Für eine Reihe von Klimafachleuten sind die Zeiten einer unkalkulierbaren Zukunft angebrochen. Akshat Rathi von Bloomberg Green sagt zu den neuesten Klimadaten: »Der Februar ist auf dem besten Weg, beispiellose Hitzerekorde zu brechen«. Die globalen Temperaturen liegen „2,03 Grad Celsius über dem vorindustriellen Basiswert von 1850 bis 1900“. Unlängst hatte eine Studie zur Atlantischen Umwälzzirkulation, die Atlantic Meridional Overturning Circulation (AMOC), herausgefunden, dass nicht nur die Temperaturen steigen, sondern die AMOC sich als instabil erweisen könnte. Das Bundesumweltamt erwartet „Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem“. Und Germanwatch benennt Folgen: wenn der Golfstrom dem europäischen Kontinent keine Wärme mehr zuführt, werden „etwa 58 Prozent der weltweiten Ackerflächen, die derzeit für den Weizenanbau geeignet sind, sowie 59 Prozent der Anbauflächen für Mais unbrauchbar“. Es ist nicht schwer vorherzusagen, was mit den Preisen für Grundnahrungsmittel passieren würde.
Plan A und Plan B
Die Daten und Informationen über den Klimawandel sind unbestreitbar, rufen aber unterschiedliche Reaktionen hervor. Die seriösen und ernstzunehmenden Antworten bringen diverse Verzichtsoptionen ins Spiel: Konzepte von Degrowth, Postwachstum usw. Die Reaktionen der politischen Welt sind kurios. So ist die bayerische Regionalpartei CSU der Ansicht, dass das Problem in der ideologisierten Weltsicht einer ihrer Konkurrenten, der Partei der Grünen, liege. Deren Energiewendepolitik führe zur Deindustrialisierung und zum Sterben der Landwirtschaft.
Wir wollen festhalten: beide Reaktionsweisen unterscheiden sich erheblich, was Seriosität und Sachkenntnis betrifft. Die einen wollen eine „radikale“, aber unvermittelte Antwort auf den Klimawandel, die anderen wollen Zeit gewinnen und die nächsten Wahlen. Aber beide verkennen die Einstellung und die Probleme der Bevölkerung.
Zunächst zur politischen Klasse. Die immergleichen Provokationen und Schuldzuweisungen sorgen für Erregung und erzeugen in einem bestimmten Intensitätsgrad Gefühle, aber es sind falsche. So ist es immer beim Populismus: er arbeitet mit Feindbildern („die Politik“, „Berlin“ etc.), sorgt für Aufregung, trägt aber nichts zur Lösung eines Problems bei. Im Grunde genommen missachtet er die wahlberechtigte Bevölkerung. Was hingegen die wissenschaftlichen Optionen betrifft, ihre Verzichtsoptionen und disruptiven Ausstiegsszenarien, so sieht alles danach aus, dass sie sich nicht oder zu wenig um die Machbarkeit ihre Konzepte kümmern. Die Wege zum Ziel sind nicht hinreichend ausformuliert und der Zeitfaktor ist unberücksichtigt. Was folgt, wenn beides nicht stimmt, konnten wir bei dem politischen Streit um das sogenannten Heizungsgesetz im vergangenen Jahr miterleben. Am Ende standen diejenigen mit den guten Absichten als Verlierer dar, während die Opportunisten ohne Vision sich die Gewinner nennen durften.1
Zu beiden Optionen, der politischen wie der wissenschaftlichen, werden die Bürgerinnen und Bürger wegen ihrer lebensweltlichen Ferne auf Distanz gehen. Eine Governance für nachhaltige Entwicklung braucht jedoch die Zustimmung der Bevölkerung. Sie muss klar beschreiben können, wie eine demokratisch verfasste Gesellschaft wie die der Bundesrepublik Deutschland den Zielkonflikt zwischen ökologischen, ökonomischen und sozialen Interessen tatsächlich auflösen kann. Dies wäre Plan A. Aber auch an einem Plan B wäre zu arbeiten: Überlegungen in Betracht zu ziehen, wie sich die Anpassungsfähigkeit und Resilienz der Gesellschaften und Staaten an den Klimawandel erhöhen lässt. Und zwar für eine gesellschaftliche Entwicklung unter sicheren Bedingungen der Bewohnbarkeit, wenn die global vereinbarten Klimaziele nicht mehr erreicht werden können. Wer auch an einem Plan B arbeitet, darf nicht in den Verdacht geraten, Plan A aufzugeben.
