Ein Buch wie eine Klatsche auf die Nase

Paul Lendvai auf der Wiener Buchmesse 2019
(Foto: C.Stadler/Bwag auf wikimedia commons)

Der österreichische Publizist Paul Lendvai hat kürzlich im Paul Zsolnay Verlag ein Buch mit dem Titel „Über die Heuchelei“ vorgelegt. Die 190 Seiten wirken wie ein Bekenntnis, auch wie eine Warnung. Als rufe Lendvai uns zu: Was habt ihr da gemacht! Was habt ihr zugelassen! Warum habt ihr nicht besser Acht gegeben? Habt ihr Regierungsmitglieder, Staatschefs, Chefredakteure, Intendanten  und Wirtschaftsleute Europas nicht begriffen, wes Geistes Kind die Putins, Orbans, Vucics und andere sind?

Es ist ja nach Lendvais Auffassung nicht so, dass es keine Mahner und Warner gegeben habe. Er erinnert an Boris Nemzow, an Galina Starowoitowa, die die Bewegung Demokratisches Russland anführte. 1998 wurde sie vor ihrer Wohnung ermordet. Er zeichnet den Ausnahmepolitiker Michail Gorbatschow nach, beschreibt die heuchlerische Art, mit der der „Realputinismus“ seinen Opfern begegnet. Lendvai greift zurück auf heute schier unglaublich verlogen wirkende, schönfärberische Berichte über die  Realität in der als System abgestorbenen Sowjetunion.

Dann kommt er auf die Bundesrepublik und auf die Sozialdemokratie im Besonderen zu sprechen. Die bekommt ihr Fett ab. Eine Menge Fett kann ich nur sagen. „Blinde Russlandpolitik“, heißt es bei Lendvai. Es sei “eine bizarre Pointe der Zeitgeschichte, dass der Aggressor Putin die tief verwurzelte Dankbarkeit gegenüber seinem friedfertigen Vorgänger Gorbatschow jahrzehntelang als politisches Kapital für seine Ziele benützen konnte.“ Zum „verzerrten Russlandbild“ gehöre auch die zum Teil „der Ignoranz entsprungene Überheblichkeit gegenüber Polen, Litauern, Letten, Esten und Ukrainern“.

Ausgiebig beschäftigt er sich mit der Balkanpolitik „des Westens“, die der Autor „Spielwiese für westliche Heuchler“ nennt. Dem folgt eine ernüchternde Abhandlung über Victor Orban und Sebastian Kurz sowie eine mit Empörung geschriebene Analyse der schäbigen Kampagne gegen den großherzigen Philanthropen George Soros.

Antidemokraten, Raffkes, extreme Nationalisten

Heuchelei an allen Orten und bei fast allen Gelegenheiten: Lendvai beschreibt sehr anschaulich, dass sich in realsozialistischen Nachfolgestaaten eine Bande von Antidemokraten, Raffkes und extremen Nationalisten etabliert hat. Seine zweite Linie: Im kapitalistisch-parlamentarischen „Westen“ haben Naivlinge die politische Richtung bezogen auf Ost- und Südosteuropa bestimmt, von der Aussicht auf wirtschaftliche Vorteile getrieben, die den Antidemokraten und Nationalisten Punkto Raffinesse und Gewalt wohl nicht gewachsen gewesen seien.

Was hat den alten Herrn (Herr im seriösen bürgerlichen Sinn) getrieben, sich in seinem zehnten Lebensjahrzehnt seinen Zorn über Heuchelei in der Politik vom Leib zu schreiben? Der kürzlich verstorbene Lendvai wäre im August 95 Jahre alt geworden. Mit einem Schutzpass des grandiosen Schweizer Diplomaten Carl Lutz versehen überlebte er die Vernichtung der ungarischen Juden. Lutz rettete zusammen mit anderen über 60 000 Jüdinnen und Juden vor dem Tod. Gertrud Lutz-Fankhauser und Carl Lutz gehören seit 1964 zu den Gerechten unter den Völkern.

