Eigentlich wollte Emmanuel Macron nach seiner Wiederwahl alles anders machen. Der ehemalige Investmentbanker und Wirtschaftsminister verkündete, in seiner zweiten fünfjährigen Amtszeit nicht wie Jupiter über den Wolken zu schweben, kein Präsident der Reichen, sondern nahbarer zu sein und hinzuhören, was sein zwischen Wut und Resignation schwankendes Volk bewegt. Nach einem Jahr hat sich am Regierungsstil des 45jährigen wenig geändert: Koste es, was es wolle, zieht er seine Rentenpläne durch, die Dreiviertel der Beschäftigten ablehnen. Warum pocht er schroff, drohend und politisch alles riskierend auf die Anhebung der Altersgrenze von 62 auf 64, auf 43 Jahre Beitragszahlungen für eine abschlagsfreie Rente und bringt seit zwei Monaten von Lyon bis Lille Millionen gegen sich auf die Straße?
Der Präsident sieht sich im Recht, immer habe er den Französinnen und Franzosen im Wahlkampf klar und deutlich gesagt, sie müssten länger arbeiten, um auch mehr zu verdienen. Wie die konservative Kandidatin Valérie Pécresse von den Republikanern trommelte er für eine Altersgrenze von 65, um die absehbaren Milliardenlöcher in den Versicherungssystemen in rund sieben Jahren zu stopfen. Jetzt löse er nur die Reformen ein, die er angekündigt habe, schließlich sei er im Amt bestätigt worden. So sieht sich dieser Präsident: Er, der durchsetzungsstarke Macher und Reformer. Die Legalität seiner Politik bestreitet in Frankreich niemand, wohl aber die moralische und soziale Legitimität. Für den Historiker, Soziologen und Demokratieforscher Pierre Rosanvallon („Die Gegen-Demokratie“, „Das Zeitalter des Populismus“) ist Macrons Projekt „hasardeux“, hoch riskant und erschüttere die Demokratie (Le Monde vom 25. Februar). Rosanvallon bestreitet das allgemeine Interesse an dieser siebten Korrektur des Rentensystem in vierzig Jahren und teilt die Vorwürfe der Gewerkschaften, die Pläne seien ungerecht und unsolidarisch. Auch der ständige Hinweis des Präsidenten, er sei in der zweiten Runde schließlich mit Mehrheit vom Volk gewählt worden und nicht die rechtsradikale Marine Le Pen, zieht nach Ansicht Rosanvallons nicht.
Die Mehrheit der direkt Betroffenen hat Macron nicht gewählt
Ein genauer Blick zurück auf die Wahlergebnisse bestätigt die Skepsis des weit über Frankreichs Grenzen bekannten Demokratieforschers: Nicht einmal vierzig Prozent der Wahlberechtigten haben Emmanuel Macron vor einem Jahr dazu verholfen, wieder in den Elysée-Palast einzuziehen: Von 48 Millionen Französinnen und Franzosen haben Macron in der Stichwahl 18,7 Millionen gewählt, Marine Le Pen 13,2 Millionen. Zu Macrons Wählerschaft gehörten die Rentner, die wohlsituierten Funktionäre aus der Wirtschaft, den akademischen Kaderschmieden und die Beamtenschaft. Die Mehrheit der Wahlberechtigten hat ihn nicht gewählt, erst recht nicht diejenigen, die diese Rentenpläne direkt betreffen: die Arbeiter und Angestellten in nichtakademischen Berufen, die nach der Schule mit 17, 18 zu arbeiten begonnen haben, die die Beitragsjahre erfüllen und dennoch bis 64 weiter schaffen müssten. Betroffen sind Frauen, die nicht ununterbrochen gearbeitet haben, und ältere Arbeitnehmer, die die Wirtschaft ab 55 Jahren ziemlich gnadenlos aussortiert. Sie begegnen diesem Präsidenten mit Misstrauen, vor allem seit der öffentlichen Revolte der „Gelbwesten“ gegen eine Erhöhung der Spritsteuer im November und Dezember 2018.
