Aus 1984 lernen heißt, den Konflikt langfristig gründlich vorbereiten

Vierzig Jahre liegen die Streiks der IG Metall und der IG Medien zurück, die das Tabu der 40-Stunden-Woche durchbrachen und den Weg zur 35-Stunden-Woche eröffneten. Ein Rückblick lohnt, denn das Bedürfnis nach kürzeren Arbeitszeiten und selbstbestimmter Lebensgestaltung ist heute präsenter als in den 1980er Jahren. Kann die Verkürzung der Arbeitszeit wieder zu einem aktuellen Thema werden, das Hoffnungen aufgreift, Kontroversen provoziert und große Debatten in Gang bringt?

Der Beginn der 1980er Jahre stand im Zeichen hoher Arbeitslosigkeit und einer schwarz-gelben Bundesregierung, die die Programmschrift des neoliberalen Kurswechsels, das Lambsdorff-Papier, umsetzte. Die Gewerkschaften waren durch die wirtschaftliche Lage und die zum Teil selbst verschuldeten Fehler beim Zusammenbruch der Gemeinwirtschaft, finanziell und organisatorisch geschwächt. Die 35-Stunden-Woche als tarifpolitisches Nahziel war Mitte der 1970er Jahre kein Selbstläufer. Dennoch beschloss sie der IG Metall Gewerkschaftstag 1977 mit knapper Mehrheit. Ein erster Versuch, sie im Jahr 1978 in der Eisen- und Stahlindustrie mit dem „Winterstreik“ 1978/79 durchzusetzen, endete ohne den Einstieg in eine generelle Verkürzung Das Ergebnis wurde deshalb als Niederlage empfunden, obwohl es die 6. Urlaubswoche und zusätzlichen Freischichten für ältere Arbeitnehmer und solche in Nachtschicht brachte.

Die Dimension der Auseinandersetzung war klar

In den darauffolgenden Tarifverhandlungen der Metall- und Elektroindustrie wird die 6. Urlaubswoche kampflos übernommen, aber die 40-Stunden-Woche bis Ende 1983 festgeschrieben. Für die IG Metall war da noch keineswegs klar, zum nächstmöglichen Zeitpunkt die 35-Stunden-Woche erneut zu fordern. Die Gewerkschaften im DGB waren in der Arbeitszeitfrage gespalten, ein maßgeblicher Teil gab der Verkürzung der Lebensarbeitszeit durch Tarifrente oder Frühverrentung den Vorzug. Auch in der IG Metall gab es heftige Debatten, weil für viele ältere Mitglieder dieser Weg attraktiv war. Noch dazu legte Norbert Blüm zielgerichtet ein Gesetz zur Unterstützung der Tarifrente vor. Dennoch entschied der Vorstand der IG Metall 1982 frühzeitig, der 35 Stunden Woche den Vorrang zu geben. Nur damit würden alle Mitglieder von einem Tarifergebnis profitieren, nur so die umfassende Mobilisierung aller Mitglieder möglich werden, die angesichts der Härte des bevorstehenden Konflikts zwingend erschien.

Screenshot: reddit

Die Dimension des Konflikts war klar: Gesamtmetall hatte die Parole ausgegeben „keine Minute unter 40“, die Bundesvereinigung der deutschen Arbeitgeberverbände Wochenarbeitszeitverkürzung in den Tabukatalog aufgenommen und Helmut Kohl als Bundeskanzler diffamierte die Forderung als „absurd dumm und töricht“. Für die IG Metall war ebenso wie für die IG Medien klar, dieser Kampf gegen „Kabinett und Kapital“ wird mit herkömmlichen Mitteln allein zu bestehen sein.

Die IG Metall startete eine „mobilisierende Befragung“, an der sich ca. 1 Million Mitglieder und viele Nicht-Mitglieder beteiligten. Dadurch sollte die 35-Stunden-Woche nach innen besser verankert und nach außen eine breite Zustimmung signalisiert werden. Die Erhebungsbogen wurden gemeinsam ausgefüllt, verbunden mit mannigfaltigen betrieblichen und gewerkschaftlichen Aktionen. Früh wurden die „3 guten Gründe“ formuliert und die aufgehende „35-Stunden-Sonne“ plakatiert:

Arbeitsplätze sichern und schaffen, Arbeit humanisieren und Leben und Gesellschaft gestalten.

