Von der Personalisierung zur Verschwörung – ein Katzensprung

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Klaus West [„Alter und neuer Glaube an große Männer“] und Wolfgang Storz [„Verfluchte Personalisierung?“] sind sich nicht einig, was von Personalisierung zu halten sei. Ist sie problematisch, irgendwie irreführend oder vorteilhaft, sogar nützlich? Keine Gedanken machen sie sich darüber, woher sie kommt. Weshalb sollten sie auch! Seit der Glaube an übermenschliche und überirdische Kräfte weitgehend abhanden gekommen ist, werden Ereignisse ebenso wie ihr Ausbleiben mit größter Selbstverständlichkeit dem Handeln oder dem Unterlassen von Personen zugeschrieben. Dass die Folgen des Handelns nicht immer Absicht gewesen sein müssen, wird dabei zur Kenntnis genommen und unter „Irren ist menschlich“ abgehakt. Personalisierung dürfte ein klassisches Beispiel dafür sein, wie wenig unsere ach so aufgeklärte, der Vernunft verpflichtete Gesellschaft sich in ihrem Normalbetrieb dafür interessiert, wie sie funktioniert. Personalisierung ist eines der Märchen, die die Moderne über sich erzählt.

Dass Menschen ihr Leben in die eigene Hand nehmen könnten, war noch vor 300 Jahre eine absurde, höchstens in einigen außergewöhnlichen Köpfen auftauchende Vorstellung. Mit seiner Geburt war für jeden Menschen im wesentlichen entschieden, wo er lebt, wie er lebt und mit wem er zusammenlebt. Das heißt, es war ihre geographische und soziale Lebenssituation, welche die Handlungsmöglichkeiten der Menschen definiert hat. Persönliche Eigenschaften waren, so weit erkennbar, Randerscheinungen. Das Verhältnis zwischen der handelnden Person und der jeweiligen Situation war stark situationslastig. Die äußeren Umstände schränkten die Handlungsmöglichkeiten so sehr ein, legten so eindeutig fest, was zu tun und zu lassen war, dass nur unauffälliges Unterwerfen oder rebellisches Aufbrechen, Heldentum, blieben.

„Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts sahen sich die meisten Menschen von Notwendigkeiten umstellt: ohne spontan nutzbare Kommunikationsmöglichkeiten, die über die Grenzen des unmittelbaren lokalen Umfeldes hinausgewiesen hätten, ohne großen Spielraum zur individuellen Lebensgestaltung jenseits des Existenzminimums, in einer Warenwelt geringer Diversifizierung, eingeschränkt durch Konventionen und kontrolliert durch Sanktionen. Für die Einbindung des einzelnen in soziale Milieus spielten seine persönlichen Eigenarten und Wünsche keine große Rolle. Ungefragt sah er sich in ein bestimmtes, vor allem regional und ökonomisch definiertes Milieu hineingestellt.“ (Schulze, 1993, S. 182)

Gerhard Schulze hat in seinem Klassiker „Die Erlebnisgesellschaft“ auch beschrieben (S. 48-78), wie sich in den Industrienationen die Beziehung zwischen Person und Situation inzwischen verändert hat. Nichts ändert sich an dem unumstößlichen Tatbestand, dass jede Handlung ihre Voraussetzungen hat, in eine bestimmte Situation eingebunden ist. Aber getragen von der Leitidee Freiheit, angetrieben unter anderem von einer vorher unbekannten wirtschaftlichen Dynamik, Kapitalismus genannt, vollzieht sich eine Wandlung: Die Situationen öffnen sich, sie bieten Wahlmöglichkeiten. Großstadt oder Landleben, dieser Lebenspartner oder jener, Verkäuferin oder Krankenschwester, diese Meinung oder eine andere, Pepsi oder Coca Cola? Weil es die Person ist, die die Wahl hat und trifft – wie begrenzt ihre realistischen Alternativen auch sein mögen (realistisch sein, heißt, wissen, was nicht geht) –, wird ihr die Entscheidung zugerechnet. Die Persönlichkeit erscheint als Summe ihrer Entscheidungen. „Die Normalbiographie wird zur ‚Wahlbiographie‘, zur ‚reflexiven Biographie‘, zur ‚Bastelbiographie‘. Das muss nicht gewollt sein, und es muss nicht gelingen. Bastelbiographie ist immer zugleich ‚Risikobiographie‘, ja ‚Drahtseilbiographie‘, ein Zustand der (teils offenen, teils verdeckten) Dauergefährdung.“ (Beck & Beck 1994, S. 13)

