Die Rolle großer, schrecklicher Menschen, genauer: Männer, wird vernachlässigt

 Zeitungsleser:innen nach der Urteilsverkündung der Nürnberger Prozesse, 1. Oktober 1945 (Foto: Unbekannt auf wikimedia commons)

Die Jahre nach dem Ende des 2. Weltkriegs sind für Antworten auf die Fragen nach Krieg und Frieden die wichtigsten. Halb Europa war von Deutschen zerstört. Die Juden in Europa nahezu vernichtet. Polen ein Trümmerhaufen. Die Nazis hatten die polnische Nation auszurotten versucht. Abermillionen auf der Flucht. In dieser Zeit wurden während der Nürnberger Prozesse weitreichende Festlegungen getroffen: Verbrechen gegen die Menschlichkeit definiert und in Anklagen formuliert. Es wurden Verbrecher verurteilt, die sich gegen die Menschheit insgesamt vergangen hatten.

Die beispielsweise von dem Jesuiten John la Farge 1938 geschriebene Enzyklika „Humani generis unitas“,  also zur Einheit des Menschengeschlechts, bekam eine strafrechtliche Grundlage. Am 10. März 1948 wurde die Erklärung der Menschenrechte ergänzend zur Charta der Vereinten Nationen verabschiedet. Diese Erklärung wurde 1966 durch den von der UN-Vollversammlung verabschiedeten Pakt über bürgerliche und politische Rechte weiter konkretisiert. Von dieser Zeit ab waren Menschen- und Bürgerrechte auf internationaler, auf einer supranationalen Ebene verankert. Für viele Staaten lagen und liegen hier die „Gründungsdokumente“ ihrer Bemühungen um Ausgleich und gegen Gebiets-Revisionismus. Genauer geschrieben: Die Grundlagen für einen Frieden und für territoriale Sicherheit, für den Gewaltverzicht in den zwischenstaatlichen Beziehungen.

Das am meisten gefährdete Land

Die Bundesrepublik Deutschland hat von dieser Entwicklung unglaublich „profitiert“. Obgleich deren Rechts-Vorausgängerin, „das Reich“, die Zerstörerin Europas schlechthin war, wurde der westliche Teil Deutschlands ganz rasch wieder in den Kreis der Demokratien aufgenommen. Es war wie ein Wunder. 1949 wurde die NATO gegründet und bereits 1955 wurde die Bundesrepublik Mitglied dieses Pakts. Ein solcher Pakt ist kein Widerspruch zu den Grundsätzen der Vereinten Nationen. Er ist freilich auch keine Fortsetzung der UNO. Er sicherte den Gewaltverzicht und den Verzicht auf Gebiets-Revisionismus sowie den Schutz vor Eroberung im Vertragsgebiet. Mehr nicht, aber auch nicht weniger.

Die Bundesrepublik war in diesem Pakt das am meisten gefährdete Land. Wie sich ein katastrophaler Krieg gegen NATO und Bundesrepublik bis Mitte der achtziger Jahre hätte entwickeln können, das hat der frühere NATO-General John Hackett in einem damals viel gelesenen Buch beschrieben. 1978 erschien „The Third World War“. Hackett schilderte einen von der Sowjetunion vom Zaun gebrochenen Krieg, der auf die Bundesrepublik konzentriert wird. Auf dem Boden der Bundesrepublik und auch der DDR sterben Abertausende Zivilisten, Tausende Soldaten US-amerikanischer, kanadischer, britischer, französischer, niederländischer oder auch belgischer Staatsangehörigkeit, ebenso trifft es russische, ukrainische, belorussische, polnische und ungarische Soldaten. Die beiden deutschen Staaten gehen beim Aufeinandertreffen der Streitkräfte beider Militärbündnisse faktisch zugrunde. Der Krieg wird beendet durch einen Kernwaffenabwurf auf Birmingham der einen Abwurf auf Minsk nach sich zieht.

Es gibt aber Eigentümliches

Am 31. März 1991 löste sich der Warschauer Beistandspakt auf. Er war das realsozialistische und durch Parteien-Diktatur geprägte Gegenstück zur NATO. In den 36 dazwischen liegenden Jahren hat die NATO die Sowjetunion und deren Verbündete in Schach gehalten. 36 Jahre lang konnten wir alle in der Bundesrepublik Deutschland uns darauf verlassen, dass die übrigen NATO-Mitgliedsstaaten notfalls und im extremen Fall bereit waren, ihre Existenz für uns aufs Spiel zu setzen.