Das beschrieb die Dimensionen der 35-Stunden-Woche. Es war absehbar, aber in der IG Metall nicht unumstritten, dass ein Erfolg in diesem Konflikt nur mit einer großen organisationspolitischen Kraftanstrengung und einer breiten gesellschaftspolitischen Mobilisierung zu erreichen war. Werbende Information und wissenschaftlichen Argumentation in Broschüren und Konferenzen, auch auf regionaler Ebene, die Mobilisierung des gesellschaftlichen Umfelds der Sozialverbände, der Kirchen, der Vereine gehörten dazu. Das Engagement der IG Metallerinnen und anderer Kolleginnen sowie vieler nicht organisierten Frauen, die den dritten guten Grund mit dem Slogan „Zeit zum Leben, Lachen, Lieben“ ganz zu ihrer Sache machten, war imponierend.

Ein besonderes Streikkonzept

Der erwarteten harten Auseinandersetzung entsprach auch ein besonderes Streikkonzept: Erstmals in der Geschichte der IG Metall sollte der Streik in zwei Tarifgebieten geführt werden. In Nordwürttemberg-Nordbaden wurde außerdem eine neue Vorgehensweise gewählt. In den Streik gerufen wurden zunächst nicht die Mitglieder in den großen und gut organisierten Betrieben der Automobilhersteller, sondern Mitglieder in den Klein- und Mittelbetrieben der Automobilzulieferer. Damit konnte mit wenigen Streikenden wegen des Teilemangels, der entstand, bundesweit in der Automobilindustrie große Wirkung erzielt werden. Das Problem war: Nur die in den Streik gerufenen Mitglieder erhielten Streikunterstützung, alle anderen „kalt Ausgesperrten“, deren Zahl die Arbeitgeber bewusst in die Höhe trieben, gingen leer aus. Die Bundesanstalt für Arbeit verweigerte die Zahlung von Kurzarbeitergeld.

In einer vergleichbaren Situation einige Jahre vorher hatte der Verwaltungsrat der Bundesanstalt gegen die Entscheidung der Behördenspitze entschieden, kein Kurzarbeitergeld zu zahlen. Aber mit dem Regierungswechsel 1982 hatte sich auch die Mehrheit im Verwaltungsrat der Bundesanstalt geändert, so dass der sogenannte „Franke-Erlass“, der die Zahlung von Kurzarbeitergeld verweigerte, Bestand hatte. Im Streikgebiet Nordwürttemberg-Nordbaden war das Problem schnell gelöst, weil vor Ort die kalt ausgesperrten Mitglieder zunächst regelwidrig, dann vom IG Metall-Vorstand gebilligt, in den Streik gerufen wurden und damit Streikunterstützung erhielten.

Solidarität freiwilliger Hände (Bild: geralt auf Pixabay)

An den Rand der Niederlage geriet die IG Metall durch die fast 400.000 kalt Ausgesperrten bundesweit – ohne Streikunterstützung und ohne Kurzarbeitergeld. Mit jedem Tag des Streiks wurde die Lage, in der es um das Schicksal von hunderttausenden Menschen und ihren Familien ging, dramatischer. Vor allem dank des unglaublichen Einsatzes der Ehren- und Hauptamtlichen vor Ort konnte diese Phase durchgestanden werden. Kreativität und Fantasie waren gefragt in einer Situation, die es so noch nie gegeben hatte. Oberster Grundsatz war, die Ausgesperrten nicht allein zu Hause sitzen zu lassen. Sie wurden daher, möglichst mit Familien, wie Streikende, von den IG Metall-Geschäftsstellen regelmäßig zu Treffen und Versammlungen eingeladen. Man zog protestierend vor Arbeitsämter und Parteibüros der Regierungsparteien, Mitglieder anderer Gewerkschaften kamen zu Solidaritätstreffs, in Bürgerhäuser und Kirchengemeinden wurde zu Kaffee-Nachmittagen und zu Suppenküchen eingeladen, Notfallkonten wurden gegründet, Nachbarschaftshilfen waren aktiv, regionale Kulturgruppen boten spontan Konzerte, Liederabende und Theateraufführungen an.

