Das Problem sei, „dass die etablierten demokratischen Parteien die Parolen der populistischen rechtsextremen Parteien und Gruppierungen übernehmen, unterstützt von der Springer-Presse und Interessenverbänden der Wirtschaft, die leider sehr kurzsichtig operieren. Sie alle versprechen den ‚lieben Wählern‘ — ziemlich irrational und wider besseres Wissen —, sie bräuchten sich und ihren Lebensstil nicht zu ändern. Trotz der unbestrittenen Tatsache, dass die Welt vor unerhörten Herausforderungen steht, die der Klimawandel mit sich bringt“, sagt der Systemforscher Fritz B. Simon im Interview mit Wolfgang Storz. Eine so engstirnige Politik sei unverantwortlich, weil sie ein unrealistisches Bild der Zukunft male. Ihre fatalen Folgen seien auch an der Misere der deutschen Autoindustrie zu sehen. „Sie konnte sich bislang darauf verlassen, dass die Politik sie vor zu großem Veränderungsdruck schützen würde. Ein kleinkariertes nationales Bild, das sich in einer globalisierten Welt als illusorisch erweist.“
Wolfgang Storz: In Ihrem Buch „Die kommenden Diktaturen“ erwähnen Sie, es sei in China ein Fluch, jemanden zu wünschen, in spannenden Zeiten zu leben. Leben wir in spannenden Zeiten? Und: Ist das, wenn es so ist, ein Fluch für Sie?
Fritz B. Simon: Ja, wir leben in spannenden Zeiten. Das wäre wahrscheinlich für uns anders, wenn wir keine Nachrichten in Fernsehen, Radio oder Zeitungen zur Kenntnis nehmen würden; manchen Leuten gelingt das ja. Würden wir allerdings nur die sogenannten „sozialen Medien“ beziehungsweise deren Inhalte zur Kenntnis nehmen, dann wären die Zeiten für uns noch viel spannender. Dort herrscht große Aufgeregtheit und die Welt erscheint klar in Freund und Feind gespalten. Dabei geht dem Publikum die Übersichtlichkeit zwischen den verschiedenen Parteien und Bubbles völlig verloren, die miteinander um die Meinungshoheit sowie ihre Identität streiten. Und darin besteht der Fluch: Die so geschürte weit verbreitete Unsicherheit, oft gar auch Angst, schafft die Bereitschaft, jenen sogenannten „starken Männern“ zu folgen, die versprechen, mit autoritären Maßnahmen und Strukturen eben diese Unsicherheit zu beseitigen und Ordnung zu schaffen.
Deutschland geht unter, die Grünen zerstören die Industrie — sagen unisono, nur verschieden intoniert, Arbeitgeberverbände, AfD, Wagenknecht-Partei, CDU, FDP, CSU. Bevölkerungsgruppen wähnen sich in einer Diktatur, PolitikerInnen erleben Beleidigungen, Drohungen, körperliche Übergriffe, Bauerndemonstranten tragen Ampel-Galgen wie eine Monstranz vor sich her — was braut sich da zusammen?
Fritz B. Simon: Ja, Ihre Beschreibung teile ich. Das Problem ist, dass die etablierten demokratischen Parteien die Parolen der populistischen rechtsextremen Parteien und Gruppierungen übernehmen, unterstützt von der Springer-Presse und Interessenverbänden der Wirtschaft, die leider sehr kurzsichtig operieren; über mögliche Akteure im Auftrag von Russland mag ich hier gar nicht erst spekulieren. Sie alle versprechen den „lieben Wählern“ — ziemlich irrational und wider besseres Wissen —, sie bräuchten sich und ihren Lebensstil nicht zu ändern. Trotz der unbestrittenen Tatsache, dass die Welt vor unerhörten Herausforderungen steht, die der Klimawandel mit sich bringt. Eine Politik, die so argumentiert, ist unverantwortlich, weil sie ein Bild der Zukunft malt, das nicht realistisch ist. Die fatalen Folgen solch` einer Politik sieht man nicht nur an, global gesehen, mehrfach pro Jahr auftretenden Jahrhundertfluten. Man sieht sie auch an der Misere der deutschen Autoindustrie. Sie konnte sich bislang darauf verlassen, dass die Politik sie vor zu großem Veränderungsdruck schützen würde. Ein kleinkariertes nationales Bild, das sich in einer globalisierten Welt als illusorisch erweist.
