ging es bei dem Gespräch nicht um eine „Verteidigung des Kulturgutes Buch“. Dies erschien aussichtslos angesichts der Flut elektronisch verteilter Texte und ihrer Vorteile wie den schnellen und raschen Zugriff auf Informationen und Wissen. Außerdem zeigten die Erfahrungen mit eigenen Kindern und Studierenden, dass beim Lesen ein Generationswechsel stattfindet. Es gibt aber negative Tendenzen: der „Druck des Kapitals“, die Präsenz „sozialer Netzwerke“, die „Bilder der Screens“ und die individuellen Versuche der Abhärtung gegen sie. Somit blieb die Frage, ob tiefes Lesen den Umgang mit Informationen verbessern und damit die Demokratie stärken kann, letztlich unbeantwortet. Aber die politische Welt solle auf ihre Textbasis hin überprüft werden, die Parteien auf ihre Programme, und erinnert wurde an die notwendige Richtigstellung der Begriffe und Worte.

Mir scheint darüber hinaus etwas erwähnenswert, weil es heute nicht mehr selbstverständlich ist: Drei Gesprächspartner führten unmoderiert auf einer Bühne vor Publikum ein Gespräch, dem eine Moderation nicht fehlte. Niemand vermisste an diesem Abend jene Art von Moderation, die Fragen stellt, den Gedanken der Antwort aber nicht aufnimmt, sondern abbricht, um einen Fragenkatalog abzuarbeiten. Deshalb war es ein Erlebnis, an dem Gespräch von gebildeten und kenntnisreichen Menschen teilzuhaben, die einander antworteten und einen neuen Gesichtspunkt nach dem anderen zum Thema beisteuerten.

Gegen Manipulation

Die Erfahrung dieser Veranstaltung veranlasste mich, mich mit dem Ljubljana-Manifest ausführlicher zu beschäftigen. Es stellt die These zur Diskussion, intensives Lesen in einer Demokratie trage dazu bei, dass die Menschen die Rolle von kritischen Bürgern einnehmen können. Es reduziere ihre Abhängigkeit von ihrer Umwelt auf ein Mindestmaß und erweitere die Unabhängigkeit bei der Beurteilung der Welt. Zugleich stärke es die Widerstandskraft der Individuen gegenüber der Manipulationsgefahr.

Der Gedanke, dass Lesen eine Form der Resilienz sein kann, hat schon Alberto Manguel in seinem Buch „Eine Geschichte des Lesens“ (1998) beschäftigt.2 Er rückte damals die Erfahrung mit Diktaturen ins Zentrum seiner Überlegungen und schrieb, dass die Diktatoren aller Epochen wussten, dass eine Bevölkerung, die als analphabetische Masse lebt, am leichtesten zu lenken ist. Sie suchen auch ihre Macht zu erhalten, indem sie den Lesestoff eindämmen. Wenn die Kultur des ausgiebigen Lesens nur einer kleinen Elite eines Landes vorbehalten ist, schlägt die Stunde solcher Politikerinnen und Politiker und solcher Unternehmerinnen und Unternehmer, die mit populistischen Vereinfachungen und fake news ihre partikularen Interessen gegen das Gemeinwohl durchzusetzen versuchen. Diese und andere Formen der Desinformation schwächen die Stabilität der Staatsform Demokratie.3

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Diese Erfahrung mussten erst vor kurzem die USA unter Donald Trump machen. Obwohl dieses Land (noch) keine Diktatur war, gelang es dem ehemaligen Präsidenten, auf seriösem Wissen basierende Nachrichten als fake news zu diskreditieren und sich mit Lügen und unwahren Behauptungen an der Macht zu halten. Dies war nur möglich, weil er Einfluss auf Teile der Medien hatte und sich viele Menschen von Ressentiments und Feinbildern leiten ließen. Vermutlich hätten auf einem Kontinent, auf dem die Kultur des tiefen kritischen Lesens und unabhängiges Denken weiter verbreitet gewesen wäre, die Trumpschen Manipulationen weitaus geringeren Einfluss besessen.