Seine Unpopularität in weiten Teilen der Bevölkerung hat den Präsidenten nicht abgehalten, seit dem Herbst letzten Jahres seine Rentenpläne voranzutreiben, obwohl er nach den Parlamentswahlen auch noch die absolute Mehrheit im Palais Bourbon der Nationalversammlung verloren hat. Und jetzt bei der Durchsetzung des Gesetzespakets auf die Stimmen der Republikaner angewiesen gewesen wäre. Deren 61 Abgeordnete zu überzeugen, hatte sich Macron in den letzten Monaten als leichte Übung vorgestellt, denn der neue Parteivorsitzende, Eric Ciotti, zeigte sich bei Arbeitsessen im Elysée zugänglich für einen politischen Deal. Ciotti, der im Präsidentenwahlkampf die eigene Kandidatin der Republikaner (Valérie Pécresse) nicht unterstützt, sondern deutliche Sympathien für den rechtsextremen Eric Zemmour gezeigt hatte, nutzte die Schwäche des Präsidenten zur eigenen Machtabsicherung in einer Partei, der politische Bedeutungslosigkeit droht. Er handelte Macron eine neue Altersgrenze ab: 64 ist jetzt „die rote Linie“ (Premierministerin Elisabeth Borne), schrittweise zu erreichen in den nächsten zehn Jahren. Doch reibungslos ging der Deal für Ciotti nicht durch. Im Gegenteil, er scheiterte an einer Rebellen-Gruppe in den eigenen Reihen, die mit den Macronisten pokerte und Borne wie Arbeitsminister Olivier Dussopt das eine oder andere Zugeständnis abrang, zumindest auf dem Papier. Und diese Republikaner lösten schließlich im Elysée-Palast in letzter Minute die Entscheidung aus, auf eine ungewisse Abstimmung im Parlament zu verzichten und das Gesetzespaket nach Artikel 49.3 der Verfassung durch Verordnung in Kraft zu setzen: Bereits zum elften Mal in dieser noch jungen Legislaturperiode, bereits zum elften Mal mit der Folge von Misstrauensvoten gegen die Regierung.
Wieso hat die Zahl 64 eine solche Sprengkraft?
Überzeugungsessen im Elysée-Palast fanden bis Weihnachten auch mit Laurent Berger statt, dem Generalsekretär der immer noch wichtigsten Gewerkschaft CFDT. Allerdings blieb ein erfolgreicher Deal aus: Nicht nur die CFDT, sondern inzwischen sieben weitere Gewerkschaften von den Kommunisten bis zu den Christlichen lehnten geschlossen eine Anhebung des Renteneintritts auf 64 Jahre ab. „Sie muss fallen“, erklärte Berger immer wieder, auch wenn er Reformbedarf auf dem Arbeitsmarkt keineswegs leugnet. Der Gewerkschafter beschwor Regierung und den Präsidenten, den Machtkampf nicht auf die Spitze zu treiben und das Gesetz ohne Abstimmung im Parlament durchzudrücken. Eine solche Machtdemonstration gefährde den gesellschaftlichen Frieden im Land, warnte Laurent Berger seit Wochen (Le Monde vom 29./30. Januar): Er hat sie nicht verhindern können. Die aktuellen Bilder aus Paris, Bordeaux oder Le Havre, die zunehmende Radikalität unter kommunistischen Gewerkschaftern, Müllabfuhr oder Energieversorgung zu blockieren, sind düstere Warnzeichen. Wieso aber hat die Zahl 64 eine solche Sprengkraft? Verteidigen unsere Nachbarn mit ihrer Protestkultur des politischen Streiks den angeblich so üppigen Wohlfahrtsstaat und die sprichwörtliche Vorstellung, nach der die Franzosen im Gegensatz zu den Deutschen nicht leben, um zu arbeiten, sondern arbeiten, um zu leben? Wie Gott in Frankreich eben?