Prof. Dr. Fritz B. Simon hat Medizin und Soziologie studiert, als Gruppendynamiktrainer, Psychotherapeut, Psychoanalytiker und Psychiater in unterschiedlichen Institutionen der Universitäts- und Versorgungspsychiatrie gearbeitet und seit Jahrzehnten soziale Systeme – von Familien und Organisationen bis zu Kriegen – beforscht. Er war Gründungsprofessor des Instituts für Familienunternehmen der Universität Witten, Mitgründer und Vizepräsident der Deutsch-Chinesischen Akademie für Psychotherapie und Vizepräsident des Europäischen Familientherapie Verbands (EFTA), ist geschäftsführender Gesellschafter des Carl-Auer Verlags, Heidelberg, Mitbegründer der Simon, Weber and Friends Systemische Organisationsberatungs GmbH, Heidelberg/Berlin. Langjähriger wissenschaftlicher Leiter des Master-Fernstudiengangs „Systemische Beratung“ und „Systemisches Management“ der Universität Kaiserslautern. Seine Publikationsliste und weitere Informationen unter https://www.fritz-simon.de/
Industrienationen haben auf demokratischer Basis politische Institutionen (Parlamente, Verfassungsgerichte) und Regeln geschaffen, um den Streit über Probleme und Konflikte zu zivilisieren. Kehren wir zu gewalttätigen Auseinandersetzungen zurück?
Fritz B. Simon: Der Sturm auf das Capitol Anfang 2021 in Washington, mit mindestens fünf Toten und zahllosen Verletzten, hat gezeigt, dass diese Institutionen nicht als selbstverständlich gegeben und sicher angesehen werden können. Diese Erkenntnis gilt nicht nur für die USA, die gilt auch für uns. Wenn diese demokratischen Institutionen nicht immer wieder aufs Neue bestätigt und bewusst erhalten werden, vergessen größere Teile der Bevölkerung deren Wichtigkeit. Was ich jetzt sage, mag zynisch klingen, ist es aber nicht: Vor diesem Hintergrund mag es sogar nützlich sein, wenn ab und zu diese Institutionen mal bedroht werden, denn dann kann ihre Wichtigkeit für die Demokratie erneut ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Denn es gilt: Nur mit dem Gewaltmonopol des Staates werden zivile Verhältnisse garantiert. Wer dieses Monopol des Staates infrage stellt, der stellt zivilisierte Verhältnisse infrage. Das gilt in den USA wie bei uns.
Atomkraftwerke sind ökonomischer Irrsinn
Wirtschaft muss wachsen. Wir alle wachsen in diese Gewissheit hinein und mit ihr auf. Diese Gesellschaft kann nicht anders denken und fühlen. Schrumpfen ist schrecklich und des Teufels. Wie kann wenigstens eine kleine Mehrheit dieser Gesellschaft befähigt werden, das Schrumpfen wenigstens zu denken?
Fritz B. Simon: Dass Wachstum eine Notwendigkeit ist, dürfte lediglich ein Mythos, eine eine nützliche Erzählung sein. Zumal es ja vor allem um diese entscheidende Frage geht: Wem nützt dieses Wachstum? Wenn das Bruttosozialprodukt wächst, heißt das ja nicht, dass die Lebensqualität der Bürger eines Landes steigt. Hier müssen andere Bewertungsmaßstäbe eingesetzt werden, um die Lebensqualität zu messen. Neue Kriterien, die in Folge dann auch zu anderen, neuen politischen Entscheidungen führen. Aber zu diesen neuen Kriterien würden wir erst nach einem breiten öffentlichen Auseinandersetzungsprozess kommen, der die begrenzten Ressourcen dieser Menschen-Welt wie auch die ökologischen Risiken in den Fokus der Aufmerksamkeit rückte.
Werden die Versicherungsunternehmen zu Rettungsengeln? Nämlich zu den mächtigsten Verbündeten der Ökologen, weil sie künftig Häuser, Autos, Projekte jeglicher Art, die bald immer mehr Dürren, Fluten etc. ausgesetzt sein werden, einfach nicht mehr versichern und dadurch immens teuer machen werden?