Wenn es um die Demokratie geht, darf intensives Lesen kein Privileg einer gebildeten Minderheit sein. Gegenwärtig mehr denn je. Solange die Intelligenzpresse die Qualität von publizierten Informationen sicherstellte, war ihr Wahrheitsanspruch unabhängig von der Position im demokratischen Meinungsspektrum gewährleistet. Aber diese Zeiten scheinen vorbei. Mittlerweile sorgen die sogenannten sozialen Netzwerke dafür, dass Meinungen in die Öffentlichkeit gelangen, deren Realitätsgehalt durch nichts abgesichert ist.4 Gerade deshalb muss intensives Lesen, das eine kritische Wahrnehmung der Politik, der Wirtschaft und der Medien erlaubt, zu einer Perspektive zumindest großer Teile der Bevölkerung werden. Aber warten die Bürgerinnen und Bürger auf diese Chance? Zweifel sind erlaubt.

Intensives Lesen ist ein knappes Gut

Das Manifest hebt die Bedeutung intensiven Lesens bei langen Texten hervor. Tiefes Lesen entwickelt analytisches und kritisches Denken. Wer so liest, probiert verschiedene Interpretationen aus, spürt Vorurteile und Widersprüche auf und entdeckt die komplexen und fragilen Verbindungen zwischen Texten und kulturellen Hintergründen. Darauf können Individuen beim Austausch von menschlichen Urteilen und Empfindungen nur schwerlich verzichten. Wie könnte es eine vitale demokratische Gesellschaft?!

Die Lesekompetenzen der Bürgerinnen und Bürger sind jedoch nicht auf dem Vormarsch, sondern auf dem Rückzug. Das Institut zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen (IQB) hat nachgewiesen, dass sich die Leistungen von Neuntklässlern im Fach Deutsch bedenklich verschlechtert haben.5 Das IQB erarbeitete im Auftrag für die Kultusministerkonferenz den „Bildungstrend 2022“, nach 2009 und 2015 die dritte Untersuchung. Demnach erreicht ein Drittel der Jugendlichen für den mittleren Schulabschluss weder die Mindeststandards im Lesen noch im Zuhören. Ein Fünftel verfehlt die Anforderungen an die Orthographie. Also können die Schulen ihren Auftrag der Kern-Alphabetisierung gegenüber einer großen Zahl ihrer Schülerinnen und Schüler nicht erfüllen.

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Ein beträchtlicher Teil von ihnen erreicht die Lernziele des Unterrichts nicht. Wenn sich dies bis zum Erwachsenenalter nicht ändert, werden sie als wahlberechtigte Bürgerinnen und Bürger die grundlegenden Informationen in ihrem Alltag nicht verstehen. Sie werden zwischen validen und nichtvaliden Informationsquellen nicht unterscheiden können und werden zu Opfern von Filterblasen, fake news und andere Formen der Desinformation. Mit solchen Defiziten an höheren Lesefähigkeiten und Lesepraktiken schließen sie sich von der demokratischen Teilhabe bei wichtigen gesellschaftlichen Fragen aus.

Lesen im „Zeitalter“ des Internets

Gibt es ein neues „Zeitalter“, das des Internets? Die Autorinnen und Autoren des Ljubljana-Manifests sprechen davon. Sein vielleicht wichtigstes Kennzeichen ist, dass die Menge des verfügbaren Lesestoffs nahezu explodiert. Es ist eine vernetzte Welt, in der die Bürgerinnen und Bürger unablässig lesen, mit Smartphones und mit Tablets mit ihren Alerts und Apps, ihren Nachrichten und Social-Media-Posts. Diese Welt ist größer geworden, denn selbst in bislang unterversorgten Regionen und abgelegenen Ortschaften sind „textuelle Inhalte“ einfacher zugänglich geworden. Und sie ist demokratischer: selbst Leserinnen und Leser mit verschiedenen Einschränkungen können ihren Informationsbedarf besser decken. Digitale Texte sind leserfreundlich und bieten gute Möglichkeiten, die Präsentation des Textes auf individuelle Präferenzen und Bedürfnisse abzustimmen.

