Große Pause bei Aldi

Schulpause 1895 nach einem Gemälde von Fritz Beinke (1842-1907), Die Gartenlaube / wikimedia commons

Ich weiß nicht mehr genau, warum ich an diesem Tag vormittags zu Aldi einkaufen gegangen war. Sicher vermutete ich, um diese Zeit sei der Supermarkt noch nicht so gut besucht. In Zeiten der Pandemie ein nicht zu unterschätzender Vorteil. Als ich dort eintraf, überraschte mich die Ansammlung der Menschen. Präziser: Etwa einhundert Schülerinnen und Schüler kauften gerade ein. Offenkundig nutzten sie ihre Pause, um von der nahe gelegenen Schule zum Großhändler zu gehen. Sie kamen in losen Grüppchen, ein nicht abreißender Strom. Große Pause bei Aldi?

Ich beeilte mich, ins Geschäft zu kommen, dort zügig einzukaufen und so rasch wie möglich an eine der vier geöffneten Kassen zu gelangen. Die Schülerinnen und Schüler hatten nicht viel eingekauft, zum Teil nur eine Brezel aus dem Backautomaten. Diese drei jungen Leute in der Reihe nebenan hatten ihre Mitschülerin nur begleitet, aber selbst nichts gekauft. Alle warteten geduldig, bis sie an die Reihe kamen und unterhielten sich. Die jungen Frauen, schätzungsweise 15 Jahre alt, waren sorgfältig und stark geschminkt. Mir fiel Veronika Feldbusch ein, die einmal gesagt hatte, dass sie nie ungeschminkt schlafen gehen würde.

Die Schüler und Schülerinnen hielten sich ausnahmslos an das Maskengebot. Sie verhielten sich so gesehen vorbildlich. Mich irritierte, dass sie sich hinter den Kassen versammelten, auf die Bezahlenden warteten, um gemeinsam die Aldi-Filiale zu verlassen.

Während ich immer noch in der Schlange stand, bemerkte ich, wie ich nach und nach vom Zustand der Irritation in den des Erschreckens wechselte. Dabei spielte weniger das Gewusel in dem Laden eine Rolle und die Furcht, ich könnte mich anstecken, es ging um die Vorstellung, wie die Schüler ihre freie Zeit nutzten.

Für mehr Lebensqualität: Wahlplakat des Jahres 1965 / wikimedia commons

Wie verbrachten wir, vor Jahrzehnten, die Pausen auf dem Schulhof? Insbesondere die große Pause war immer das Highlight eines Schultages gewesen. Eine freie ganze halbe Stunde, um sich auf dem Schulhof für den Nachmittag zu verabreden oder den Rest der Woche. Vor allem aber um in die Nähe der coolen Oberstufenklassen zu gelangen, die die Raucherecke besetzt hielten. Infos über neue Platten fielen für uns ab. Und dann die Frauen der Abschlussklassen, die uns faszinierten, mit ihren langen Haaren und in Miniröcken; wir wagten kaum, sie anzusprechen. Manchmal kam auch der Musiklehrer vorbei und erzählte Neues über das nächste Rockfestival.

Der Schulhof gehörte keinem Konzern und niemand verlangte von uns, sich in Schlangen anzustellen. Unsere Aufmerksamkeit schenkten wir keinen vollen Warenregalen, auch keinen verführerischen Sonderangeboten an den Kassen. Der Schulhof war ein freier Raum gewesen, inklusive der einen oder anderen Prügelei.

Ich bin an der Kasse bald dran, der nächste Pulk junger Leute strömt in den Laden. Fällt ihnen nichts Besseres ein, als ihre Zeit bei diesem Discounter zu verbringen.

Blickwechsel: Die Schülerinnen und Schüler wechseln mit dem Eintritt ihre Rolle. Sie sind jetzt Konsumentinnen und Konsumenten mit einer gewissen Kaufkraft. Sind sie deshalb „fremdbestimmt“? Von den Waren „verführt“ oder in der Konsumsphäre „gefangen“? Aber: Fremdbestimmung gibt es überall. Auch im Schulalltag greifen rechtliche und bürokratische Regeln in Lehr- und Lernvorgänge ein. Bei Aldi bestimmt der Raum, die Halle das Verhalten, einzig eingerichtet für den Verkauf von Waren. Und was tun die meisten der Jugendlichen? Sie schlendern an den Regalen vorbei, nehmen leicht zerstreut ein Produkt in die Hand, werfen einen kurzen Blick darauf, stellen es zurück, dann kommt das nächste oder auch nicht. Woran denkt dieser Schüler, der soeben eine Box mit Schokoladenriegeln in seiner Hand hält und sie genau betrachtet? Vielleicht erinnern ihn die weißen, roten und blauen Verpackungs-Streifen an das kleine blaue Plastikauto, das ihm früher beim Spielen eine stimmige Vorstellung von der Welt gab. „Poetic evocation“ ausgerechnet bei Aldi, aber keine Inbesitznahme der Phantasie durch die Warenwelt.

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Klaus West
Dr. Klaus-W. West (kww) arbeitet freiberuflich als wissenschaftlicher Berater, u.a. der Stiftung Arbeit und Umwelt in Berlin. Zuvor kontrollierte Wechsel zwischen Wissenschaft (Universitäten Dortmund, Freiburg, Harvard) und Gewerkschaft (DGB-Bundesvorstand, IG BCE).

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