Auch hier standen engagierte Frauen der IG Metall und anderer Gewerkschaften an vorderster Stelle. Die gesellschaftliche und kulturelle Verankerung, um die sich die IG Metall im Vorfeld bemüht hatte, zahlte sich jetzt besonders aus. Am Ende half die Entscheidung des Sozialgerichts Frankfurt, die vom Sozialgericht Hessen bestätigt wurde, dass der Franke-Erlass rechtswidrig ist, Kurarbeitergeld wurde gezahlt. Damit hatten drei Wochen Zittern ein Ende. Wenige Tage später wurde der Tarifkonflikt durch den Schiedsspruch von Georg Leber beendet.

Kritik und Erfolg

Kein Wunder, dass nach einem so langen und harten Streik der Kompromiss mit einer Wochenarbeitszeit von 38,5 Stunden keine Jubelstürme auslöste: Zu wenig Arbeitszeitverkürzung und zu viel Flexibilität bei Dauer und der Lage der Arbeitszeit. Betriebsräte waren stärker gefordert als je zuvor, den entsprechenden Kompromiss umzusetzen. Die gewollte tägliche Arbeitszeitverkürzung blieb beim ersten Schritt fast völlig auf der Strecke.

Trotz aller berechtigten Kritik war der Arbeitskampf ein wichtiger Erfolg. Er hat die Arbeitslosigkeit vermindert und Arbeitsplätze geschaffen, in allen Bereichen von Schichtarbeit unmittelbar spürbar, auch sonst statistisch nachgewiesen. Vom „Frühschluss am Freitag“ oder zusätzlichen freien Tagen profitierten alle, auch in den indirekten Bereichen. Die IG Metall und die IG Medien waren organisationspolitisch gestärkt, hatten sich selbst, den Arbeitgebern und der Politik bewiesen, in schwierigen Zeiten erfolgreich zu sein. Ein andere alltägliche Lebensgestaltung in der Gewichtung von Erwerbsarbeit und Leben war zwar kein unmittelbares Ergebnis. Aber seit damals ist Geschlechtergerechtigkeit in der Verteilung von Erwerbsarbeit und Sorgearbeit, auch das Nachdenken über sinnvolle Produktions- und Lebensweisen, ein fester Bestandteil jeder Arbeitszeitdebatte.

Man kann, ja man muss eine andere Geschichte erzählen

Seit 1984 hat es keinen vergleichbaren tariflichen Großkonflikt mit Streik und Aussperrung gegeben, auch kein tarifpolitisches Thema, das ähnlich mobilisiert hat. Auf den ersten Blick weist Vieles darauf hin, auch für die nahe Zukunft nicht darauf zu setzen. Die Tarifbindung ist zurückgegangen, die Gewerkschaften verlieren Mitglieder, Einfluss und Schlagkraft. Eine Kumulation von Krisen und die Ängste um gutes Leben und gute Arbeit bedrücken viele Menschen, lähmen Energie und führen bei viel zu Vielen dazu, Lösungen von rechtspopulistischen Heilsbringern zu erwarten und ihnen hinterherzulaufen.

Aber man kann, ja man muss eine andere Geschichte erzählen und sie geht so: Gewerkschaften haben in dem vergangenen Jahre maßgeblich zur Krisenbewältigung beigetragen und neue Akzente gesetzt. Der Wunsch nach Arbeitszeitverkürzung ist groß, weit größer als bei Beginn der Kampagne für die 35-Stunden-Woche. Denn die Gewerkschaften waren im zurückliegenden Jahrzehnt arbeitszeitpolitisch nicht tatenlos. Kürzere Arbeitszeiten für einzelne Gruppen oder aufgrund bestimmter Lebenssituationen wurden ebenso wie Wahlmöglichkeiten zwischen zusätzlichem Geld oder kürzerer Arbeitszeit tariflich vereinbart und im aktuellen Tarifabschluss der Metallindustrie verbessert. Zeitlich befristet Arbeitszeit und Entgelt zu reduzieren, wurde möglich.


