Nach den Enthüllungen des Recherche-Netzwerkes Correctiv über ein Geheimtreffen von Vertretern der AfD, rechter und rechtsextremer Gruppierungen in Potsdam gingen Anfang des Jahres überall in Deutschland Millionen von Menschen gegen Rechtsextremismus auf die Straße. Doch welcher Voraussetzungen bedarf es, damit soziale Bewegungen, die anfangs meist lediglich eine “kleine kritische Masse” bilden, gesellschaftliche Mehrheiten für große Ziele mobilisieren können? Dieser Frage geht der Journalist Friedemann Karig in seinem Buch “Was ihr wollt” nach.
Karigs relativ kurz gefasster Essay liest sich mitunter wie ein Ratgeber für politische Aktivisten. Er untersucht die Wirksamkeit von Protest anhand von Konfliktfeldern wie Pandemie und Klimaschutz, berücksichtigt aber auch geschichtliche Erfahrungen. So analysiert er zum Beispiel, warum die US-amerikanischen Bürgerrechtler der 1960er Jahre – wie später auch Feministinnen oder die Vorkämpfer der gleichgeschlechtlichen Ehe – trotz massiver Widerstände erfolgreich waren.
Karigs Ansicht nach braucht eine aufbegehrende Minderheit “kollektiven Mut”, um wesentliche Teile der Bevölkerung auf ihre Seite zu ziehen und so am Ende politische Konsequenzen zu erzwingen. Im günstigen Fall könnten Protestbewegungen “unaufhaltsam werden in ihrer Wirkmacht und revolutionäre Veränderungen schaffen” – wie eine “Welle, bestehend aus unendlich vielen, für sich machtlosen Teilchen”.
Wenn viele glauben, dass viele mitmachen, machen auch viele mit
Aktivismus und Widerstand, glaubt Karig, seien nicht nur “etwas für wenige, spezielle Individuen”. Charismatische Figuren wie Mahatma Gandhi, Martin Luther King oder in jüngerer Zeit auch Greta Thunberg erleichterten die meist personenzentrierte mediale Rezeption. Doch der “Rest” der Mobilisierten spiele deshalb keineswegs eine Nebenrolle. Psychologisch sei Protest so etwas wie eine “selbsterfüllende Prophezeiung: Wenn viele glauben, dass viele mitmachen, machen auch viele mit”. Revolten würden immer von vielen Menschen getragen, “von denen die wenigsten in irgendeiner Form herausstechen”, betont Karig. Die vermeintlichen Statisten seien sehr wohl Hauptdarsteller; erfolgreicher Protest und ziviler Ungehorsam lebe weniger von Heldenmut oder Exzellenz, eher von “Verbindlichkeit und Gemeinsinn, Kommunikation und Koordination, kurz: von einer Gruppe, die zusammenhält und einen Plan hat”. Begünstigt werde dies durch die “kaum noch vorhandenen Transaktionskosten zur Vernetzung” sozialer Bewegungen im Internet.
Für Friedemann Karig zeigt schon die historische Empirie, dass eine kleine überzeugte Minderheit von lediglich “dreieinhalb Prozent” Großes bewirken könne. Im Rückblick betrachtet seien die meisten politischen Aufstände “bewundernswert friedlich geblieben, egal wie hart sie angegangen wurden”. Dazu gehöre wesentlich auch das “wiederkehrende Scheitern”: Um am Ende zu gewinnen, müsse man zuvor erst einmal häufig verlieren, zitiert er Gandhi und ergänzt einen Satz, der sich ebenso auf Nelson Mandela oder heute auf Alexej Nawalny übertragen ließe: “Unser Triumph besteht darin, eingesperrt zu werden, obwohl wir nicht das geringste Unrecht getan haben.”
Unter dem Titel „Selbsterfüllende Prophezeiung“ erschien die Rezension zuerst in Das Parlament.