Das deutsche Recht auf Spargel und die Papa-Phantasien des kleinen Markus

Tagebucheintrag 13./14. Juni 2020: „Was ich Corona nicht unterstelle, sich aber einreiht in all die kleinen und großen Absonderlichkeiten dieser ganz und gar absonderlichen Zeit: Mein Weihnachtskaktus blüht. Schlumbergera ist aus der Zeit gefallen. Ist das nicht ein schöner Name? Klingt wie eine Frau, die jeden Tag einen neuen Plan fürs Leben hat, und in deren Wohnung liebenswertes Chaos herrscht.“ (Foto: Joksel Zok auf Unsplash)

Das Empfohlene ist viel besser als die Empfehlung. Statt weiter zu lesen, sollten Sie diesen Link anklicken, dann werden Sie ganz von selbst den zweiten, den dritten und vierten öffnen; neue Teile sollen noch geschrieben werden. Kathrin Gerlof und Sigrun Matthiesen haben im März dieses – mit zwei zusammengebastelten 20ern bezeichneten und auch sonst von Zahlen in Endlosschleife erschöpften – Jahres begonnen, Tagebuch zu schreiben: Edelmetall im Kommunikationsgerümpel, das sich über der Corona-Krise auftürmt und um sie herum ablagert.

Der Zahl ist ihr Sinn egal, sie ist für alles zu gebrauchen. Zahlen sind per se informativ, denn ihre bloße Benennung ruft einen Unterschied auf – sie könnten größer oder kleiner sein. Wer mit Zahlen zugeballert wird, braucht nichts zu begreifen und kann trotzdem mitreden. Aber Zahlen können auch klarstellen. Am 27. März notiert Sigrun Matthiesen:

Heinz Bude, der Soziologe, seit seinem letzten Buch Experte für Solidarität, verkündet im Deutschlandfunk: »Der Virus nimmt auf Klassen und privilegierte Positionen keine Rücksicht«. Wohl wahr, aber den Virus (oder das Virus) spüren ja bislang und hoffentlich auch weiterhin, die wenigsten. Was sie spüren: Zu Hause bleiben mit sieben Personen in zwei Zimmern oder eben mit zwei Personen in sieben Zimmern.

Von Sigrun Matthiesen ist auch auf Bruchstücke gelegentlich (zu selten, wie wir finden) zu lesen. Ihre „Vorliebe für kleine Geschichten zu großen Fragen“ macht aus ihren Beiträgen immer wieder auch Aufklärungsliteratur für Männer, die es nicht nötig zu haben glauben.

Das plötzliche Schutzbedürfnis der Wirtschaft, ein zitternder böser König und das deutsche Recht auf Spargel, Nachbarn, die Desinfektionsmittel herstellen, Hungerrevolten in Süditalien, die Papa-Phantasien des Markus Söder, Sehnsucht nach ausgetretenen Pfaden, Drohungen am Märchenbrunnen, Flirtversuche mit Mund-Nase-Bedeckung – das alles sind O-Töne aus Teaser-Texten zum Tagebuch.

Kathrin Gerlof, „war im Dorf die Lehrerstochter und in der Stadt war sie die vom Dorf“, ist Filmemacherin, Journalistin, Texterin und vor allem Schriftstellerin. Ihre Romane erscheinen beim Aufbau-Verlag, zuletzt 2018 „Nenn mich November“.

So schließt Kathrin Gerlofs Tagebuch am 9. Juni 2020:

„Viel Kluges wird gesagt und geschrieben. Und niemals nie sollten wir aufhören zu hoffen, dass sich dadurch auch was ändert.“

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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