Bundeskanzler Olaf Scholz hat am 15. Dezember 2021 seine erste Regierungsvorlesung gehalten. Mit etwas zeitlicher Distanz fällt auf, dass sie schon am nächsten Tag vergessen war. Ihr Aufmerksamkeitswert reichte kaum an das Ernennungszeremoniell im Bundespräsidialamt heran. Als Rede glich sie, musikalisch gesprochen, einem Drehorgelkonzert, fußballerisch gesprochen, einem torlosen Unentschieden. Wusste Olaf Scholz nicht, dass er seine erste Regierungserklärung als Kanzler der Bundesrepublik Deutschland nur einmal halten kann?
Er wusste es ganz genau, wäre meine These. Der Rede hätte die Botschaft gefehlt, kritisieren viele. Schön wär’s. Als Wahlkämpfer ist Scholz mit dem Versprechen aufgetreten, ich will nichts von euch außer eurer Stimme. Als Bundeskanzler ist er mit der Botschaft angetreten: Lasst euch nicht stören, von mir nicht und auch von sonst nichts, die R2G-Regierung wird für den nötigen Fortschritt sorgen, alles wird gut ausgehen.
Verglichen mit dem, was ein Kanzler Laschet an der Spitze einer Jamaika-Koalition verkündet hätte, hat das Protokoll durchaus Erfreuliches zu notieren. Da sind, sozial, ökologisch, kulturell, nicht wenige ermutigende Details des Koalitionsvertrages, die vom Ampelkanzler vorgelesen, in der tagesaktuellen Berichterstattung gewürdigt und auf den digitalen Plattformen erwähnt wurden. Die großen Botschaften aber waren: 1. Wir haben keine fundamentalen Probleme, sondern nur ein paar wildgewordene Extremisten. 2. Mit technischem Fortschritt und Modernisierung bewältigen wir die bestehenden Schwierigkeiten. 3. Wir sind auf dem richtigen Weg und können auch dort wieder zurück auf die alten Gleise, wo uns die Pandemie vorübergehend aus der Bahn geworfen hat.
Soziale Brüche und kulturelle Risse – weggeschaut
1 Die Regierungserklärung hat die sozialen Brüche und kulturellen Risse unseres Landes weggeredet, sogar ausdrücklich bestritten, indem sie „eine winzige Minderheit von enthemmten Extremisten“ ins Rampenlicht schob.
„Man weiß, dass man in einer Welt lebt, die den Neoliberalismus liebt, wenn die Tatsache, dass einige Schwarze reich sind, als erfreuliche Nachricht für alle Schwarzen betrachtet wird, die arm sind“, schreibt Robert Misik in seinem exzellenten Buch „Die falschen Freunde der einfachen Leute“. Man weiß, dass die Sozialdemokratie regiert, wenn die sozialen Ungerechtigkeiten, welche die Oppositionspartei SPD durchaus skandalisiert, möglichst ignoriert werden, und wir – aber bitte respektvoll – plötzlich alle in einem Boot sitzen, das ein paar Exremisten zum Kentern bringen wollen.
Macht sich in einem Land Extremismus breit, ist das ein sicheres Indiz für nachhaltige soziale Verwerfungen. Eine refeudalisierte finanzielle Elite, plus die Aufsteiger einer karriereverliebten neuen Mittelklasse, plus die Absteiger einer neuen prekären Klasse mit minimalen Möglichkeiten der Teilhabe und der Teilnahme, plus die generelle, kriseninduzierte Unsicherheit, welche die meisten erfasst – ohne diese gewachsene Gemengelage hätte sich der Rechtsextremismus in Deutschland nicht verbreiten und verfestigen können. Und ohne den verfestigten Rechtsextremismus hätte „geimpft“ oder „nichtgeimpft“ nicht zur Identitätsfrage weit über alle gesundheitspolitischen Probleme hinaus werden können. Es ist erschütternd zu beobachten, wie eine zivilisierte Gesellschaft in ihrem Alltag das politisch-kulturelle Niveau von BILD-Schlagzeilen zunehmend praktisch lebt.