Sprüche wie „nichts ist notwendig, alles möglich“

Die Situation muss nicht mehr aufgebrochen, sie kann ausgenützt werden. Es gibt keine Helden mehr, nur noch gewiefte Gewinner und depperte Verlierer. Die Beziehung zwischen Person und Situation wird als stark personenlastig wahrgenommen. Die große Erzählung, die davon berichtet, hat den Titel „Jeder ist seines Glückes Schmied“. Die große Wut, die sich aus unglücklichen Niederlagen speist, schlägt sich, seit sie auf digitalen Plattformen öffentlich ausgespuckt werden kann, in Hate Speech nieder.

Auf der Benutzeroberfläche der Gegenwartsgesellschaft wird fast nur noch das Verhalten der Personen beobachtet und beschrieben, siehe die massenmediale Berichterstattung, aber auch die sozialwissenschaftliche Forschungspraxis, während die Verhältnisse – außer von linken Gesellschaftskritikern auf deren spezielle „antikapitalistische“ Weise und vielleicht noch vor Gericht als mildernde Umstände – als zu vernachlässigende Größen behandelt werden. Auf diese Weise wird unterschlagen, dass jede Situation, wie viele Optionen sie auch bereithält, zugleich eine Grenze zieht und bestimmte Verhaltensweisen leichter, andere schwerer macht. Der Realitätsverlust, der damit einhergeht, verführt zu Sprüchen wie „nichts ist notwendig, alles ist möglich“.

Eine solche personenzentrierte Sichtweise kann sich nur verfestigen und verallgemeinern, wenn das Alltagsleben dafür stabile Rahmenbedingungen bereithält. Der soziale Rahmen, in dem die Personalisierung besonders gut wächst und gedeiht, ist der Markt. Hier stehen sich Angebot und Nachfrage gegenüber und es ist in der jeweiligen Marktsituation in der Tat die („freie“) Entscheidung der Kunden, Klienten, Wähler, Publika, welche Angebote sie annehmen. Und konkurrierende Anbieter müssen alles aufbieten, um ihre potentiellen Nachfrager (auf Güter-, Dienstleistungs-, Arbeits-, Immobilien-, Wohnungs-, Meinungs-, Datingmärkten) persönlich anzusprechen und für eine Wahl zu ihren Gunsten zu gewinnen. Persönliche Eigenschaften werden – auf der Grundlage einer vorgegebenen sozialen Konstellation – zum Dreh- und Angelpunkt. Die Soziologie entdeckt eine „Gesellschaft der Singularitäten„.

Der Einzelperson wird alles zugetraut

Bild: janjf93 auf Pixabay

Wird die Frage nach den Voraussetzungen, nach den realen Handlungsbedingungen verabschiedet und alles auf den guten oder bösen Willen der Personen verlagert, ist es nur noch ein Katzensprung bis zu Verheißung und Verschwörung. Der Einzelperson wird jetzt alles zugetraut. Als Führerfigur kann sie alles, alles wenden (Donald Trump als Frühlingsbotenjunge). Und als Bösewicht, ausgestattet mit einer Überdosis an Geld, Macht, Prominenz, zum Beispiel Seuchen, Feuersbrünste und Fluten veranstalten, Mondlandungen und Terroranschläge vortäuschen, mit Chemtrails und Impfungen die Menschheit bedrohen.

