
Soll/kann es in der deutschen Politik jetzt wie gewohnt weitergehen mit zähen Koalitionsverhandlungen und einer Regierungspraxis mit langen Abstimmungs- und Entscheidungswegen oder bedarf es, Stichwort Ausnahmezustand, anderer politisch-institutioneller Wege und welche könnten es sein?
Das ist die dritte Frage zur politische Lage, die das Bruchstücke-Team sich und einem Kreis seiner Autor:innen gestellt hat. Auch darauf zehn Antworten.
Detlef zum Winkel: Zivilgesellschaftliches Engagement stärken
Nicht die Institutionen, sondern zivilgesellschaftliche Engagements haben maßgeblich dazu beigetragen, dass es am 23. Februar nicht noch schlimmer gekommen ist. Daher sind Gewerkschaften, Bürgerinitiativen, Omas gegen rechts, Umweltverbände, Zentralrat der Juden in Deutschland und andere mehr zu unterstützen und zu stärken. Sie sind die Antifa in diesem Land. Diejenigen, die gewöhnlich den Titel „antifa“ für sich beanspruchen, sollten sich darüber freuen und sich in diesen größeren Kontext einbringen. Innerhalb der Zivilgesellschaft gibt es nicht nur willkommene Diversität, sondern auch gravierende Widersprüche, die den Erfolg der Mobilisierungen gegen rechts gefährden können. Hier steht die Positionierung zum Nahostkonflikt ganz oben. Daran muss gearbeitet werden, von beiden Seiten. Die Rechtsentwicklung zwingt dazu.
Andreas Wittkowsky: Nur dringendste Prioritäten festhalten
Wir befinden uns (noch) nicht im Ausnahmezustand – außergewöhnlich ist er schon. Es gibt den Vorschlag, im Koalitionsvertrag nur die dringendsten Prioritäten festzuhalten, und das übrige dem regelmäßig tagenden Koalitionsausschuss und der Ressortautonomie zu überlassen. Frühere Koalitionsverträge waren deutlich kürzer als die detaillierten Regierungsprogramme der letzten Jahre, die sich im Zweifelsfall auch nicht als felsenfest erwiesen. Dies erfordert aber Vertrauen zwischen den Koalitionspartnern – und stärkt auch die Rolle des Finanzministers.
Die CDU hat angekündigt, den lange diskutierten Nationalen Sicherheitsrat als ressortkoordinierendes Gremium der Sicherheitspolitik im Kanzleramt einzurichten. Da ich lange dafür plädiert habe, begrüße ich ihn als Schritt, Abstimmungsprozesse zu verkürzen und Ressortegoismen im Ansatz zu überwinden.
Thomas Weber: Wer mit Merz koaliert, ist erpressbar
Die Herausforderung, vor der Deutschland jetzt steht, nimmt keine Rücksicht darauf, ob und wie in Deutschland sich eine neue Regierung findet. Deutschland hat immer eine Bundesregierung. Das Grundgesetz sieht keine Regierungslosigkeit in Deutschland vor. So lange kein Nachfolger gewählt ist, bleibt Olaf Scholz Bundeskanzler und Scholz hat seit der Wahl mehrfach angekündigt, bis zum letzten Tag das Amt Bundeskanzlers gewissenhaft auszuüben. Dabei ist nicht ausgeschlossen, dass dieser letzte Tag möglicherweise nicht in der nahen Zukunft liegt, vielleicht sogar erst nach möglichen weiteren Neuwahlen.
Dass gerade die Verteidigung des Rechts und des Rechtsstaates die herausragende Herausforderung ist, macht für die anderen rechtsstaatlichen Parteien in einer Situation, in der die Union und die AfD im Bundestag eine Kanzlermehrheit haben, eine Koalition mit der Union schwierig. Denn die rechtsstaatliche Mehrheit von Union und SPD kann zwar einen Bundeskanzler wählen. Ohne Union kann aber die SPD den gewählten Bundeskanzler danach nicht mehr mit rechtsstaatlicher Mehrheit durch ein konstruktives Misstrauensvotum stürzen. Insofern wird, wer mit der Merz-Union koaliert, erpressbar und machtlos. Eine Koalition mit der Merz-Union ist daher rechtsstaatlich vergiftet. Merz mag beteuern, niemals mit der AfD, zusammenarbeiten zu wollen. Warum sollte man es ihm – insbesondere nach der Trickserei des 29. Januar – noch glauben?
Auch macht das Austesten der grundgesetzlichen Würde des Menschen in der politischen Wahlkampfsprache der Merz-Union beim Asylrecht und beim Bürgergeld das Vertrauen in die rechtsstaatliche Stärke der Union nicht größer. Und wie lange wird wohl eine von Merz geführte Regierung dem Druck der US-Administration, die AfD an der Regierung zu beteiligen, standhalten können?
