„Die Angst vor der Katastrophe macht noch keine bessere Zukunft“

Auf dem Cover steht „Heft 1 – April 2020“. Das ist eine Irreführung. Unter dem Titel „Klima und Zivilgesellschaft“ ist dieses „Forschungsjournal Soziale Bewegungen“ (FSB) gerade erst erschienen. „Herausgeber und Redaktion waren der Meinung, dass eine umfangreiche Auseinandersetzung mit dem Thema Klimawandel aus der Perspektive der Zivilgesellschaft, wie wir sie jetzt vorlegen können, eine derartige Verzögerung rechtfertigt. Aber urteilen sie selbst“, schreibt Ansgar Klein im Editorial. Die Tonalität dieser Einladung lässt ahnen, dass sich die Redaktion ihrer Sache sicher ist. Mit Recht. Eine bessere Einführung, Übersicht, Problembeschreibung, Analysetiefe, Perspektivenauswahl, Diskursqualität zu diesem Thema aller Themen kenne ich nicht – obwohl ich der Meinung bin, dass der Begriff der Zivilgesellschaft eine operative Illusion ist.

Weil die Angst vor der Katastrophe noch keine bessere Zukunft macht (so der Titel eines Textes von Jürgen Maier im Heft), haben sich das „Bundesnetzwerk Bürgerschaftliches Engagement“ (BBE) und die Stiftung Mercator zusammengetan und das Projekt „Bürgerschaftliches Engagement und Klimaschutz“ aus der Taufe gehoben. Dieses Projekt bildet den organisatorischen Hintergrund dieser FSB-Ausgabe. Es will „die zahlreichen etablierten zivilgesellschaftlichen Akteure zusammenbringen, die in diversen Handlungsfeldern (z. B. Sport, Kultur, Landwirtschaft, Migration oder Katastrophenschutz) und mit sehr unterschiedlichen Agenden und Arbeitsweisen beim Thema Klimawandel Anknüpfungspunkte zu ihren Kernthemen sehen“. Die Akteure sollen Themenfelder übergreifend miteinander in Verbindung gebracht werden, Grundlagen für neue Kooperationen sollen gelegt, Zugänge zu Informationen und verbessertem Wissenstransfer eröffnet werden.

Mit ihrem strategischen Ansatz stehen die Stiftung Mercator und das Bundesnetzwerk nicht alleine. Das Bundesamt für Umweltschutz (UBA) fördert seit 2017 das Projekt „Neue Allianzen für Nachhaltigkeitspolitik“, das neue gesellschaftspolitische Bündnispartner und Kooperationsstrategien für Umweltpolitik identifizieren will. Im Focus stehen hier die Verbände der Umweltpolitik, der Gewerkschaften, der Sozial- und Wohlfahrtsorganisationen.

Der Themenschwerpunkt des FSB-Heftes weist interessante Überschneidungen mit dem UBA-Projekt auf. Nach einem gründlichen Einführungsbeitrag der Herausgeber*innen mit besonderem Augenmerk „auf thematische Verknüpfungen, Vernetzungspotentiale und mögliche neue Akteurskoalitionen“ wird das Thema „Klima und Zivilgesellschaft“ in fünf Kapiteln behandelt:

1. „Zugänge und Diskursverschränkungen“ (drei Beiträge):
Im Blickfeld stehen fünf Dekaden Umwelt- und Entwicklungspolitik, Klimaschutz und Nachhaltigkeit.

2. „Demokratiepolitische Herausforderungen“ (vier Beiträge):
Unter anderem werden die Gefährdungen analysiert, die für die Energiewende in Zeiten des Populismus von den großen Simplifizierern ausgehen.

3. „Klimapolitik im Mehrebenensystem“ (drei Beiträge):
In einem ausführlichen Interview äußert sich der Grüne Europapolitiker Sven Giegold zu den Zusammenhängen zwischen Klimawandel und Wirtschaftssystem, zur europäischen und globalen Klimapolitik

4. „Wirtschaft im Klimawandel“ (sechs Beiträge):
Mit einer klugen Analyse aus der Grundsatzabteilung der IG Metall (nach deren Lektüre reibt man sich allerdings die Augen über das Verhalten der Gewerkschaftsführung beim Corona-Autogipfel) und Vorschlägen für nachhaltige Sozialpolitik.

5. „Wissenschaft, Forschung und Bildung“ (zwei Beiträge):
Wie wertvoll wissenschaftliche Expertise sein kann, lehrt gerade die Corona-Pandemie. Vorgestellt wird die Plattform „Forschungswende“ und das Konzept der „lokalen Bildungslandschaften“.

Konstruierter Hoffnungsträger

In unserer Gegenwartsgesellschaft – man mag sie die Moderne, eine Computer-, Informations-, Risikogesellschaft, Kapitalismus, Arbeits-, Erlebnis-, Wissensgesellschaft nennen – gibt es Politik, Ökonomie, Justiz, Öffentlichkeit, Kunst, Familien und so manches mehr, Organisationen aller Art in unüberschaubarer Zahl, persönliche Kontakte in Hülle und Fülle, virtuelle Kommunikationen zuhauf und was einem sonst noch einfallen mag. Dass es in unserer Gesellschaft darüber hinaus eine Zivilgesellschaft gibt, an die dann auch noch große politische Erwartungen geknüpft werden, scheint mir unter die Rubrik operative Fiktionen zu fallen. Als konstruierter Hoffnungsträger einer großen Transformation dürfte sie nicht einmal so viel Realitätsgehalt haben wie einst die Arbeiterklasse als kollektiver Akteur einer großen Revolution. Aber da hat Siegfried J. Schmidt schon recht: „Funktioniert eine operative Fiktion, bewährt sie sich; funktioniert sie nicht, brauchen wir eine neue, um mit dem Scheitern umgehen zu können.“ Vielleicht funktioniert sie ja, die Zivilgesellschaft.

Klein, A., Legrand, J., & Rosse, J. (Hrsg.), Klima und Zivilgesellschaft. Forschungsjournal Soziale Bewegungen, Heft 1, 2020. Berlin: De Gruyter, 396 Seiten,  24 Euro plus Versandkosten; zu bestellen über order@degruyter.com

Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

Hinterlasse einen Kommentar.

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

bruchstücke