Mehr Lesestoff, der leicht zugänglich ist, gab es also nie zuvor. Das immense Angebot an Informationen und Wissen im digitalen Raum hat aber eine Kehrseite. Der Stoff verführt Leserinnen und Leser zum oberflächlichen und fragmentarischen Lesen, macht sie zu Überfliegern von Textpassagen. Die digitale Form nährt ein übersteigertes Vertrauen in die Verständnisfähigkeit der Lesenden, sie evoziert dies eher als es gedruckte Texte tun. Die Forschung sagt: die Lesenden erinnern das Gelesene, das sich nicht wie auf einer Seite in einem bestimmten Teil eines Buchs oder einer Zeitung lokalisieren lässt, schlechter. Bildschirme und bedrucktes Papier sind als Lesemedien nicht gleichwertig. Papier ist das bessere Lesemedium für lange Texte, für ihr tiefes Verständnis und für das Behalten im Gedächtnis.6 Die Lesenden schulen ihre Fähigkeit zur Konzentration und bauen ihren Wortschatz auf. Studien mit mehr als 170.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmen haben nachgewiesen, dass das Verständnis langer Informationstexte beim Lesen auf Papier besser ist als beim Bildschirmlesen.

Nachlassende sprachliche Welterschließung

Die Entwicklung der Lesekultur mit der Ausbreitung der Kommunikationssysteme und dem Eindringen von Mobiles, Tablets, Watches etc. in den Alltag gehört in einen größeren Zusammenhang. Lesen ist auch eine zentrale Form der „sprachlichen Welterschließung“ (Ernst Cassirer), und zwar eine langwierige und mühselige. Sind Imojis, Bilder und Sprachnachrichten nicht ein verführerischer Anreiz für Heranwachsende, sie zu umgehen? Ließe die sprachliche Welterschließung nach, so hätte dies gravierende Folgen. Denn der Mensch ist ein animal symbolicum, das sich in einem Reich selbstgeschaffener Zeichen einrichtet und seine Orientierung aus diesen Zeichen empfängt. Er ist aber auch ein homo interpres, der Zeichen liest und deutet, wo er selbst gar keine hinterlassen hat. Der Umgang mit Zeichen organisiert das menschliche Weltverhältnis zwischen Entzauberung und Wiederverzauberung, zwischen der Verbannung von Bildern und ihrer Wiederkehr.7

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Zum anderen füllen die Nutzerinnen und Nutzer generell ihre Zeit mit Chats, Bildern, Infotainments etc. aus. Mobile Computer wie Handys oder Tablets sind Aufmerksamkeitsmagneten. Dabei entsteht eine Konkurrenz zweier Typen von Aufmerksamkeit. Die geteilte Aufmerksamkeit als ein Kern der Kommunikation, aber auch die für psychische Entwicklung notwendige geschenkte, für den anderen oder für anderes offene Aufmerksamkeit als ein wesentliches Moment der Zuwendung und Empathie, gerät unter den Druck selbstbezogener Aufmerksamkeit und instrumenteller Aufmerksamkeitslenkung.8 Warum ist dies so? Warum haben mobile elektronische Lese- und Kommunikationsgeräten einen solchen Erfolg?

Gewiss, die Bewusstseinsindustrie treibt die interaktiven Geräte und die Verbreitung elektronischer Texte voran. Aber ist es wirklich die politische und ökonomische Strategie einer Elite, die die Bevölkerung – nicht „das Volk“! – manipulativ beherrschen will? Dies könnte man bei Machthabern vom Typus Trump, Putin und Erdogan mit einem gewissen Recht vermuten. In westeuropäischen Demokratien liegt der Fall jedoch anders. Denn dort folgt der digitale Markt wirtschaftlichen Antrieben, oder genauer, polit-ökonomischen Motiven. Die technischen und kommunikativen Angebote sind für die Nutzerinnen und Nutzer attraktiv, aber wo liegen ihre Grenzen?