Da das Parlament aber mit großer rechtsstaatlicher Mehrheit voll handlungsfähig ist, werden Parlament und Regierung, sei es die geschäftsführende, sei es eine neue Regierung, das politisch für die Zukunft Europas Notwendige – Schuldenbremse, Haushalt, Verteidigung etc. – aushandeln, beschließen und auf den Weg bringen müssen und können.
Eine aus meiner Sicht notwendige Entscheidung wäre, vom Parlament aus das AfD-Verbotsverfahren beim Bundesverfassungsgericht auf den Weg zu bringen. Würde sich auch die Union diesem Antrag anschließen, könnte ein solches laufendes Verbotsverfahren eine vertrauensbildende Versicherung gegen eine AfD-Versuchung darstellen und damit den Weg zu einer Koalition mit der Union frei machen.
Klaus Vater: Politische Bildung mit aller pädagogischen Kunst
Zwischen den potenziellen Koalitionsfraktionen herrscht Misstrauen. Daran gibt es keinen Zweifel. Im konservativen Lager wurde bereits mit Blick auf kritische Stimmen vom „Dolchstoß“ geredet; auf der anderen Seite wird gemutmaßt, dass der künftige Kanzler Merz ein doppeltes Spiel betreiben könnte. Eine Lösung wäre die zweistufige Verabredung, der zweistufige Vertrag: in einem Teil würden die – pathetisch geschrieben – unkündbaren und unverbrüchlich geltenden, gemeinsamen Positionen festgehalten, in einem zweiten Teil das, was auch Gegenstand der politischen Konkurrenz werden kann.
Eine entscheidende gesellschaftspolitische Frage ist für mich: Wie kann während eines überschaubaren Zeitraumes die politische Bildung verbessert werden?
Durch obligatorische Information: statt Abi-Fahrt nach Rom oder Athen und Prag 10 Tage politische Bildung nach allen Regeln der pädagogischen Künste. Und für bereits Beschäftigte politischer Bildungsurlaub, tarifvertraglich abgesichert und zuschuss-begünstigt.
Wolfgang Rose: Demokratische Sorgfalt vor Geschwindigkeit
Wir leben in einer Epoche, in der insbesondere die Medien nach schnellen Entscheidungen rufen. Ob die Politik gut beraten ist, diesem (in erster Linie eigenwirtschaftlich motivierten) Verlangen nachzugeben, ist zu bezweifeln. Wenn es schneller Entscheidungen bedarf, haben sich unsere Institutionen immer als handlungsfähig erwiesen. Voraussetzung dafür war und ist allerdings, dass es einen breiten Konsens bezüglich der Notwendigkeit von a) schnellem Handeln und b) von inhaltlicher Übereinstimmung gibt. Mit Blick auf angebliche Notwendigkeiten, parlamentarische Verfahren und/oder politische Kompromisssuche dem Erfordernis der Geschwindigkeit unterzuordnen oder gar außer Kraft zu setzten, hieße die Büchse der Pandora zu öffnen. Nein, auch in der Politik gilt, dass Sorgfalt vor Geschwindigkeit geht. An zu langen Entscheidungswegen jedenfalls hat es in der jüngsten Vergangenheit nicht gelegen.
Es gehört zu den Grundpfeilern des demokratischen Selbstverständnisses, dass Demokratie nicht die Diktatur der Mehrheit über die Minderheit ist und demzufolge die Politik auch in Zukunft gut beraten wäre, wenn sie ihre Entscheidungen möglichst breit abwägt, und das benötigt eben auch Zeit, die man sich nehmen muss. Das gilt sinngemäß natürlich auch für streitige Richtungsentscheidungen, bei denen das Wahlvolk einen Anspruch darauf hat, dass das Für und Wider öffentlich (im Parlament, in den Parteien und in der Zivilgesellschaft) diskutiert wird und Entscheidungen und deren Begründung transparent gemacht werden.
Unabhängig davon scheint es nicht unrealistisch zu sein, dass bis Ostern ein Koalitionsvertrag steht und eine neue Bundesregierung ins Amt kommt.