Four Day Week International Summit, Mai 2022 in Valencia 
(Foto: Francesc Fort auf wikimedia commons)

Das alles hat den Wunsch nach „mehr“ geweckt: Mehr Arbeitszeitverkürzung und mehr selbstbestimmte Arbeitszeitgestaltung. Immer mehr Produktionsunternehmen, Handwerksbetriebe und Kliniken führen die 4-Tage-Woche ein, mit Gewinn für alle. Beschäftigte aller Branchen und aller Einkommensgruppen wollen kürzere Arbeitszeiten, um „mehr Zeit zum Leben“ zu haben, Erwerbsarbeit und das alltägliche Leben gleichberechtigt und partnerschaftlich zu gestalten, um die Hetze, die Monotonie oder Belastungsintensität des Arbeitsalltags zu verringern oder um Arbeitsplätze zu sichern, zum eigenen Nutzen und solidarisch mit anderen Betroffenen. Jeden Tag sehen oder lesen wir die Nachrichten, wie bedroht Arbeitsplätze und Arbeitsbedingungen sind. Kurz und gut: Die „3 guten Gründe“ sind aktueller als vor 40 Jahren – und in den Köpfen und Herzen vieler Menschen besser verankert. Das bestätigen interne gewerkschaftlicher Umfragen ebenso wie repräsentativer Erhebungen verschiedener Institute.

Der Weg geht weiter

Es besteht kein Zweifel, der Weg der Arbeitszeitverkürzung geht weiter. Zur Debatte steht, in welcher Form. Weiter in Form partieller Arbeitszeitverkürzungen für bestimmte Gruppen und in besonderen Lebenssituationen sowie Wahlmöglichkeiten zwischen mehr Geld oder für kürzere Arbeitszeit mit weniger Geld. Das ist alles richtig und wichtig. Wird nur dieser Weg weiter fortgesetzt wird, steht zu befürchten, dass er an die Grenzen der betrieblichen Praktikabilität gerät und gewerkschaftliche Solidarität überstrapaziert. Aber vor allem: Der arbeitsmarktpolitische Effekt ist viel zu gering, um die Folgen des wirtschaftlichen und digitalen Wandels abfedern zu können. Eine Entlastungsfunktion für alle kommt im Alltag der Erwerbsarbeit nicht zu tragen, in manchen Fällen droht die Wahlmöglichkeit der einen zu Mehrbelastung für die anderen zu werden. Es ist keine Möglichkeit gegeben, Erwerbs- und Familienarbeit partnerschaftlich gleichberechtigt zu gestalten, eben ein anderes Lebens- und Arbeitskonzept zu verwirklichen.

Daher ist eine Arbeitszeitforderung notwendig, die die Dauer der Vollzeitarbeit reduziert, insbesondere von Frauen, die überwiegend die familiären Lasten tragen, und für Männer, die Erwerbs- und Care-Arbeit  partnerschaftlich teilen wollen. Nur so kann sich gerade für Frauen der Weg aus der Teilzeit in die Vollzeit öffnen. Das verlangt eine neue Arbeitszeitnorm, die selbst wieder die Grundlage neuer Möglichkeiten selbstbestimmter Arbeitszeitgestaltung sein kann. Wie 1984 muss eine Arbeitszeitforderung allen zugutekommen, wenn sie von allen solidarisch durchgesetzt werden soll und notfalls mit Streik durchgesetzt werden muss.

