Soziale Medien? Die falsche und unsinnige Übersetzung des englischen «social» ist selbst bei seriösen Medien nicht auszurotten. Unterdessen behauptet zwar niemand mehr, Facebook, X, Whatsapp, Youtube oder Instagram seien soziale Institutionen, die «dem Gemeinwohl dienen, die menschliche Beziehungen fördern und die wirtschaftlich Schwächeren schützen», wie es im Duden heisst und wie es dem deutschen Sprachverständnis entspricht. Trotzdem reden und schreiben selbst öffentlich-rechtliche Medien weiterhin regelmässig von «sozialen Medien». In Zeitungen wie der «NZZ» oder dem «Tages-Anzeiger» liest man immer wieder – manchmal sogar in Titeln – von «sozialen Medien» oder «sozialen Netzwerken».
Es kommt der Verdacht auf, dass diese Medien den Begriff «sozial» abwerten und diffamieren wollen – und damit auch soziale Institutionen und die Sozialpolitik. In den letzten sechs Monaten verbreitete der «Tages-Anzeiger» (und mit ihm andere Tamedia-Zeitungen) gemäss Mediendatenbank 307-mal den Begriff «soziale Medien», das «St. Galler Tagblatt» der CH-Media 231-mal. Sogar die «Wochenzeitung» (WoZ) schrieb 34-mal von «sozialen Medien» und «Infosperber» noch 11-mal.
Die Bedeutungen des englischen Wortes «social» sind nicht identisch mit denen von «sozial». «Social» heisst laut Britannica Dictionary vor allem, nicht einsam zu sein, gesellschaftlich zu sein, Zeit und Aktivitäten mit anderen Menschen zu verbringen, miteinander zu reden und angenehme Dinge miteinander zu tun.
Die angeblich sozialen Medien dienen der Unterhaltung und der Information. Darüber hinaus verbreiten sie anonyme Belästigungen, Verunglimpfungen und frauenfeindliche, rassistische und antisemitische Parolen. User können sie nutzen, um zu stalken und zu Gewalt aufzurufen.
Die Übersetzung «soziale Medien» ist falsch und irreführend. Eine korrekte Übersetzung wäre vielleicht «gesellschaftliche Medien», wenn man nicht beim englischen Begriff «Social Media» bleiben will.
Unter dem Titel „Für viele Medien sind Social Media immer noch «sozial»!“ erschien der Beitrag zuerst auf Infosperber
Kommunikationstheoretische Nachbemerkung, vierteilig
1. „Medium“ ist eines dieser Plastikwörter, in tausend Zusammenhängen gebraucht, in seiner Bedeutung bis zur Unkenntlichkeit zerfasert. Aber eines bleibt am Medienbegriff stabil: Immer geht es irgendwie um Mitte und Vermittlung. Sozialität gehört zu einem Medium wie die Höhe zum Berg oder die Länge zur Strecke. Das ist besonders offensichtlich, wenn Medium im Zusammenhang mit Kommunikation im Sinn von Verbreitungsmedium gemeint ist. Verbreitungsmedien (wie Sprache, Schrift, Radio etc.) „sozial“ oder „social“ zu nennen, heißt, von einem weißen Schimmel oder einem viereckigen Quadrat zu sprechen. Insofern liegt „sozial“ weit daneben und für „social“ gilt, knapp daneben ist auch vorbei.
Warum konnte sich „social media“ bzw. „soziale Medien“ trotzdem im Sprachgebrauch durchsetzen? Der Grund dürfte ein reduziertes Kommunikationsverständnis sein.
2. Kommunikation hat zwei operativ getrennte, aber sachlich untrennbare Seiten, das Mitteilungshandeln und das Rezeptionserlebnis. Wer sich von dem operativen Auseinanderfallen der Kommunikation zu sehr beeindrucken lässt, sieht Bäume – gewiss nicht ohne Erkenntnisgewinn, aber was ein Wald ist, wird sich auf diese Weise nicht erschließen. Die operative Trennung macht sich besonders stark geltend in der Massenkommunikation, die sich seit Erfindung des Buchdrucks entwickelt, mit den Funkmedien entfaltet und auf digitalen Plattformen ihre aktuell auffälligste Form angenommen hat.