Dieter Pienkny: Sozialpolitik mit Augenmaß statt Abrissbirne
Ein Kanzler in spe, imprägniert durch eine neoliberale „Heuschrecke“ wie BlackRock, wird seine Gesinnung nicht an der Garderobe abgeben. 28 Prozent sind für Merz kein Persilschein. Sein Koalitionspartner muss ihm klar machen, dass eine polarisierte Bevölkerung auf eine Sozialpolitik mit Augenmaß wartet und nicht auf die Abrissbirne. Also Hände weg vom Bürgergeld und für klare Zuständigkeiten Kommune/Land/Bund in der Migrationspolitik sorgen. Meine Befürchtung: die Verteilungsgerechtigkeit ist auf den St. Nimmerleinstag verschoben…
Grundsätzlich soll gelten, Kompetenz vor Proporz: mit politischen Nullnummern wie Dobrindt und Co. ist kein Staat zu machen.
Klaus Lang: Zum Glück eine wirkmächtige grün-rote Opposition
Wir haben innen- und außenpolitisch gewaltige Herausforderungen. Deutschland ist als politisch immer noch stabilstes und wirtschaftlich stärkstes Land in der EU besonders gefordert. Aber wir haben keine Staats- oder Verfassungskrise. Daher gibt es keinen Grund, Neuwahlen anzustreben oder die institutionellen Grundlagen zur Koalitions- und Regierungsbildung zu verlassen, aber jeden Grund, den Stil von Koalitionsverhandlungen und Regierungshandeln zu ändern. Wird der Eindruck erweckt, Koalitionsverhandlungen müssten monatelang dauern, Ideen einer Allparteien-Regierung ohne AfD oder einer „Expertenregierung“, berufen von wem auch immer, wären Dünger für den Nährboden der AfD. Demokratieverachtend wäre auch der Versuch, durch möglichst lange Koalitionsverhandlungen, die jetzt abgewählte Regierung und ihren Kanzler möglichst lange geschäftsführend im Amt zu behalten.
Der jetzige und der voraussehbare Bundeskanzler sollten insbesondere die außen- und europapolitischen Schritte gemeinsam vollziehen. Unionspartien und SPD stehen in der Verantwortung, ihre Koalitionsverhandlungen rasch zu beginnen und zügig zu führen. Sie sollten einen „Koalitionsvertrag der Eckpunkte“ anstreben und die weitere Konkretisierung in einem Koalitionsausschuss, der nicht nur ein Krisenmanager sein soll, vornehmen. Das ist in einer Zeit unüberschaubarer Verhältnisse der beste Weg effizienten Regierungshandelns. Ein knappe Regierungsmehrheit kann eine sinnvolle disziplinierende Wirkung ausüben.
Und mit den Grünen und der Linken ist glücklicherweise eine links-grüne parlamentarische Opposition wirkmächtig, ebenso stark wie die AfD. Sie kann in Fragen der ökologischen Transformation und der sozialen Gerechtigkeit Druck machen. Aber mehr als in der Vergangenheit sollten diese Parteien das parlamentarische Handeln gezielt mit außerparlamentarischer, gesellschaftlicher Mobilisierung verbinden.
Frank Hoffer: Niemand vermisst politikunfähige Egoman:innen
Von einem Ausnahmezustand kann in Deutschland keine Rede sein und er sollte auch nicht herbeigeredet werden. 80 % der Bundestagsabgeordneten sind nach ihrem Selbstverständnis der Demokratie und dem Rechtsstaat verpflichtet. Die Wähler haben FDP und BSW in die Wüste geschickt und ihrem ausländerfeindlichen Alternativpopulismus zur AFD eine Absage erteilt. Die von kompromisslosen und daher politikunfähigen Egoman:innen geführten Parteien werden im Bundestag nicht vermisst werden. Lösungsfreier Rechtspopulismus a la Merz-CDU droht derzeit ebenfalls nicht, da die CDU jetzt Lösungen liefern muss. Die SPD sollte ihre Koalitionsbereitschaft daran knüpfen, dass die Regierung bereit ist, mit der demokratischen Opposition von Grünen und Linken über einen „Pakt der Vernunft“ zu sprechen, um einen breiten Konsens für zentrale Zukunftsfragen zu finden. Kurz: Regieren statt postulieren, integrieren statt segregieren, investieren statt blockieren.
Hendrik Auhagen: Über den Schatten der alten Logiken springen
Es kollidieren gerade zwei Logiken miteinander: Die der objektiven Dramatik der Herausforderungen (Stichwort 2029 drohende 50%-Mehrheit der AfD) einerseits und andererseits der in der Parteiendynamik tief verankerte Partikularismus, die Spielchen-Mentalität und die Fixierung auf kurzfristiges Durchkommen. Die bisherige Parteiendemokratie wird zur Bedrohung der Demokratie an sich!
Darum braucht es einen Druck auf die Parteien aus der demokratischen Mitte, endlich über den Schatten der alten Logiken zu springen. Und aus dem Kardinalfehler der Ampel zu lernen, und der war NICHT das Trio, sondern das Beschließen von (gigantischen) Zielen ohne Übereinstimmung in der Finanzierungsbasis.