Das sind starke Bilder
Nun ist es allerdings nicht so, dass eines der größten Probleme der Gegenwart eine entsprechende Aufmerksamkeit findet. Der Wiener Klimaforscher Reinhard Steurer nennt „das mediale Desinteresse“ am fortschreitenden Klimawandel „beängstigend krass.“ Nun erscheint mir, was „die Medien“ für interessant und uninteressant halten, eine eigene Debatte wert. Ich behaupte, dass es nicht nur um das mediale Desinteresse geht, sondern auch um das Desinteresse der Bevölkerung, also dasjenige der Bürgerinnen und Bürger. Wobei das eine vom anderen natürlich nicht so leicht zu trennen ist.
Mir kommt ein Gemälde von Pieter Bruegel in den Sinn, der „Sturz des Ikarus“. Er hat es irgendwann zwischen 1555 bis 1569 gemalt, man weiß nicht genau wann. Der Kunsthistoriker Beat Wyss war der Auffassung, dass es den Blick auf das letzte der vier Weltzeitalter eröffnet, in der Zählweise des Ovid „das Eiserne“. Wyss ist der Auffassung, dass Bruegel vermutlich in der eigenen Zeit einen Niedergang erkannt hat, der der Ovidschen Überlieferung ähnlich ist. Die Religionskämpfe, die Abdankung des habsburgischen Kaisers, die bornierte und blutige Bevormundung der Niederlande durch das katholische Spanien mussten den Humanisten als Zeichen für den Zerfall der abendländischen Kultur erscheinen. Nachträglich kann man im Ikarussturz die düstere Prophetie vom Niedergang der Menschheit sehen, die real sich im Dreißigjährigen Kriege erfüllen sollte.
Als sich der Schriftsteller Wystan Hugh Auden 1939 in Brüssel aufhielt, hat er dieses Gemälde im „Musée des Beaux-Arts“ gesehen und als Titel seines Gedichts den Namen des Museums gewählt. Darin schrieb er:
Bruegels Icarus zum Beispiel: wie alles sich Von dem Unheil müßig abwendet. Der Pflüger hörte wohl. Den Aufprall, den einsamen Schrei. Aber für ihn stand nicht viel auf dem Spiel; die Sonne schien, Wie sie mußte, auf die weißen Beine, die im grünen Wasser verschwanden. Und das Prunkschiff, das freilich etwas Erstaun- liches sah, Einen Knaben, der vom Himmel fiel, Hatte irgendwo anzukommen und nahm ruhig seinen Weg.
Ich finde, das sind starke Bilder. Vor allem bewegen sie in einem konkreten Sinn. Sie machen die eigene unzulängliche und gleichgültige Einstellung gegenüber den öffentlichen Dingen bewusst. Vielleicht nicht dauerhaft, aber doch wiederkehrend. Ließe sich die Kraft solcher Bilder nicht für unsere Gegenwart nutzen? Zum Beispiel: während der Klimakollaps droht / im Gange ist, machen sich „die Menschen“ hierzulande über „die Wirtschaft“, „den Alltag“ und „den nächsten Urlaub“ Gedanken.
Anhaltend statt folgenlos
Also: Was tun?
Diese Frage beantwortend, fordert Richard Steurer, dass „Talkformate, Dokus, Pressestunden voll damit sein“ müssten. Das mag sein. Nur, wie wäre zu reagieren, wenn die Bürgerinnen und Bürger, also die Bevölkerung, die massive Informationspolitik ab einem bestimmten Zeitpunkt als „Gehirnwäsche“ empfände? Wie könnte ein kluges kommunikatives Handeln aussehen, das nicht in diese Falle tappt?