Die „Übernutzung“ der digitalen Welt, so meine These, hängt mit einer wenig entwickelten Resilienz der Bürgerinnen und Bürgen gegenüber den digitalen und medialen Angeboten zusammen. Es fällt ihnen schwer sich Grenzen zu setzen, also beispielsweise selbst zu bestimmen, bei welchen Gelegenheiten und Zeiten sie ihr Handy nicht in die Hand nehmen. Der Sog, der von den Aufmerksamkeitsmagneten ausgeht, könnte einem Prozess der Enteignung der Autonomie geschuldet sein.Ist es eine permanente Enteignung der Fantasie?9 Wenn man dem folgt, wurde zu Zeiten der Druckerzeugnisse die Fantasie durch Trivialliteratur und klassische Literatur abgelenkt. Aber Fantasie ist immer ein Stück Gemeineigentum, das nicht so verschieden ist von der Allmende. Im „Internetzeitalter“ würde die Enteignung der Fantasie nach Film und Fernsehen eine neue Stufe erreichen. Ihr „flottierender Charakter“ wird in technisch-ökonomischer Form okkupiert.

An dieser Stelle sei an die Abfolge einer Lenkungs-Typologie des Soziologen David Riesman erinnert.10 Er hatte 1958 den traditionell gelenkten Typus, den Protestanten mit Gewissen, von dem Radar-Typus unterschieden, der in seiner „diffusen Angst“ die Welt nach Nachrichten abtastet. Mit welchem Typus haben wir es in einer digitalisierten Welt zu tun? Was wir sagen können ist, dass er sich in permanenter Kommunikation auf sich selbst bezieht.

Intensives Lesen höher bewerten

Das Bildschirmlesen wird weiter zunehmen. Deshalb muss auch das intensive Lesen erhalten bleiben und seine Bedeutung neu, höher bewertet werden. Menschen mit einer stark entwickelten Lesekompetenz und -praxis fällt es leichter, Distanz zu den Signalen und den Reizen einer Nachricht zu halten. Sie lassen sich weniger von dem Alarmismus der Nachrichtenwelt reflexhaft anstecken, sondern setzen das neu Gelesene in Bezug zum vorhandenen Wissen. Damit sind wiederum bessere Voraussetzungen dafür gegeben, populistischen Vereinfachungen oder Verschwörungstheorien zu begegnen.

Staatliche Institutionen können und müssen für das intensive Lesen mehr tun. Das Ljubljana-Manifest führt dazu aus, dass hierzulande sich Bildungsinstitutionen zunehmend auf multimodale Medien konzentrieren. Dies geht zu Lasten der intensiven Auseinandersetzung mit textbasierter Information. Es ist fragwürdig, dass die Komplexität des Lesens als Problem angesehen wird, das durch Vereinfachung zu lösen sei. Diese Komplexität sollte vielmehr als notwendiges Spiegelbild menschlicher Komplexität verstanden werden, das komplexe, intensive Lesen als Aktivität, die das analytische und strategische Denken befördert. Es ist interessant, dass, während in deutschen Bundesländern das Primat digital verfügbarer Unterrichtsinhalte vorgegeben wird, die Regierungen in Schweden und Portugal entschieden haben, wieder gedruckte Schulbücher einzusetzen und die Digitalisierung des Unterrichts einzuschränken.

Wer sind die Adressaten des Manifests? Es sind, weit gefasst, die Akteure, die in Vermittlung, Förderung, Messung und Erforschung von Lesekompetenzen und -praktiken eingebunden sind. Dazu gehört das Lehrpersonal in den Schulen und Hochschulen, das Schülerinnen und Schülern und Studierenden Strategien vermittelt, tiefes Lesen und höherwertige Leseprozesse auf digitalen Geräten zu nutzen. Schulen und Schulbibliotheken sollten die Schülerinnen und Schüler weiterhin zur Lektüre gedruckter Bücher motivieren und in den Lehrplänen entsprechend Zeit dafür vorsehen. Für die Erziehung schlagen die Autorinnen und Autoren des Manifests vor, dass es einen empirisch validierten Unterricht in digitalen Lesefertigkeiten zu entwickeln gilt, um eine Auswahl, Bewertung und Integration der digitalen Information zu ermöglichen. Nicht zuletzt geht es darum, die gegenwärtige Messung von Lesekompetenzen mit standardisierten Tests zu verbessern. Zukünftig sind qualitative und deskriptive Daten in die Bewertungen einbeziehen. Die Leseforschung sollte ihren Fokus erweitern, indem sie Erkenntnisse aus Disziplinen wie der Informationsverhaltensforschung, der Neurowissenschaft, dem Mediendesign sowie aus der Vermittlung von Informationskompetenz einbezieht.