Das war die Realität. Nach allem, was die Archive heute hergeben, war die UdSSR unter Umständen auch bereit, sich unter für sie günstigen Bedingungen auf eine die militärische Auseinandersetzung einzulassen. Nach 1991 hat sich das Risiko für die Bundesrepublik, angegriffen zu werden, gegen Null minimiert. Um das Jahr 2010 hat eine Entwicklung begonnen, in deren Verlauf sich das Risiko von der Null-Linie wegbewegt hat. Auf mit Kernwaffen bestückte Raketen um Kaliningrad mit westlichen Zielbestimmungen habe ich an anderer Stelle hingewiesen.

Es gibt aber Eigentümliches im Verhältnis vieler Deutscher zur Sowjetunion und zu Russland. Diese waren die Befreier vom Nationalsozialismus. Denen begegneten „die Ostdeutschen“ in vieler Hinsicht täglich. Russische Kultur war prägend, Moskau funktionierte für viele als Sehnsuchtsort. Ideologisch und weltanschaulich gliederten sich Millionen auf der „Ostseite“ der Konfliktlinie im kalten Krieg ein; was keineswegs verwunderlich war. Das wirkt nach.

Eigentümlich war im Westen, dass die Sowjetunion und der Realsozialismus von vielen Tausenden quasi unabhängig von Demokratie und Arbeitslager gesehen wurden. Man fühlte sich Moskau stärker verbunden als Washington. Die Tatsache, dass die Arbeiter VWs in Wolfsburg ihr Arbeitsleben lang mehr zu sagen hatten als die Arbeiter in Togliattigrad, wo Ladas zusammengebaut wurden, spielte in West-Köpfen keine Rolle. Vielfach verdrängt, nie zugestanden. Aber auch das mag als „Gekräuseltes“ in Bewusstsein und Gewissen nachwirken.

Rassistisch?

Mit der Ukraine hat die Geschichte es nicht so gut gemeint wie mit uns. Die russische Führung führt gegen die Ukraine einen nahezu totalen Krieg. Entmenschlicht, rassistisch, auf Lügen gebaut. Der Krieg ist nicht auf das Territorium der Ukraine beschränkt, sondern er findet durch Desinformation, Drohungen, Spionage, Anschläge und anderes mehr längst in Ländern statt, die sich nicht mit der russischen Föderation im Kriegszustand befinden. Was sich in diesen Ländern ereignet, dient ebenfalls dem Ziel der russischen Führung, den selbstverständlich international akzeptierten Staat Ukraine auszulöschen.

Insofern sind wir alle auf verschiedene Weisen in diese indirekte Kriegführung eingebunden: Über Preise für Güter, über die Unterstützung von Flüchtlingen aus der Ukraine, über die Steuerfinanzierung von Waffen für den nahezu totalen Krieg.

Rassistisch? Für die russische Führungsschicht sind die Ukrainerinnen und Ukrainer, wie sie sagen: „Kleinrussen“. Sie halten diese „Kleinrussen“ und die belorussische Bevölkerung, die man früher „Weißrussen“ nannte, zusammen mit der von Putin zusammen gehaltenen Bevölkerung für Teile einer einzigen Ethnie. Putin und seine Leute halten dies für einen natur- und geschichtsgegebenen Zustand. Tatsächlich ist die Ukraine im Laufe der Jahrhunderte vielen Herrschaften unterworfen gewesen, zum Beispiel war sie Teil der Habsburger Monarchie, zuvor fast vier Jahrhunderte der litauisch- polnischen Herrschaft.

Ukrainische Souveränitätsbestrebungen wurden nach dem 1. Weltkrieg durch die Bolschewiken in einem blutigen Krieg beseitigt. Im Terror der Stalin-Jahre wurden Millionen Menschen der Ukraine ermordet. Diesem Terror folgte der nicht weniger schreckliche Terror der Nazis. Die in der Ukraine durch die Nazis ermordeten Menschen wurden in der Geschichtsschreibung Russland zugeordnet. Zwischen zwei und drei Millionen Ukrainerinnen und Ukrainer wurden von den Nazis als „Fremdarbeiter“, richtig als Arbeitssklaven, nach Deutschland verschleppt. Nach dem 2. Weltkrieg wehrte sich die Sowjetunion blutig gegen jede nationale Eigenständigkeit der Ukrainerinnen und Ukrainer. John Le Carré hat das in seinem kalten Kriegs- und Spionage-Roman „Dame, König, As, Spion“ aufgegriffen.