Der ungarische Überlebende Paul Lendvai hatte nach Krieg und Shoa in Ungarn wegen seiner sozialdemokratischen Einstellung und Berichterstattung Berufsverbot, er wurde ins Gefängnis gesteckt, 1956 emigrierte er nach Österreich, wurde dort zu einem der namhaftesten Beobachter und Korrespondenten für ost- und südosteuropäische Themen. Er schreibt heute noch für den „Standard“. Lendvai hat viele der politisch Bedeutenden in Mitteleuropa nach dem Krieg gekannt, mit vielen geredet. Man kann ihm, so schätze ich, so leicht kein X für ein U vormachen. Er wählte als eine Art Widmung zu seinem Buch die Abwandlung eines römischen Spruches: „Mundus vult decipi, ergo decipiatur.“ Frei übersetzt: Die Menschen (hier mundus) wollen doch betrogen werden – und wenn das so ist: Dann werden sie auch betrogen. Das Buch umreißt mit großen Unterbrechungen und Lücken einen Zeitraum zwischen Stalins Terror und den Geschäften des Sebastian Kurz. Die Quellen bestehen überwiegend aus Zeitungsberichten.

Es bleibt im Bücherschrank

Nach dieser Lektüre fragte ich mich: Wie kann ich mir erklären, dass faktisch alle (also fast alle) heucheln, die Heuchelei gleichwohl allgemein für verachtenswert beziehungsweise verdammenswert erachtet wird. Wenn man auf einer Suchmaschine das Wort Heuchelei eintippt, kommt als erstes: „Heuchelei – niedrige Preise, Riesenauswahl“. Ich nehme an, dass Heuchelei allgemein bekannt ist, dass man weiß, „wie sie geht“.                                                                                                                                                                  Wir bereiten Heuchelei sprachlich ständig vor. Täglich lesen oder hören wir: „Sie gilt als… .“ Oder: „Er gab sich…“. Wir sprechen und schreiben tausendfach solch winzige verbale Vorbehalte aus, denken uns weiter nichts dabei. Auf „gelten als“ und „sich geben“ folgt das gedankliche „aber“: Wir legen gewissermaßen im Kopf ein zweites, ein Negativkonto an. So sind wir nun mal. Es ist die einführende Übung in die „Kunst“ der Heuchelei.  Als könne Mensch nicht mehr, erfüllt vom reinen Herzen, ohne Heuchelei vor die Haustür treten.

Im neuen Testament und in noch älteren Abhandlungen stolpert man nur so über den Vorwurf der Heuchelei. In der abendländischen Philosophie galt die Heuchelei bei manchen gar als „prima materia“, als die Ursubstanz alles Bösen. Leute wie der längst vergessene national-konservative Publizist und Philosoph Fritz Mauthner haben die abenteuerliche Behauptung aufgeschrieben, die allgemein betriebene Heuchelei sei mit der Renaissance über uns Gegenwärtige gekommen. Merkwürdig. Das ominöse Wort wurde von Martin Luther „popularisiert“. 1955 hat Friedrich Dürrenmatt mit dem „Besuch der alten Dame“ so etwas wie eine kleine Systematik der Heuchelei geschrieben. Nun fügte der alte Herr Lendvai all dem ein weiteres Kapitel hinzu.

Das Buch ist wie eine Klatsche auf die Nase. Es bleibt im Bücherschrank, damit ich es ein zweites Mal lesen kann. Aber zuvor gehe ich meinen Kindern auf die Nerven: Lest das, werd´ ich ihnen sagen.

Paul Lendvai: Über die Heuchelei. 190 Seiten, 23 €, Paul Zsolnay Verlag. 2024

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Klaus Vater
Klaus Vater arbeitet als Kommunikationsberater und Autor. Er war stellvertretender Sprecher der Bundesregierung, zuvor Pressesprecher des Gesundheitsministeriums sowie des Arbeitsministeriums. Seinen Jugend-Kriminalroman "Sohn eines Dealers" wählte die Kinderjury des Literaturpreises "Emil" 2002 zum Kinderkrimi des Jahres.

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