Ein gutes Beispiel, um die Thematik zum Schluss noch einmal zu veranschaulichen, ist die „Stelle“. Organisationen schaffen Stellen, für die sich Personen bewerben. Es macht durchaus einen Unterschied, wer die Stelle schließlich übernimmt. Die oder der Neue wird auch entsprechend beobachtet und begutachtet. Aber profilieren kann sich die Person nur damit, wie sie ihre Sache macht. Was sie substantiell zu tun und lassen hat, hat die Stellenbeschreibung vorab festgelegt. Personen werden ausgewechselt, wenn man nicht wirklich etwas ändern will. Probleme zu personalisieren, heißt, im Wesentlichen alles beim Alten zu lassen.

Quellen:
Gerhard Schulze (1993). Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Campus
Ulrich Beck & Elisabeth Beck-Gernsheim (1994). Individualisierung in modernen Gesellschaften – Perspektiven und Kontroversen einer subjektorientierten Soziologie. In Dies. (Hrsg.). Riskante Freiheiten (S. 10-39). Suhrkamp

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

6 Kommentare

  1. Die »Leistungsgesellschaft« und mit ihrer Vorstellung vom individuellen Aufstieg, wenn die Person sich nur ausreichend bemüht, wäre vielleicht ein gutes Beispiel, um den Zusammenhang von persönlichen Handlungsoptionen und sozialstruktureller Einbindung zu beschreiben. Dann drängt sich allerdings noch ein weiterer Aspekt auf: Was als »Leistung« zählt, hat sich verschoben: vom Aufwand (Arbeit mal Zeit), Mühe, Anstrengung, die messbar bzw. operationalisierbar, also vorzeigbar sind, hin zum Ergebnis bzw. Erfolg, also ab am Ende ein Abnehmer, Käufer gefunden wird. Ob dies der Fall ist, hängt nun gar nicht mehr so besonders von der individuellen Anstrengung ab, sondern von einer blackbox namens »Markt«, hat also kaum noch mit individueller Anstrengung zu tun. Erst jetzt entstehen »Gewinner« und »Verlierer«, im freien Glücksspiel der Kräfte. Wenn aber der Zusammenhang zwischen individueller Anstrengung, Leistung und Ergebnis verloren geht, nicht mehr erkennbar ist, dann kommt es offenbar auf irgendwelche mystischen Fähigkeiten der Person an.

  2. @ Horst Kahrs: Danke für diese erhellende Ergänzung. In der Tat, man braucht den Sprung zu Verheißung und Verschwörung gar nicht zu machen, sondern kann dieses Alltagsmuster aufrufen: Personen werden zur Ursache hochstilisiert für undurchschaubare, unbegriffene Wirkungen. Wie „nachhaltig“ Erfolge an die Stelle von Leistungen getreten sind, hat Sighard Neckel mehrfach und anschaulich beschrieben, zum Beispiel in „Refeudalisierung der Ökonomie: Zum Strukturwandel kapitalistischer Wirtschaft“. https://www.econstor.eu/bitstream/10419/41695/1/63437026X.pdf

  3. Was mich irritiert an diesen großen Weiterungen von Arlt/Kahrs: Klaus West und ich versuchten über Sinn, Unsinn und Missbrauch von Personalisierung in der praktischen Politik einer liberalen Demokratie zu debattieren, die nun einmal auf die Wahl von Parteien und Personen aufgebaut ist, die dann mit Macht versehen in Ämter gelangen. Was haben die Betrachtungen Arlt/Kahrs für die Konstruktion der liberalen Demokratie und deren Wahlkämpfe zu sagen? Darum ging es ja.
    Arlt: „Probleme zu personalisieren, heißt, im Wesentlichen alles beim Alten zu lassen.“. Dann bedeutet das, ob Höcke, Weidel, Wagenknecht, Habeck, Söder, Scholz etc., die ja alle verschiedene Diagnosen erstellen und entsprechend verschiedene politische Therapien anbieten, das alles bleibt sich gleich und Wahlkampf und Wahlen sind per se eine Farce? Eine grandiose Irreführung?