Was sich hier entwickelt hat, ist mit den durchaus sinnvollen Einzelmaßnahmen der rotgrüngelben Regierung nicht zu korrigieren. Deshalb ist es eine fatale Botschaft des Regierungschefs, die sozialen Brüche und kulturellen Risse zu ignorieren und so zu tun, als seien ein paar wildgewordene Extremisten das ganze gesellschaftspolitische Problem.
Die Verdrängungsbereitschaft der Nutznießer – gefördert
2 R2G verkündet, mehr Fortschritt zu wagen. Diese rhetorische Leihgabe aus dem Fundus der Brandtschen Reformpolitik soll schick bemänteln, dass das Regierungsprogramm faktisch vor allem als Fluchtbewegung vor ökologischen Abgründen und als Schmerzmittel gegen soziale Notstände zu funktionieren hat.
Die Anrufung von Fortschritt und Modernisierung geschieht auf eine Weise, die Chancen groß herausstellt und Risiken verniedlicht. Das ist die Methode der Moderne, seit es sie gibt. Deshalb heißt sie so. Das konnte (nie alle) überzeugen, bis sie auf eigenen Füßen stand und registrieren musste, dass ihre Produktion zugleich Destruktion bedeutet, dass ihr Wohlstand zugleich Verelendung erzeugt. Jetzt versprechen progressive Regierungsprogramme, die sozialen Ungerechtigkeiten und ökologischen Schäden von Fortschritt und Modernisierung mit Fortschritt und Modernisierung zu beheben. Die Profiteure der Progression reden über das Neue, das geschaffen, nicht über das noch Verbliebene, das obsolet, verdrängt, vernichtet wird (kommodifiziert sagt die Sozialwissenschaft). Sie sprechen von Entwicklung, Vermehrung und Verbesserung, nicht von Verbrauch, Belastung und Zerstörung.
Niemand stellt in Abrede, dass die gesellschaftliche Organisation der Arbeit, wie sie sich im Zuge der industriellen Revolution etabliert hat und via Globalisierung und Digitalisierung weiter expandiert, die Lebensmöglichkeiten auf dem Planeten wesentlich verbessert und insgesamt auf ein vorher nicht vorstellbares Niveau gehoben hat. Zugleich kann niemand bestreiten, dass die quantitativen und qualitativen Verbesserungen, die mit der Generalstrategie profitables Wachstum erreicht werden,
die Vorteile und Wohlstandsgewinne, Risiken und Verelendungsgefahren höchst ungleich verteilt,
die Arbeitskräfte ausbeutet, deren Gesundheit, letztlich deren Leben beschädigt
und in der natürlichen Umwelt Zerstörungen anrichtet, die das pflanzliche, tierische und menschliche Leben inzwischen elementar bedrohen.
Die Frage, wie lange Verbesserungen noch mittels Verschlechterungen realisiert werden sollen und können, haben die Vereinten Nationen 2015 mit der Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung so dringlich und grundsätzlich gestellt, dass es verwundert, wie groß die kollektive Bereitschaft ist, diese Frage als Störfaktor von der Tagesordnung zu nehmen, sich mit Hoffnungen auf Künstliche Intelligenz, algorithmische Antworten und Ausflüge ins Universum zu beruhigen. Ein entscheidender Grund für die auffällige, von der R2G-Regierungserklärung massiv unterstützte Verdrängungsbereitschaft dürfte sein: Die Entscheidungsträger in Wirtschaft und Politik versammeln sich in der Regel auf der Seite der Nutznießer unserer Arbeits- und Lebensweise, während die desaströsen Folgen der Krisen und Katastrophen sich vor allem auf der Seite des kleinen Mannes, der einfachen Leute, des normalen Volkes (oder wie die hilflosen Bezeichnungen sonst lauten) ausbreiten.
Die Regierungserklärung spricht von „riesengroßen Aufgaben“ und „großen Herausforderungen“, ohne nach Ursachen auch nur zu fragen. Sonst könnte sie ihre recycelte Fortschrittspredigt mit einer „Superabschreibung für Klimaschutz und digitale Wirtschaftsgüter“ auch nicht halten.
