
„Soziales Unternehmertums“ stärker zu beachten und besser zu fördern, wird als probates Mittel zur Überwindung der Innovationsschwäche und der oft enttäuschenden Wirksamkeit der Sozialpolitik empfohlen. Seit den späteren 1990er Jahren gab es eine Vielzahl von Initiativen auf europäischer wie auf nationaler Ebene, unternehmerische Elemente im Bereich sozialer Interventionen im weiteren Sinne zu entwickeln, nicht nur im Bereich staatlich programmierter und finanzierter sozialer Praxis, sondern auch im Bereich zivilgesellschaftlichen Engagements und sozial verantwortlicher Unternehmensführung in der Wirtschaft. Die Literatur zum sozialen Unternehmertum in Wissenschaft und sozialpolitischer Praxis ist inzwischen nur noch schwer zu überschauen. Das Handbuch „Social Entrepreneurship in Deutschland“ gibt einen guten Überblick über konzeptionelle Ansätze, den fachlichen Entwicklungsstand und Problemfelder bei der Umsetzung sozialunternehmerischer Initiativen.
Eine abschließende Klärung des Begriffs des sozialen Unternehmertums bzw. der „Social Entrepreneurship“ mit einer Abgrenzung zu anderen Organisationsformen sozialer Arbeit und sozialpolitischer Intervention steht gleichwohl noch aus. Soziales Unternehmertum bildet, wie Philipp Kenel, Jennifer Eschweiler, Helga Hackenberg und Michael Wihlenda in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Handbuch zu Social Entrepreneurship in Deutschland hervorheben, eine „Projektionsfläche“ für sehr unterschiedliche analytische und normative Ansätze. Es sei ein „Diskursphänomen“, bei dem noch nicht sicher sei, wie weit es tatsächlich zu Veränderungen in der sozialpolitischen Praxis führen könne.
Ein spannungsvolles Dreieck
Der Reader von Kenel et al.. versteht sich als Beitrag zum Dialog zwischen unterschiedlichen Perspektiven auf Social Entrepreneurship und zur Verständigung zu den konzeptionellen Grundlagen. Er versammelt 17 Beiträge von im Themenfeld einschlägig ausgewiesenen Autoren, gegliedert in drei Kapiteln zu den gesellschaftlichen Grundlagen des sozialen Unternehmertums, den verschiedenen organisatorischen und fachlichen Ausprägungen sozialer Unternehmen und schließlich den zentralen Problemfeldern in ihrer Praxis.
Nicole Göhler von Ravensburg gibt einen historischen Überblick zu den verschiedenen Entwicklungssträngen sozialen Unternehmertums, die, wie sie zeigt, enge Bezüge auch zu dem besonderen deutschen Weg der späten Nationenbildung Deutschlands haben. Die Zustimmung zur staatlichen Zentralisierung war demnach geknüpft an die Anerkennung dezentraler Kräfte in Staat und Zivilgesellschaft, was auf dem Gebiet der Sozialpolitik das für Deutschland charakteristische Gewicht nicht-staatlicher Akteure, von Vereinen, Genossenschaften und privater Initiativen begründete. Dadurch sei eine Typenvielfalt von Akteuren entstanden, die Göhler von Ravensburg durchweg als Träger sozialen Unternehmertums charakterisiert. Dieses habe sich in einem spannungsvollen Dreieck zwischen Orientierung am Allgemeininteresse, der Orientierung an gegenseitigen Interessen wie bei den Genossenschaften und nicht zuletzt aber auch dem Interesse von Eigentümern und Kapitalgebern organisiert. Es ist ein sehr weit gefasster Begriff von sozialem Unternehmertum, den Göhler von Ravensburg hier anwendet. Fast jede Initiative in der Geschichte der deutschen Sozialpolitik ist so gesehen unternehmerisch, zumindest in den Anfängen. Man mag zweifeln, ob es sinnvoll ist, den Rahmen so weit zu stecken. Es hilft jedoch dabei, Vielfalt und Zusammenhang sozialpolitischen Handelns gleichermaßen im Blick zu behalten. Die im Anschluss an Jaques Defourny formulierten Systematisierungsvorschläge der Autorin sind auf jeden Fall ebenso instruktiv wie plausibel.