Reden wir über die Chancen, dass Bürgerinnen und Bürger ihre gleichgültige Haltung gegenüber öffentlichen Dingen überwinden und aktiv werden.
Als das „Recherchekollektiv correctiv“ über einen „Geheimplan gegen Deutschland“ berichtete – zur Erinnerung: hochrangige AfD-Politiker, Neonazis und Unternehmer waren in einem Hotel bei Potsdam zusammengekommen und hatten über die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland phantasiert – hatte der „etwas theatralische Enthüllungsgestus des Artikels“ (Dieter Rucht) zu einer Großen Empörung beigetragen. Hinzu kamen die steigenden Umfragewerte für die AfD, die Debatten über erste Bürgermeister- und Landratsposten für AfD-Vertreter:innen usw. Offenkundig führte die Kumulation dieser Debatten bei Hunderttausenden zu der Haltung: „Es reicht. Jetzt müssen wir als Bürger:innen aufstehen.“ 2
Gewiss sind Demonstrationen Signale an politische Gegner und die Öffentlichkeit. Aber nicht nur. Sie sind auch Selbstvergewisserungen und –bestätigungen der Demonstrierenden. Danach kann Unterschiedliches geschehen: Wenn die Haltung, etwas getan zu haben, überwiegt, so bleibt das Demonstrieren folgenlos und der Alltag kehrt wieder ein. Aber Demonstrationen können auch ein Einstieg sein, um sich anhaltend zu engagieren.
Dafür spricht, dass die aktuellen Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für Demokratie eine direkte politische Substanz haben: sie erinnern die Bundesregierung, die Länderregierungen und die Oppositionsparteien daran, was sie gegen die AfD machen. Bei diesen Demonstrationen spielt die reale demokratische Verfasstheit des Staates und die reale Gefährdung legaler und legitimer politischer Herrschaft eine wichtige Rolle.
Darüber sollte jedoch die Macht der Bilder nicht unterschätzt werden. Denn es sind Bilder, die die Bürgerschaft als Bürgerschaft herausfordern. Im besten Falle werden die derzeitig „nur“ demonstrierenden Bürger:innen bereit sein, anhaltend aktiv zu werden.
Moderat, aber nicht unradikal
So gesehen macht der Rat von Joel Hirschi vom UK National Oceanography Centre zu einem geduldigen, aber entschiedenen Umgang mit der ökologischen Krise, Sinn: „Den Erwärmungskurs, auf dem wir uns befinden, zu verlangsamen, zu stoppen oder umzukehren, ist so, als würde man den Kurs eines Supertankers ändern. Ergebnisse sind nicht sofort sichtbar, aber je früher wir Maßnahmen ergreifen, desto einfacher wird es für uns sein, Probleme zu vermeiden.“ Dies klingt moderat, ist aber von der Sache her nicht unradikal.
Albert O. Hirschman hat mit Blick auf die Hoffnung von dauerhaftem Engagement von Konjunkturen gesprochen. Nach Zeiten, in denen sich viele Menschen für öffentliche Dinge einsetzen, folgen Zeiten, in denen sie sich vom Misserfolg enttäuscht in ihr privates Leben zurückziehen.
Aus den Worten beider sprechen Geduld und Gelassenheit. Aber auch, möchte ich hinzufügen, Kompromisslosigkeit in der Sache. Die Gedankenwelt und Sprache des Aktionismus hat dafür keinen Sinn. Sie setzt Geduld und Gelassenheit mit Attentismus und Gleichgültigkeit gleich. Hier scheint ein größeres Missverständnis vorzuliegen, das aufzuklären wäre. Sich mit einer Dialektik von Aufgeregtheit, Aktionismus und Abstumpfung auseinanderzusetzen, könnte sich lohnen.
1 Siehe meinen Beitrag „Ein öffentlich zerfleddertes Gesetz und die ökologische Transformation“
2 Siehe das Gespräch mit Dieter Rucht „Anti-AfD Demos: Strohfeuer oder mehr?“