Über die Runden kommen – irgendwie
3 Der inzwischen zweijährige Umgang mit der Pandemie ist exemplarisch. Das staatliche Krisenmanagement hatte im Grunde überall in Europa – wie schon in der globalen Finanzkrise, der europäischen Währungskrise, der Flüchtlingskrise und der Klimakrise – zu keinem Zeitpunkt einen anderen Anspruch, als irgendwie über die Runden zu kommen. Der Staat sah sich darin von Privatleuten und Organisationen (der Wirtschaft, der Bildung, des Sports, der Massenmedien etc.) bestärkt, denen die jeweilige Krise Unruhe genug ist und die nicht auch noch mit strukturellen Transformationen belästigt werden mochten.
Während der ersten Coronakrisen-Erschütterungen fanden Stimmen eine gewisse Beachtung, die fragten, „welches Danach wollen wir?“. „Ein Zurück zum Status quo ante, wie er von den Profiteuren des gescheiterten Systems gefordert wird, ist jedenfalls der falsche Weg“, war zu lesen. Europas führende Umweltorganisationen appellierten:
„Wir rufen die EU sowie die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsländer auf, der beispiellosen Krise durch die COVID-19-Pandemie mit Solidarität, Mut und Innovation zu begegnen. Wir wollen nicht zu einem Wirtschaftsmodell zurückkehren, das die sozialen Ungleichheiten verschärft, unsere Gesundheit gefährdet, die Umwelt ausbeutet und das Klima unseres Planeten dramatisch verändert.“
Und was verspricht der rotgrüngelbe Bundeskanzler am Ende des zweiten Coronakrisenjahres? Er will zurück in die Verhältnisse, unter denen die Pandemie entstanden ist.
„Die Bundesregierung wird nicht einen einzigen Augenblick ruhen, und wir werden jeden nur möglichen Hebel bewegen, bis wir alle unser früheres Leben und alle unsere Freiheiten zurückbekommen haben.“
Er verspricht es in eine Stimmungslage hinein, in der fast alle froh sind, es zu hören, und fast niemand das Gefühl los wird, der Illusionsanteil solcher Versprechungen sei zu hoch. Damit offenbart sich das Grundrezept der Regierungserklärung: Ein Biedermann als Illusionsstifter.
Dieses Biedermännische, das sich und anderen Illusionen macht, tritt besonders markant hervor, wo Scholz großspurig wird. Das Krisenmanagement mit Mühe auf Kante genäht, aber große Töne spucken. „Allen muss klar sein: Die vor uns liegenden 20 Jahre werden Jahre der Veränderung, der Erneuerung und des Umbaus sein.“ Deutschland stehe vor der größten Transformation unserer Industrie und Ökonomie seit mindestens 100 Jahren. Er spricht von einer „gigantischen Aufgabe“ und versichert „das wird uns gelingen“. Wenn Scholz „wir“ sagt, und er sagt es laufend, weiß man nie so genau, wer gerade gemeint ist. Spricht er im Pluralis Majestatis, meint er sein Kabinett, den Staat, die Regierungsparteien, meint er Investoren und Beschäftigte, meint er Land und Leute, meint er die Menschheit? Immer wieder redet er von „Aufbruch“, aber niemand lässt sich unterbrechen. Niemand ist aufgeregt, niemand gespannt, wann es los geht, kaum jemand interessiert. Der Redner verlässt das Pult und die Rede verlässt die Köpfe.
An Stelle eines eigenen Kommentars zum Stichwort „desaströser Fortschritt“ möchte ich jemand anderen zu Wort kommen lassen:
„Es gibt ein Bild von Klee, das Angelus Novus heißt. Ein Engel ist darauf dargestellt, der aussieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu entfernen, worauf er starrt. Seine Augen sind aufgerissen, sein Mund steht offen und seine Flügel sind ausgespannt. Der Engel der Geschichte muß so aussehen. Er hat das Antlitz der Vergangenheit zugewendet. Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert. Er möchte wohl verweilen, die Toten wecken und das Zerschlagene zusammenfügen. Aber ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, daß der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser [im Original hervorgehoben] Sturm.“
Walter Benjamin: Über den Begriff der Geschichte (1940), These IX, in:
Gesammelte Schriften (werkausgabe edition suhrkamp), Frankfurt a. M. 1980, Band I.2, S. 697 f.