    1. @ Wolfgang Storz: Einen solchen Kommentar kann nur schreiben, wer grundsätzlich nicht bereit ist, über Personalisierung hinauszudenken. Nur weil auf Wahlzetteln auch Personennamen stehen, davon auszugehen, alles hänge von der Einzelperson ab, entspricht einer Einstellung, die Online-Kommunikation als Klicken und Wischen beobachtet und beschreibt, weil es bei der Digitalisierung letztlich immer auf Klicken und Wischen ankomme. Zu empfehlen wäre die Lektüre des Bundeswahlgesetzes [https://www.gesetze-im-internet.de/bwahlg/] und vielleicht ein kurze Recherche, wie viele Personen in ein Parlament gewählt wurden, ohne einer Partei oder einer vergleichbaren Organisation anzugehören; und vielleicht sogar noch einen Gedanken darauf zu verschwenden, weshalb es große und kleine Parteien gibt und sogar solche, die kein Bein auf den Boden bringen oder gar nicht erst gegründet werden.
      Das Motto „Da stelle ma uns mal janz dumm“ ist in der Feuerzangenbowle lustig, für eine ernsthafte Diskussion macht es keinen Spaß. Wenn AfD gegen SPD heißt, Höcke und Weidel gegen Scholz, wenn CSU gegen Grüne bedeutet Söder gegen Habeck – und sonst nichts, dann empfehle ich Fingerhakeln zwischen letzteren und „Mensch ärgere dich nicht“ zwischen ersteren.

      1. Huch. Die Frage war ja nur, was all diese Überlegungen konkret bedeuten für Wahlen in einer liberalen Demokratie. Denn abstrakte Betrachtungen münden idealerweise in konkrete Vorschläge. Die Antwort scheint zu sein, höre ich aus den vielen Worten heraus: mehr Volksabstimmungen zu Sachthemen. Ist das so? Damit kann man was anfangen.

        1. Offenbar führen wir gerade ein schlechtes Beispiel des Aneinandervorbeiredens vor. Mein Versuch war, darauf aufmerksam zu machen, dass Personalisierung eine Methode ist, mit der zum einen das Nachdenken darüber vermieden wird, wie unsere Gesellschaft, ihre Wirtschaft, ihre Politik, ihre Öffentlichkeit etc., funktioniert; und sie zum anderen Erklärungen, Ursachen für Geschehnisse anbietet, die schwer oder gar nicht zu durchschauen sind. Lassen wir es dabei, da beides offenbar eher belanglos ist, weil nur „konkrete Vorschläge“ interessieren. In diesem Fall zu „Personalisierung und Wahlen in der liberalen Demokratie“.
          Wenn die Frage lautet, ob die Parteien im Wahlkampf auf Personalisierung setzen sollen oder nicht, könnte eine Antwort sein: Vertrauen ist ein wichtiges Kriterium für Wahlentscheidungen, deshalb haben Amtsinhaber:innen einen Bonus, denn mit ihnen sind die Wähler:innen vertraut. Dass sie Amtsinhaber:innen auch für die Zukunft trauen, dafür gibt es eine gute Chance. Für alle anderen dürfte gelten: Themen sind wichtiger als Personen. Die Partei, die ihre favorisierten Probleme/ Themen im Zentrum des Wahlkampfs platzieren kann, verbessert ihre Chancen.
          Aber der Witz ist doch: Es gibt Erfahrungswerte, doch nix Genaues weiß man nicht. Wie Wähler:innen entscheiden, ist und bleibt ihr Geheimnis, dessen Auflösung sie bis zur letzten Minute manchmal selbst nicht kennen. Deshalb sind Wahlen genau ein solcher Fall des Nichtwissens, des Nichtwissenkönnens, über das man sich mit Personalisierung hinwegmogelt.

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