Fritz B. Simon: Das wäre eine neue, wichtige Funktion… . Ich nehme an, zu Rettungsengeln werden sie wohl trotzdem nicht. Aber sie können als Spiegel dienen, in denen zu sehen und abzulesen ist, welche Kosten unsere Art des Wirtschaftens verursacht; und dies ausgedrückt in der Sprache der Wirtschaft, also in handfesten Zahlungen, die geleistet werden müssen. Insofern wirken die Interventionen der Versicherungskonzerne direkt im Wirtschaftssystem, ohne jegliche Vermittlung der Politik. Ein Effekt, der nicht zu unterschätzen ist. Das zeigt beispielsweise die Diskussion über die ökonomische Sinnhaftigkeit von Atomkraftwerken — deren Risiken will doch niemand mehr versichern, sie sind, wie jeder, der sich mit der Materie beschäftigt, weiß, ökonomischer Irrsinn.
In Ihrem Buch „Die kommenden Diktaturen“ sagen Sie: „Die Durchsetzung umweltpolitischer Maßnahmen“ erscheine in den etablierten westlichen Demokratien als „hoffnungslos“. Ist Ihre Resignation nach drei Jahren Fortschritts- und Klimaregierung Olaf Scholz gefestigt oder geschwächt?
Fritz B. Simon: Ich persönlich bin zwar (Zweck-)Pessimist, aber keineswegs resigniert. Das dürfte unter anderem an meinem Alter liegen. Auch wenn ich mir Sorgen um meine Kinder und Enkel mache. Aber was Probleme angeht, die ich persönlich nicht lösen kann, bleibe ich meist gelassen. Wozu sterile Aufgeregtheit?
Sie müssen sich ja nicht aufregen. Aber vielleicht können Sie genauer skizzieren, wie es in diesen Wochen um Ihre Skepsis bestellt ist.
Fritz B. Simon: Gut, ich kann meine negativen Prognosen benennen, in der Hoffnung auf das Prinzip der Self-denying profecy, dass bei diesen vorausgesagten düsteren Aussichten die Menschen doch noch ihr Verhalten ändern und letztlich was Positives rauskommt. Was die drei Jahre Ampelregierung betrifft, so ist das Ergebnis natürlich enttäuschend. Das sollte aber nicht überraschen, wenn man eine sozial-ökologische Partei und eine neo-liberale und teilweise auch libertär ausgerichtete Partei in einer Regierung zusammenspannt.
Führungsversagen der Ampelregierung
Das jetzige Scheitern war von Ihnen also erwartet.
Fritz B. Simon: Na ja, es kam schon noch ein Problem hinzu, das ich so nicht erwartet hatte. Das Scheitern scheint mir auch im Versagen der Führung zu liegen. Die war zwar bestellt, wurde aber nicht geliefert. Dazu will ich jedoch noch generell anmerken: In Führungsgremien, nicht nur in Regierungen, sind Konflikte unvermeidlich. Denn vor jeder Entscheidung steht angesichts der Nicht-Vorhersagbarkeit der Zukunft meist ein Konflikt über verschiedene Handlungsoptionen, das heißt, die zu erwartenden Zukünfte. Dann erst wird sich erweisen, ob die Entscheidungen sinnvoll waren. Diese Konflikte werden personalisiert und zwischen den jeweiligen Wortführern ausgetragen. Entscheidend ist jedoch: Dieser Konflikt muss intern ausdiskutiert und entschieden werden, sodass nach außen lediglich die Entscheidung kommuniziert wird.
Und warum ist das so wichtig? Es heißt doch, Streit ist elementar für eine Demokratie. Warum soll sich nicht auch eine Regierung streiten.
Fritz B. Simon: Eine zentrale Funktion von Führung und Autorität —, ob sie nun von einem Einzelnen, einer Gruppe, einem Kanzler oder einer Regierung ausgeübt wird — besteht darin, Entscheidungen zu treffen und durchzusetzen, um für alle, die sich an diesen Entscheidungen orientieren müssen, Unsicherheit zu beseitigen. Es geht also um mehr Sicherheit, um deutlich weniger oder gar keine Unsicherheit. Man denke an die Wirkung der Wort Mario Draghis, der Maßnahmen zur Sicherheit des Euros versprach: „Whatever it takes!“ Wenn die Konflikte jedoch öffentlich ausgetragen werden, wie von dieser jetzt vergangenen Ampel-Regierung, dann geschieht das Gegenteil: Die Unsicherheit wird erhöht. Und es entsteht daraus zwangsläufig Handlungsunfähigkeit — das zeigt sich in diesen Monaten beispielsweise in der Industrie, die ohne Planungssicherheit zurecht nicht investieren will.