Ein postmodernes Phänomen
Peter Dürr und Ralph Richter sehen in den Ansprüchen des sozialen Unternehmertums einen Hinweis darauf, dass sich etablierte Linien der Differenzierung zwischen gewinnorientierter Wirtschaft und dem werteorientierten System sozialer Organisationen verwischen und sich eine wechselseitige Durchdringung der bisher strikt getrennten Handlungslogiken abzeichnet. Insofern könne man den Hype um Social Entrepreneurship auch als Teil einer gesellschaftlichen Transformation betrachten, in der sich Zugehörigkeiten auflösen und Identitäten verflüssigen. So gesehen wäre sie ein postmodernes Phänomen. Gleichzeitig entstehen neue Organisationslogiken, die nicht mehr in die alten Schubladen passen, die aber gleichwohl immer noch ihren roten Faden finden müssen, um den hohen Anspruch der unternehmerischen Erneuerung sozialer Praxis einlösen zu können. Noch gebe es eine große Diskrepanz zwischen der öffentlichen Aufmerksamkeit für soziales Unternehmertum und seiner praktischen gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedeutung. Sozialunternehmen seien nach wie vor ein Nischenphänomen. Der Anspruch etwa, in diesem Sektor so etwas wie eine Forschungs- und Entwicklungsabteilung (F&E) der Gesellschaft zu etablieren ist, wie Richter in seinem Beitrag zeigt, mit Blick auf die Fakten viel zu hoch gegriffen.
Einen Zusammenhang zwischen der Idee des Sozialunternehmerischen und dem postmodernen Individualismus mit seiner Bindungsaversion und weitreichenden Selbstverwirklichungsansprüchen sieht auch Peter Heller. In der Realität seien Sozialunternehmer trotz des allgegenwärtigen Anspruchs einer „transformativen“ Praxis viel weniger Agenten der „schöpferischen Zerstörung“ im Sinne Jospeh Schumpeters als Menschen, denen es erst einmal um ihr individuelles Anderssein geht. Das „sozialunternehmerische Selbst“ könne man Heller zufolge auch als „künstlerisches Ich“ denken, das aber in der Praxis der Sozialunternehmen harten Prüfungen ausgesetzt werde. Noch habe soziales Unternehmertum gesellschaftlich nur einen „marginalen Effekt“. Vor einer Heroisierung des Sozialunternehmers und damit auch vor zu hohen Erwartungen sei zu warnen.
Ein guter Wurf
Dass sich soziales Unternehmertum in starken Spannungsfeldern nicht nur zwischen Anspruch und Wirklichkeit, sondern auch zwischen verschiedenen Zielen und mit paradoxen gesellschaftlichen Erwartungen bewähren muss, betont Carolin Waldner. Ein Fremdkörper ist das Konzept des Sozialunternehmertums noch immer in der Sozialarbeit, wie Katrin Schneiders erläutert. Um hier weiterzukommen müsse man das Thema viel stärker als bisher in den Ausbildungsgängen des Sozialwesens verankern. Auch bei den Fragen der Finanzierung, der Rechnungslegung und den wichtigen Fragen der Messung von Wirkung bzw. „Impact“ der Arbeit sozialer Unternehmen ist offenkundig noch viel zu tun, wie in weiteren Beiträgen des Buches deutlich wird.
Social Entrepreneurship sei in mancher Hinsicht mehr Phantom als gesellschaftlich bedeutsames Phänomen, gibt Martina Wegner zu bedenken. Leistungen sozialer Unternehmen hätten entgegen der Selbststilisierung als disruptive Pioniere oft nur wenig Innovationsgehalt. Davon, Antworten auf strukturelle Probleme zu geben, seien sie bei nüchterner Betrachtung meilenweit entfernt.
Abschreiben sollte man die Idee von Social Entrepreneurship aber keineswegs. Die Sozialpolitik braucht dringend neue Ímpulse. Da können unternehmerische Ansätze einen wichtigen Beitrag leisten, und sei es nur den, etwas frischen Wind und Wettbewerbsgeist in die zuweilen arg festgefahrenen sozialpolitischen Debatten zu bringen. Insgesamt ist den Herausgeberinnen und Herausgebern mit dem Band ein guter Wurf gelungen. Dass das vielfach unkritisch gehypte Sozialunternehmertum in einigen Beiträgen kritisch hinterfragt und eingeordnet wird, ohne die reflexhafte Abwehrposition der etablierten Wohlfahrtspflege zu reproduzieren, ist dabei ein großer Vorzug.
Philipp Kenel, Jennifer Eschweiler, Helga Hackenberg, Michael Wihlenda (Hrsg.):
Social Entrepreneurship in Deutschland. Handbuch für Wissenschaft und Praxis, Bielefeld 2025
Transcript, 45 €, ISBN 978-3-8252-6333-1