Geklärt werden muss, welche Arbeitszeitforderung kann dann im Zentrum stehen. Momentan ist die 4-Tage-Woche in aller Munde. Aber sie ist ohne Ergänzungen für sich stehend zu unbestimmt und nicht zwingend für alle. Wenn die „drei guten Gründe“, die andere Gestaltung des Arbeits- und Lebensalltags, der Erwerbs- und Sorgearbeit und die Entlastung im beruflichen Arbeitsalltags ernst genommen werden, braucht es ein Arbeitszeitkonzept, dass die tägliche Verkürzung im Fokus hat. Das führt, und das ist ja keineswegs neu, zur 30- oder 28. Stundenwoche. Die Viertage-Woche kann dann eine Form der Umsetzung sein, ebenso wie der 5- oder 6-Stunden-Tag. Aber der zentrale Punkt muss sein, eine andere Norm dafür zu finden, welche Regel-Arbeitszeit dem wöchentlichen oder monatliche Entgelt entspricht – jenseits von Mehrarbeit und Teilzeitarbeit. Und das sollte künftig eine Wochenarbeitszeit von 30 oder 28 Stunden sein. Das liegt noch weit über dem, was Ökonomen schon seit Jahrhunderten für eine entwickelte Industriegesellschaft für möglich, ja notwendig halten.

Gewerkschaftliche Befürworter eines weiteren großen Schritts der Arbeitszeitverkürzung verbinden das oft mit dem „vollem Lohnausgleich“, „definierten Arbeitsbedingungen“ oder „vollem Personalausgleich“.

Den „vollen Lohnausgleich“ muss man einordnen: Selbstverständlich ist, dass die kürzere Wochenarbeitszeit nicht mit geringerem Wochen- oder Monatsentgelt Hand in Hand gehen kann. Sonst ist es Verallgemeinerung der Teilzeit. Kürzere Arbeitszeit wird immer in Verbindung mit Entgelterhöhungen vereinbart, beides somit in einem Zusammenhang. Was auf das Konto der Arbeitszeitverkürzung und was auf das Konto der Entgelterhöhung geht, steht am Ende eines Tarifkonfliktes, abhängig von der Kampfkraft der Gewerkschaften.

Weit schwieriger ist die Kontrolle der Leistungsbedingungen, die tarifliche Mitbestimmung über Personalbesetzung. In einigen Tarifverträgen des Öffentlichen Dienstes ist das, unabhängig von einer Arbeitszeitverkürzung, durchgesetzt worden. Im Bereich der Metall- und Elektroindustrie wurde durch den Weg in den Zeitlohn weg vom Leistungslohn für über 80% der Beschäftigten der Einfluss auf die Leistungsbedingungen und die Personalbesetzung deutlich verringert. Das Thema verlangt dringend neue tariflich Regelungen. Aber das bedarf einer eigenständigen gewaltigen Kraftanstrengung, unabhängig von Arbeitszeitverkürzung.

Screenshot: Website Bremer Arbeitszeitinitiative

Nicht wie das Kaninchen auf die Schlange starren

Auch jetzt würde die 30- oder 28-Stunden-Woche als Tarifforderung auf eine Abwehrfront treffen von politischen Parteien, die demnächst möglicherweise die Regierungspolitik bestimmen, und Arbeitgeberverbänden, die sich schon entsprechend aufgestellt haben. Ein Teil der Ökonomen und Publizisten wird sie unterstützen. Mehr Leistungsbereitschaft und unbezahlte Überstunden sind schon angesagt.