Warum sind große Mehrheiten für Klimaschutz und bekämpfen erbittert alle Klimaschutzmaßnahmen, sobald sie konkret werden?
Fritz B. Simon: In Phasen des Wachstums können die Wachstumsgewinne verteilt werden, die Zukunft verspricht ein besseres Leben. Wenn nun aber Maßnahmen finanziert werden müssen, die der Gefahrenabwehr in der Zukunft dienen, dann wird dies als Zumutung erlebt. Künftige Gefahren bleiben immer erst mal abstrakt. Wenn die Abwehr solcher Gefahren mit einem Schrumpfen der Wirtschaft verbunden ist, stellt sich zwangsläufig die Frage, auf wessen Kosten das geht. Und dann kämpft jeder gegen jeden — um seinen Vorteil zu behalten oder zumindest, um einen Nachteil zu vermeiden. Also: Theoretisch sind alle für den Umweltschutz, aber wenn es um konkrete Maßnahmen geht, will keiner die Folgen auf seine Kappe nehmen und Opfer bringen.
Wie kann dieser Widerstand beispielsweise von Bauern, Autoanhängern etc. gebrochen, wenigstens geschwächt werden?
Fritz B. Simon: Wahrscheinlich geht dies bei den Bauern nur mit finanziellen Anreizen und/oder Entschädigungen. Auf Einsicht oder Idealismus kann bei solchen Maßnahmen nicht gebaut werden. Jeder und jede ist quasi eine individuelle ökonomische Überlebenseinheit und fühlt sich deshalb gezwungen, zuallererst seine Eigeninteressen zu sichern. Aber man sollte es sich auf jeden Fall genau und getrennt anschauen. Bei den Autoanhängern beispielsweise sehe ich durchaus die Möglichkeit, mit entsprechenden Gesetzen für Änderung zu sorgen. Voraussetzung dafür wäre allerdings, dass die demokratischen Parteien — idealerweise alle Parteien — sich über die Sinnhaftigkeit der Maßnahmen einigen, so dass diese nicht zum Wahlkampfthema werden; die Parteien sich darüber also nicht zerstreiten, sondern politisch an einem Strang ziehen. Andernfalls würde der Wettbewerb um die Position, die den Wählern am wenigsten zumutet, erneut beginnen. Ein Tempolimit auf Autobahnen, aber auch in Städten, wäre beispielsweise eine solche ebenso naheliegende wie überfällige Maßnahme.
Eine grüne Zukunftsidee, mit und in der man gut leben kann
Sie sagen: Nahezu alle (nicht-grünen) Parteien etablieren einen inneren Feind — die Grünen. Das ist doch interessant: Die AfD will die Demokratie vernichten. Und die Grünen werben für eine Politik, um die Gesellschaft halbwegs sicher durch die Klimakatastrophe zu führen. Aber der innere Feind: das sind die Grünen, nicht die AfD. Man darf es ja nicht einmal denken, ich frage trotzdem: Ist die Menschheit geistig wirklich so begrenzt?
Fritz B. Simon: Es liegt natürlich nahe, alle für bekloppt zu halten. Aber wahrscheinlich ist es schlauer zu schauen, was die Rationalität ist, die hinter solch` einer Strategie liegt. Dabei verstehe ich in diesem Fall Rationalität nicht absolut, sondern relativ bezogen auf denjenigen, der so agiert, wie Sie das in der Frage angesprochen haben. Ich muss ein bisschen ausholen: Rationalität ist immer Systemrationalität, also in diesem Fall die Rationalität einer Organisation, einer Partei, eines Individuums. Wir müssen zudem zwischen kurz- und langfristigen Zielen des jeweiligen Systems unterscheiden. In der Tagespolitik sind es immer die kurzfristigen Ziele, die bestimmen, welche Strategie rational erscheint. Einen äußeren Feind zu etablieren — aktuell eventuell Putin-Russland —, das ist ja generell eine Methode, einen Konsens zu erzielen, wenigstens einen vorübergehenden. Aber: Einen gesellschafts-internen Feind zu produzieren, um den dann politisch gewinnbringend zu bekämpfen, das ist eine klassische Methode der Populisten. Wir gegen die…! Freund gegen Feind!