Wenn etwas in diesen turbulenten letzten drei Monaten klar geworden ist, dann ist es das: Millionen von Frauen und Männern gehen in Frankreich ihren häufig schlecht bezahlten „petits boulots“ nach und können von einer neuen, schönen Arbeitswelt, in der Mann und Frau sich bis zum 64. Lebensjahr vergnügt und fit aufhalten möchten, nur träumen. Auch 43 Beitragsjahre für eine Rente ohne Abstriche erreichen Französinnen millionenfach nicht. Nach der offiziellen Statistik gehen die Franzosen mit 62,4 Jahren in die Rente (in Deutschland 2022 mit 64,1 Jahren), die Frauen wenige Monate später, aber privilegierte Berufsgruppen bei der Bahn, dem Nahverkehr, dem Energiesektor (EDF) oder den Anwälten sind drei bis fünf Jahre früher Rentiers. Von den 55- bis 64jährigen sind (2022) nach Daten der OECD noch 53,2 Prozent in irgendeiner Beschäftigung (73,3 Prozent in Deutschland), bei den über 60jährigen schrumpft die Beschäftigung auf rund ein Drittel: Nach den Ursachen, wo es in den kaum noch überschaubaren 42 verschiedenen Rentenkassen hakt, und warum die Reformen unter Macrons Vorgängern wie dem Republikaner Nikolas Sarkozy seit zehn Jahren weder Vollbeschäftigung noch Wachstum gebracht haben, fragte im Elysée-Palast niemand. Im Übrigen auch niemand in der Nationalversammlung oder im Senat, den parlamentarischen Gremien, in denen weit über Zehntausend Abänderungsanträge vor allem der linksextremen Opposition eine sachliche Debatte blockierten: Im Palais Bourbon ging es zeitweise ruppig und lautstark zu wie auf der Straße oder in einem Fußballstadion.
Ungerecht, unsolidarisch, unseriös
Inzwischen könnten alle Beteiligten vom Präsidenten bis zu der krakeelenden Opposition der „Unbeugsamen“, aber auch die Gewerkschaften und die in all den Wochen sehr ruhigen Arbeitgeberverbände wissen, wo die eigentlichen Probleme auf dem französischen Arbeitsmarkt liegen. Woche für Woche lieferten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, deren Rat und Forschungsergebnisse weder der Präsident noch die Regierung meinten nötig zu haben, in Zeitungen und im Fernsehen Daten und Fakten, die das Vorhaben in ein zweifelhaftes Licht rückten. Das Gesetzespaket entpuppte sich als ungerecht und unsolidarisch, in den ökonomischen wie sozialen Folgen als wenig seriös: Die Veränderungen treffen einseitig diejenigen, die nicht auf der Sonnenseite leben und erst recht nicht wie Gott beziehungsweise Jupiter in Frankreich.
Zu den wissenschaftlichen Stimmen, die sich zu Wort gemeldet haben, gehört der Ökonom Michael Zemmour von der Pariser Sorbonne. In seinem Gastbeitrag in Le Monde (vom 2. Februar) rechnet er mit einer schonungslosen Direktheit mit dem Präsidenten und der Regierung ab, die selbst für die lebhafte Debattenkultur in diesem Land ungewöhnlich ist. Zemmour wirft der Regierung vor, dem Parlament nicht die notwendigen und verfügbaren ökonomischen wie sozialen Daten zu dieser Reform geliefert zu haben. Die Studie über die Auswirkungen, angehängt an das Gesetzespaket („Etude d’impact“), diene nicht der Aufklärung von Parlament und Öffentlichkeit. Die Statistiken seien „systematisch ausgewählt“, nicht um das Vorhaben zu erhellen, „sondern um Reklame zu machen“. Es fehlten Daten über die Ungleichheiten zwischen Männern und Frauen, Akademikern und Nichtakademikern, über die Arbeitslosigkeit unter Jugendlichen unter 25 Jahren, die weder in einer Ausbildung noch im Studium seien (und damit geringere Aussichten auf eine volle Rente haben), und über die Prekarität der älteren Beschäftigten, die mit 1500 Euro des Mindestlohns (Smic) oder Unterstützungsprogrammen des Staates über die Runden kommen müssten.