Und jetzt steht unser Land mit seiner politischen Führung, die auf einer zerstrittenen Koalition aufbaut, vor der Frage: Wie weit gehen wir mit der Unterstützung der Ukraine? Und was können wir von der Ukraine fordern? All das Beschriebene von den Nürnberger Prozessen und den Menschheitsrechten, vom Beistand in der NATO bis hin zu den „Kräuselungen“ in Köpfen bricht nun über uns herein. Es ist eine Last. Richtig. Ausweichen können wir nicht. Wir sind darauf trainiert – und damit komme ich auf Henrik Auhagens Text „Dialogischer Stil, dogmatischer Inhalt“ – die Dinge möglichst „objektiv“ zu sehen; beziehungsweise das zu nutzen, was wir sachgerecht und objektiv nennen. Das ist ein richtiger und auch notweniger Ansatz. Aber für ein allein friedensgewohntes Völkchen, das sich in einer Art Eigentherapie daran gewöhnt hatte, die Rolle „großer, schrecklicher Menschen“ – vor allem und zuerst „Männer“, zu vernachlässigen, reicht das nicht. Wir sind in diesem Zusammenhang auch darauf trainiert, uns die Realität umzuschreiben, sie neu zu texten, sie dem „Zeitgeist“ zu unterwerfen. Ich möchte dazu ein Beispiel bilden, das jeder und jede versteht.

Mehrfach ist Erich Kästners Fliegendes Klassenzimmer verfilmt worden: In der ersten Verfilmung von 1954 nahm die Auseinandersetzung zwischen Jungengruppen – Schneeballschlacht, Zweikampf, Ohrfeigen, Mutprobe etc. – einen beträchtlichen Raum ein. Im freundlichen Erich Kästner steckte nämlich auch ein Erzieher, der Kinder der harten Realität aussetzte. So war die Wirklichkeit auch mit ihm umgegangen: Kästner wurde nach 2010 posthum in München auf eine Liste verdächtigter Namensgeber für Straßen gesetzt, weil er zur Nazizeit nicht gegen selbige gekämpft habe. Bereits 1945 war Kästner als „Kulturbolschewik“ verdächtigt worden – von Reinhard Gehlens Kommunisten-Jägern. Am 10. Mai 1933 hatte er unter denen gestanden, die zuschauten als die Nazis Bücher verbrannten – auch seine Werke.

In der Verfilmung von 2003, also 29 Jahre nach Kästners Tod, hat unsere Pädagogik richtig zugeschlagen, denn Schneeball-Schlacht- und Ohrfeigen-Szenen wurden aus der Handlung entfernt, faktisch beerdigt. Der rauflustige „Matz“, der mal Boxer werden wollte und der dauernd Hunger hatte, war durch die fleischgewordene Friedfertigkeit ersetzt worden. Von der Klopperei unter Kindern zur friedlichen Konfliktlösung.

Es ist wie ein Menetekel. Man kann die bildhafte Entwicklung von Kästners Buch sicher schmunzelnd nehmen. Bezogen auf die Putins und Co geht das nicht. Da ist das brandgefährlich.

bruchstücke hat seine Autor:innen eingeladen, das Thema Krieg und Frieden erneut aufzugreifen, nachdem im zeitlichen Umfeld des zweiten Jahrestages des russischen Krieges gegen die Ukraine mehrere Analysen auf dem Blog zu lesen waren, u. a. “Bitterer Waffenstillstand oder Krieg bis zu einem Sieg“, “2024, ein Schlüsseljahr für uns und die Ukraine“.

Aktuell sind in diesen Tagen bisher erschienen “Flugkörper marsch?“, “Dialogischer Stil, dogmatischer Inhalt“, “‘Grim-Grom’ und die schwer erträglichen Hängepartien” “Bundeskanzler Scholz liegt falsch“.

Weitere Artikel werden folgen. Beiträge von Leser:innen sind willkommen.

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Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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