Und warum klappt das mit den Grünen so vorzüglich? Die werden ja von immer mehr Menschen geradezu gehasst.
Fritz B.Simon: Die Grünen bieten sich offenbar im Moment für diese Rolle an, da sie im Unterschied zu allen anderen Parteien eben nicht nur kurzfristig Positives versprechen, sondern eine langfristige Perspektive anbieten. Es ist aber keine positive Zukunft, in der das Paradies versprochen wird. Niemand gewinnt einen Wahlkampf mit dem Slogan: „Toll, ihr dürft endlich den Gürtel enger schnallen! All das, was euch am meisten Spaß macht, wird verboten! Großartig, euch geht es mit uns an der Macht schlechter als früher!“. Sich gegen solch eine Zukunft zu wehren, findet verständlicherweise breite Zustimmung.
Welches populistische Dream-Team wirkte da zusammen, um die Grünen so erfolgreich zu dämonisieren?
Fritz B. Simon: In der Ampel waren die Grünen ja zunächst gut unterwegs. Robert Habeck war der populärste Politiker, als er in Ruhe und Gelassenheit die Gaskrise managte. Das war für die Koalitionspartner schwer zu ertragen. Daher nutzten SPD und FDP die Gelegenheit des Heizungsgesetzes, um eine unfertige Version durchzustechen und — mit Unterstützung der Springerpresse, wie einst BILD und Co. — eine Kampagne gegen die Grünen und speziell Habeck zu starten. Das hat — so vermute ich — auch dem Kanzler gefallen, da er so einen Konkurrenten um die Kanzlerschaft diskreditiert sah. Habeck hat dann Fehler in der Kommunikation gemacht. Statt gleich offensiv darauf zu reagieren, hat er diese Kampagne lange wehrlos laufen lassen, so dass in der Öffentlichkeit ein Bild der Inkompetenz des Ministers verbreitet werden konnte. „Kinderbuchautor“ lautet eines dieser eher läppischen Stichworte.
Ohne die Grünen selbst und deren Fehler hätte es also nicht geklappt.
Fritz B. Simon: Wie eben dargelegt — die handwerklichen Fehler rund um das Heizungsgesetz waren schon mitentscheidend für das Gelingen dieser Strategie der vereinigten Populisten. Außerdem gibt es innerhalb der grünen Partei auch Fraktionen, die als Ideologen erscheinen oder sich zumindest so darstellen lassen. Sie haben das Erbe ihrer Geschichte zu tragen, in der sie als Verbotspartei disqualifiziert wurden. Und sie haben starke Gegner in Teilen der Medien, was von ihren politischen Mitbewerbern — mit denen sie ja teilweise eine Regierung bildeten — mit Genugtuung beobachtet und gefördert wurde.
Wie können die Grünen diese Rolle abschütteln?
Fritz B. Simon: Sich nicht um das Scheren, was so geschrieben, geschwätzt und gesendet wird. Weiterhin konstruktive Arbeit leisten und entsprechende Konzepte propagieren. Sie sollten idealerweise Zukunftsvisionen entwerfen, in denen man gut leben kann. Auch wenn in dieser Zukunft nicht mehr jeder jeden Produkt-Quatsch ohne Rücksicht auf den Ressourcen-Verbrauch oder die Umweltschäden auf den Markt bringen und verkaufen beziehungsweise kaufen kann. Die Phantasie, die alle anderen Parteien erzählen: dass wir in einer Welt leben, die sich ständig ändert, aber wir uns selbst trotzdem nicht ändern müssten, sollten die Grünen ruhig weiter in Frage stellen, ja, die müssen sie weiter in Frage stellen. Worauf sie vielleicht mehr achten sollten: Dass sie betonen, dass die von ihnen ins Auge gefassten Veränderungen sehr wohl zu einem besseren, zum Beispiel gesünderen und lustvolleren Leben führen – was ja nicht wirklich vom Kauf chinesischen Plastikmülls, um es mal zugespitzt zu formulieren, abhängt.