Aus 1984 lernen heißt, die Auseinandersetzung langfristig, gründlich und umfassend vorbereiten. Am besten mit einem geschlossenen DGB, der diesmal Einheit in der Vielfalt demonstrieren könnte. Beteiligungsorientierung durch Umfragen gehören heute zum Standardrepertoire der Gewerkschaften. Sie sind mehr denn je Grundlage erfolgreicher Tarifpolitik. Eine tarifliche Arbeitszeitforderung wird mit einem beteiligungsorientierten Befragungs- und Diskussionskonzepten vorzubereiten sein. Kreative IG Metall-Vertrauensleute werden gemeinsam mit Public-Relations-Experten die nötigen Botschaften und Werbemittel entwickeln. Mehr denn je können vielen Ansätze in der Wissenschaft und Gesellschaft aufgegriffen werden, die arbeitspolitische, ökologische, feministische und lebensweltliche Begründungen für die 30- oder 28-Stunden Woche benennen. Sie gilt es zu bündeln und in der IG Metall auf allen Ebenen und öffentlich zugänglich zu machen. Influencer für „kürzer arbeiten, besser leben“ oder ähnliche Aussagen in den Netzwerk- Medien (sozial sind sie allemal nicht) müssten aufgebaut werden. Gewerkschaften sind auch kreativ genug, um neue Protest- und Steikformen zu entwickeln, die trotz gesetzlicher Restriktionen auch die Durchsetzung eines solchen wieder tabubewehrten Ziels möglich machen.

Die Zeiten haben sich geändert. In der Arbeitszeitfrage ist die heutige Ausgangslage im Vergleich zu damals eher besser als schlechter geworden. Der Wunsch nach kürzerer Arbeitszeit und mehr selbstbestimmter Lebensgestaltung ist bei den Beschäftigten eindeutig präsenter als vor 40 Jahren. Das Engagement von Frauen, die in den Gewerkschaften mehr Einfluss gewonnen haben, für mehr Geschlechtergerechtigkeit durch Arbeitszeitverkürzung ist ungebrochen, die Einsicht der Männer hat (hoffentlich) zugenommen. Und die, die in der Gesellschaft etwas verändern wollen, dazu gehören zweifellos die Gewerkschaften, dürfen nicht wie das Kaninchen auf die Schlange auf den Wahlerfolg von Trump und seine schreckenerregenden Personalentscheidungen starren, auf eine zerbrochene Ampel und eine wachsende AfD, sondern müssen etwas dagegensetzen. Das könnte die Forderung nach der 30/28-Stunden-Woche sein, die die Wünsche und Hoffnungen der Menschen aufgreift, Kontroversen provoziert und gesellschaftliche Debatten in Gang bringt,

  • wie wir arbeiten und leben wollen,
  • wie wir Klimaschutz und industrielle Produktion verbinden,
  • wie wir Geschlechtergerechtigkeit verwirklichen,
  • wie wir Erwerbsarbeit humaner gestalten
  • wie wir gute Arbeit und ein besseres Leben für alle voranbringen können.

Viele mögen das für überladen und überzogen halten. Aber von wo sollen denn Impulse kommen? Von den Parteien ist zurzeit wenig zu erwarten, die Kirchen haben weitgehend abgewirtschaftet, Stimmen aus der Wissenschaft sind leise, die Kulturszene ist unselig in andere Kontroversen verstrickt. Die Gewerkschaften brauchen gar nicht ihr politisches Mandat zu bemühen, sondern könnten ausgehend von ihrem ureigensten Handlungsfeld, der Tarifpolitik, auf dem Gebiet starten, auf dem sie auch mächtig sind, Fortschritte auf den Weg zu bringen. Dieses neue arbeitszeitpolitische Ziel zu formulieren und schließlich durchzusetzen, ist sicher ein langer Weg. Auch der längste Weg beginnt mit dem ersten Schritt.


Weitere Bruchstücke-Beiträge aus Anlass des Arbeitskampfes um die 35-Stundenwoche vor 40 Jahren:

Klaus Lang
Dr. Klaus Lang studierte Katholische Theologie, Psychologie und Politik. Er war zunächst Pressesprecher des Vorstandes der IG Metall, 1981 wurde er Leiter der Abteilung Tarifpolitik, später leitete er die Abteilung des 1. Vorsitzenden und war Geschäftsführer der Otto-Brenner-Stiftung, 2003 wurde er Arbeitsdirektor der Georgsmarienhütte Holding GmbH. Er ist Mitglied im Rat der Stiftung Menschenrechte, der Förderstiftung von Amnesty International und im Sozialethischen Arbeitskreis Kirchen und Gewerkschaften.

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