Sein schärfster Vorwurf aber lautet: Macron und seine Regierung setzten sich über Einschätzungen und Empfehlungen der wissenschaftlichen Begleitforschung hinweg, die es seit zwölf Jahren gibt. Der „Conseil d’orientation des retraits“ (COR), der Rentenorientierungsrat, habe bereits vor einem Jahr (am 27. Januar 2022) vor falschen Annahmen und Erwartungen gewarnt. Das Gremium, das Wirtschaftsminister Bruno Le Maire zuarbeitet, habe Macrons Behauptung, die Reform führe in den nächsten fünf Jahren zu Vollbeschäftigung, einer Million neuer Ausbildungsverträge und spüle 20 Milliarden Euro zusätzlich in die Versicherungskassen, massiv widersprochen. Die Folgen der jetzigen Pläne würden im Gegenteil den Druck auf die Löhne vor allem der älteren Beschäftigten erhöhen, keine zusätzlichen Arbeitsplätze schaffen und die Kosten für die zahlreichen Förderprogramme (wie den Solidaritätslohn) oder die Vorruhestandsregelungen bei Invalidität oder Behinderung explodieren lassen.
Niedrige Löhne, keine Aufstiegschancen
Einen zweiten gewichtigen Beitrag schob die Ökonomin Christine Erhel zehn Tage später nach (Le Monde vom 12./13. Februar). Die Direktorin des Forschungszentrums Beschäftigung und Arbeit beschrieb darin die Lage der Frauen und Männer „der zweiten Reihe“, die an den Kassen der Supermärkte, in der Lager- und Bauwirtschaft, der Landwirtschaft, im Service vom Reinigungsgewerbe bis zum ambulanten Pflegedienst, aber auch in Bäckereien und Metzgereien arbeiteten: Mit niedrigen Löhnen und ohne Aufstiegschancen, in den „petits boulots“ eben, häufig in Teilzeit und, meist bei den Frauen, mit vielen zeitlichen Unterbrechungen. Ab 55 Jahren würden diese Menschen der zweiten Reihe abgeschoben, befänden sich weder in Arbeit noch in Rente, so Christine Erhel. Die Kriterien für eine Frühverrentung erfüllten sie häufig nicht, weil ihre Jobs bisher nicht als „schwer belastet“ eingestuft würden, chronische Krankheiten nicht als berufsbedingt gälten. Die Ökonomin befürchtet unter diesen Menschen ein erhöhtes Armutsrisiko, zumal in dem Gesetzespaket von einer sicheren Grundrente keine Rede ist. Zwar soll es auf der Basis des Mindestlohns eine Smic-Rente geben, wie die Premierministerin auf Drängen der republikanischen Rebellengruppe einräumte, aber die angeblich zwei Millionen Begünstigten gibt es nicht. Kleinlaut räumte Bornes Arbeitsminister Dussopt inzwischen ein, dass es pro Jahr höchstens zehntausend Menschen sein könnten, die ein Berufsleben lang für diesen Mindestlohn gearbeitet und mindestens 42 oder gar 43 Jahre lang Beiträge bezahlt haben. Nur dann soll es die Smic-Rente von 1200 Euro (Brutto) geben. Und diese Wirklichkeiten wollen Elisabeth Borne und Olivier Dussopt, beides erfahrene Arbeitsmarktpolitiker, nicht gekannt haben?
Nach diesen bitteren Wochen und Monaten ist der politische Scherbenhaufen groß: Dem Parlamentarismus haben die peinlichen Auftritte von sehr weit links über das schwache Regierungslager geschadet. Die Regierung der Elisabeth Borne ist angeschlagen, auch wenn sie zwei Misstrauensvoten mehr als knapp überstanden hat. Wie Emmanuel Macron aus der Sackgasse herauskommen will, ist unklar: Sein Selbstbild ist allerdings ungetrübt. Er macht alles für sein Land, sagt er in einem ersten großen Interview. Und setzt auf den Faktor Zeit. Die Stimmung im Land ist auf einem Tiefpunkt. Just am Tag der Entscheidung veröffentlichte Le Monde die neuen Umfragen, nach denen die Franzosen Überdruss an allem Politischen äußern. Nur 26 Prozent haben Vertrauen in die Regierung und nur 35 Prozent glauben, dass die Demokratie gut funktioniert (in Deutschland sind es nach dieser Umfrage 60 Prozent). War es das alles wert? Die Reform der Reform steht spätestens ab 2027 wieder auf der Tagesordnung. Dann aber ohne einen Emmanuel Macron. Und mit einer rechtsradikalen Marine Le Pen, die sich auffallend sittsam und staatstragend auf die Machtübernahme vorbereitet?