Der innere Feind – eine populistische Strategie
Zu Beginn unseres Interviews sprachen wir über die Zunahme von Gewalt. Auch vor diesem Hintergrund: Was macht eine Gesellschaft mit ihren inneren Feinden? Werden sie vernichtet? Um Schaden vom deutschen Staatsvolk, vom deutschen Volkskörper abzuwenden?
Fritz B.Simon: Dass die Teile der Bevölkerung, die zu inneren Feinden erklärt werden, Gefahr laufen, vernichtet zu werden, haben Juden, Sinti, Roma … in Deutschland in der Nazizeit erlebt, als ihre Vernichtung als „Endlösung“ propagiert wurde. Solche „Reinheits“-Ideen lassen sich wahrscheinlich nur vermeiden, wenn die Idee des inneren Feindes und damit die Spaltung der Gesellschaft grundsätzlich in Frage gestellt wird. Wenn somit die Tatsache akzeptiert wird, dass die moderne Gesellschaft, also auch unsere, unvermeidbar vielfältig und hoch differenziert ist und sein muss, ja, dass dies eine Qualität ist, die für Kreativität und Erfolg einer Gesellschaft sorgt.
Ist es normal für eine demokratische Gesellschaft, die sich wie die deutsche für normal hält, sich einen Inneren Feind zu halten?
Fritz B. Simon: Nein. Das ist lediglich Ziel und Folge populistischer Strategien.
In meiner Jugend reimte und hallte es Ende der sechziger Jahre von vielen Mauern und Laternenmasten: „Willy Brandt an die Wand“. Der Nazi-Feind Brandt galt vielen Westdeutschen als Vaterlandsverräter und mit seiner Ost- und Friedenspolitik als innerer Feind. Er wurde jedoch politisch nicht vernichtet, sondern Bundeskanzler…
Fritz B. Simon: Was zeigt, dass man sich von solchen Parolen damals nicht hat ins Bockshorn jagen lassen. Die Mehrheit der Deutschen war nach dem Krieg — wahrscheinlich aufgrund des Bewusstseins deutscher Verbrechen — politisch ziemlich aufgeklärt, demütig und wenig nationalistisch. Ob sie das in Zukunft, wenn die Erinnerung an Auschwitz immer mehr verblasst, auch sein wird, erscheint mir zweifelhaft.
Über Lügen als Mittel der Dämonisierung der Grünen berichtet aktuell Infosperber. Das Beispiel ist auch deshalb interessant, weil AfD-Kanzlerkandidatin Alice Weidel diese Lüge in den Tagesthemen (https://www.tagesschau.de/multimedia/sendung/tagesthemen/video-1410212.html) gerade wiederholt hat. Infosperber (https://www.infosperber.ch/politik/luege-akw-gegner-habeck-habe-frankreich-um-atomstrom-gebettelt/) schreibt u.a.: „«Auch in Deutschland erlebt die Lüge als Mittel der Politik gerade einen Boom, nicht nur bei der FDP.» Das sagte der Hamburger Professor und Kognitionspsychologe Christian Stöcker im «Spiegel». Ende November hatten das Magazin «Cicero» und «Bild» behauptet, Wirtschaftsminister Robert Habeck habe während der Energiekrise im Jahr 2022 einen «Bettelbrief» nach Frankreich geschickt, um dort Atomstrom zu beschaffen. Das Gegenteil ist wahr: Habeck hatte sich in Frankreich darüber informiert, wie viel Strom Deutschland nach Frankreich exportieren kann. Damals exportierte Deutschland dann auch ziemlich viel Strom nach Frankreich, wie Fraunhofer-Energieexperte Bruno Burger («Energy Charts») klarstellte.
Doch der frühere CDU-Minister Jens Spahn und die frühere CDU-Ministerin Julia Klöckner nahmen die Information ungeprüft auf und verbreiteten sie. Jens Spahn auf Twitter: «Frankreich um Atomstrom betteln. Aber Kernkraftwerke in Deutschland abschalten. Die grüne Energiepolitik ist voller Widersprüche!.»
«Das ist gleich doppelt falsch», erklärte Stöcker: «Erstens ging es gerade um das Gegenteil von «betteln», und zweitens hat die Abschaltung der Atomkraftwerke im Jahr 2011 ja eine schwarz-gelbe Regierung beschlossen, keine grüne. Zu den Abgeordneten, die dafür stimmten, gehörte auch der junge Abgeordnete Jens Spahn.“