Aus meiner Sicht: Endlich eine Dreier-Fraktionen-Regierung „weit über den Durst“ also Schwarz-Rot-Grün. Und nicht für eine, sondern mindestens für zwei Perioden, zusammengehalten durch das, was alle drei Partner für langfristig überlebensnotwendig für diese Gesellschaft halten. Statt sich gegenseitig in die Suppe zu spucken, jedem Partner einen Kernbereich mit weitgehender Gestaltungsmöglichkeit einräumen (Union die Migration und Kriminalitätsbekämpfung), SPD die Lösung des dramatischsten Sozialproblems nämlich die Bezahlbarkeit des Wohnens und den Grünen Ökologie und Verkehrswende).
Da die Parteien auch angesichts ihres geringen inneren Niveaus aus sich selbst heraus nicht in der Lage sind, über ihren Schatten zu springen, braucht es äußeren Druck aus der demokratischen Mitte der Gesellschaft.
Hans-Jürgen Arlt: Schon die Frage hat etwas von Panikmache
Weil es die Probleme sind, die sie erleben und die sie betreffen, halten Zeitgenoss:innen aktuelle Probleme, gerne „Herausforderungen“ genannt, verständlicherweise für besonders groß und besonders schlimm. Angesichts der Lage in Deutschland an Ausnahmezustand auch nur zu denken, geschweige denn, ihn ausrufen zu wollen, darüber können Historiker:innen nur voller Verwunderung den Kopf schütteln. Schon die Frage hat etwas von Panikmache. Wenn die gegenwärtigen deutschen Zustände nach einer Notstandsregierung rufen, müsste sie in den allermeisten europäischen Ländern schon lange eingesetzt sein.
Allerdings gibt es eine andere Seite. Historische Erfahrungen der Neuzeit zeigen, mit welcher Geschwindigkeit aus Risiken Krisen und mit welcher Wucht aus Krisen Katastrophen werden können. Das hängt mit der Funktionsweise unserer modernen Gesellschaften direkt zusammen: Jeder macht Seins in Konkurrenz mit den anderen, Organisationen und Personen treiben sich gegenseitig voran – wohin eigentlich, das fragen die wenigsten. Wissen wozu, für den eigenen Erfolg, muss reichen, wissen wollen wohin und warum belastet nur. Jeder und Jede eine Selbstversorgungseinheit, die versuchen muss, sich irgendwie durchzuschlagen und zurecht zu kommen. Das lässt wenig Zeit und erlaubt wenige Gedanken für andere, es sei denn, sie sind für etwas zu gebrauchen, das dem eigenen Wohlergehen und Fortkommen dient.
Dabei entsteht ein verrückter Widerspruch. Nie dagewesene Kommunikationsmöglichkeiten, ungeahnte Fortschritte der Wissenschaft und der Technik, größter Wohlstand aller Zeiten, höchste Mobilität, beste medizinische Versorgung, tödlichstes Waffenarsenal ever, mehr Bildung, mehr Sport, mehr Unterhaltung als jemals zuvor – ein Schlaraffenland (für die Erfolgreichen) und gleichzeitig angstvolles Warten auf den nächsten globalen Finanzcrash, die nächste Massenarbeitslosigkeit, das nächste Hungerelend, die nächste Steigerung der Kriminalitätsrate, die nächste Umweltkatastrophe, die nächste Pandemie, den nächsten Krieg. So gesehen machen die Modernisierungs-Sieger dieses Planeten überhaupt nichts anderes, als sich in Ausnahmezuständen gemütlich einzurichten, dabei Erfolglose hängen zu lassen (um sie dann auch noch zu belehren, wenn nicht zu beschimpfen). Mit Ricarda Lang gesagt:
Wenn eine Familie mit geringem Einkommen bei ihrem Diesel bleibt, dann heißt das nicht, dass sich die Eltern weniger für die Zukunft ihrer Kinder interessieren. Sie treffen eine rationale Entscheidung mit den Mitteln, die ihnen zur Verfügung stehen. Was ist es da für ein paternalistischer Schwachsinn, so zu tun, als wäre es nun meine Aufgabe, dieser Familie ein weiteres Mal zu erklären, wie wichtig Klimaschutz ist – statt meine Zeit darauf zu verwenden, dass Mama und Papa einen besseren Lohn haben, die Kinder gute Bildung erhalten und E-Autos endlich günstiger werden?
Siehe auch die beiden anderen Nachwahl-Fragen und Antworten
„Erstarrte Stimmung, erwartbare Abstimmung“ sowie „Handlungsbereit oder depressiv und regressiv„