3. In der alten, analogen Massenkommunikation waren „die Massen“ Rezipienten. Die Mitteilungen kamen (als Werbung, Unterhaltung oder Journalismus) aus den Redaktionen der Verlage und Sender. Die Adressaten rezipierten oder ignorierten die Mitteilungen als isolierte Einzelne und blieben dabei öffentlich weitestgehend stumm. An Auflagen- und Zuschauerzahlen lies sich immerhin ablesen, wie viele Menschen mit den Mitteilungen irgendwie in Kontakt kamen. Demoskopie und Medienwirkungsforschung versuchten, etwas über den Einfluss der öffentlichen Mitteilungen herauszubekommen.
In der digitalen Massenkommunikation sind die Massen darüber hinaus auch Absender; Rezeptionserlebnis und Mitteilungshandeln gehen Hand in Hand. Im Prinzip kann sich jetzt Jede und Jeder (via Plattformen) öffentlich mitteilen. Die massenmedialen Rezipienten können über Tausende Meilen hinweg miteinander ins Gespräch kommen. Hier begegnet uns die „Geselligkeit“, die das englische „social“ meint, dieses „Zeit und Aktivitäten mit anderen Menschen zu verbringen, miteinander zu reden“, von dem Urs Paul Gasche oben schreibt.
Plattformen „soziale Medien“ zu nennen, ist und bleibt unglücklich. Es handelt sich um „digitale Massenkommunikation“, aber wer mag schon eine so holprige Bezeichnung benutzen. Wörter sind Zeichen, ihr Schicksal entscheidet sich daran, ob sie verwendet werden oder nicht. Ein Gebrauch, der sich einmal durchgesetzt hat, lässt sich, wenn überhaupt, nur mit langem Atem ändern.
4. Sehr interessant ist, wie Mobbing, Hohn und Spott, Aggression und Hass der Plattform-Kommunikation in Wissenschaft und politischer Öffentlichkeit diskutiert werden. Fast ausschließlich wird nach der Funktionsweise der Plattformen gefragt und nach Möglichkeiten, diese zu regulieren. Sicherlich berechtigt, aber trotzdem bleibt die Frage: In welcher Gesellschaft leben wir eigentlich? Unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen haben so viele Menschen die ausgeprägte Neigung, sich auf diese feindselige Weise – mit „anonymen Belästigungen, Verunglimpfungen und frauenfeindlichen, rassistischen und antisemitischen Parolen“ – öffentlich zu äußeren, sobald sie die technische Möglichkeit dazu haben? (bruchstuecke, at)
Als gelerneter Journalist und sprachbewusster Zeitgenosse bin ich schon des Öfteren über den Begriff „soziale Medien“ gestolpert. Und habe mich über dessen unsachgemäße, unsinnige Verwendung geärgert.
Schon die ursprüngliche Entstehung des Begriffs im Englischen war problematisch; auch da schon war der Begriff unscharf und ungenau. Die gedankenlose Übernahme ins Deutsche – wie bei vielen Anglizismen – war einfach dumm. Dass dieser Fremdwortimport allgemeine Sprachverwirrung, falsche und oftmals abstruse Vorstellungen auf Seiten der Rezipienten zur Folge haben würde, war vorhersehbar.
Daher bin ich Urs Paul Gasche sowie dem Verfasser der „kommunikationstheoretischen Nachbemerkung“ sehr dankbar: Endlich mal Leute, die Licht in dieses Sprach-Dunkel bringen. Jetzt fehlt nur noch die Anstrengung vieler kluger Köpfe, den falschen Sprachgebrauch wieder aus der Welt zu schaffen. „Ein Gebrauch, der sich einmal durchgesetzt hat, lässt sich, wenn überhaupt, nur mit langem Atem ändern.“ (Nachbemerkung 3)