Organisierte Solidarität für intensives Lesen?

Dafür steht allerdings derzeit keine organisierte Solidarität zur Verfügung. Strategien, eine Gegenöffentlichkeit zu schaffen, hatten in den letzten Jahrzehnten bestenfalls mäßigen Erfolg. In westlichen Demokratien ist die Bevölkerung immer weniger imstande, sich einen gemeinsamen Zweck zu setzen und diesen zu erfüllen. Bürgerinnen und Bürger spüren immer weniger, dass sie durch gemeinsame Vorhaben und Loyalitäten an ihre Mitbürger gebunden sind. Dieser alsFragmentierung“ beschriebene Sachverhalt ist nicht nur ein Ergebnis der Schwächung der Sympathiebindungen, sondern auch ein Resultat des Fehlschlagens von gelebter Demokratie.11 Denn je fragmentierter eine Wählerschaft ist, in desto höherem Maße übertragen die Wählerinnen und Wähler ihre politischen Energien auf die Förderung ihrer Teilgruppierungen.

Im Falle des intensiven Lesens haben dies lange Zeit die oberen Quintile getan, während Teile des vierten und das fünfte davon ausgeschlossen waren. Dies scheint für letztere bis auf heutigen Tag zu gelten, wie uns Erfahrungen der Pandemie zeigen. Dort fehlten den Kindern nicht nur Handys, Laptops und Desktops, sondern auch ruhige Zeit und ungestörter Raum für das Lernen. Aber es könnte sein, dass auch Haushalte des zweiten und dritten Quintils, die Mitte der Gesellschaft, keine verlässlichen Bündnispartner für eine Arbeit an einem tiefen Verständnis von Texten mehr sind. Sie berichten über ihre knappe Zeit. Dann wäre es die Beiläufigkeit des Zeitmangels, die der Förderung des tiefen Lesens im Wege steht.


1  www.readingmanifesto.org ; Miha Kovač, Anne Mangen, André Schüller-Zwierlein und Adriaan van der Weel, Unsere Gesellschaft braucht Lesekompetenz!, FAZ 10.10.2023 (E: 13-10-2023)
2  Vgl. Fridtjof Küchemann, Lesen ist unser Überlebensmittel, FAZ 10.10.2023 (E:13-10-2023)
3  Vgl. Vincent Ostrom, The Meaning of Democracy and the Vulnerability of Democracies: A Response to Tocqueville´s Challenge. An Arbor: University of Michigan Press, 1997
4  Jürgen Habermas, Überlegungen und Hypothesen zu einem erneuten Strukturwandel der politischen Öffentlichkeit, in: Martin Seeliger, Sebastian Sevignani, Ein neuer Strukturwandel der Öffentlichkeit?, Leviathan Sonderband 37 / 2021, Nomos Verlag, Baden-Baden, S. 470ff
5  „Neuntklässler schlechter in Deutsch“, FAZ 14.10.2023
6  „Zur Zukunft des Lesens“, FAZ 22.01.2019 (E: 13-10-2023)
7  Vgl. Aleida Assmann, Im Dickicht der Zeichen, Suhrkamp Verlag Berlin 2023 (2015)
8  Vgl. Vera King, Geteilte Aufmerksamkeit. Kultureller Wandel und psychische Entwicklung in Zeiten der Digitalisierung, in: Psyche – Z Psychoanal 72, 2018, S. 640-665
9  Oskar Negt, Politische Philosophie des Gemeinsinns, Band 3, Politik der Ästhetik: Die Romantik (1976), Steidl Verlag / Hans-Böckler-Stiftung, 2022, S.188-190; Oskar Negt, Alexander Kluge, Öffentlichkeit und Erfahrung, Suhrkamp Verlag, Frankfurt 1977 (1972), S.168ff
10  David Riesman, Die einsame Masse, Reinbeck 1958, S.41
11  Charles Taylor, Das Unbehagen an der Moderne, suhrkamp taschenbuch wissenschaft, Frankfurt 2020 (1991), S.125f

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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