Deutschlands einziger grüner Ministerpräsident Winfried Kretschmann macht sich ernsthaft Sorgen. Der Vorgang sei „eine ernste Angelegenheit“, er könne durchaus „gravierende Folgen haben“. Der Grüne Frontmann mit dem halb Schrat-, halb Kult-Status weiß, wovon er spricht: Aus dem grünen Urstamm erwächst ein Ableger, der sich anschickt, der Mutterpartei ernsthaft Konkurrenz zu machen.
„Klimaliste“ nennt sich die Truppe, die in diesem Jahr schon bei den Kommunalwahlen in Bayern und Nordrhein-Westfalen in einige Stadtparlamente einzog, darunter Erlangen, Köln und Düsseldorf, und im kommenden März auch bei den Landtagswahlen in Rheinland-Pfalz und Baden-Württemberg antreten will. Hervorgegangen ist die Klimaliste im wesentlichen aus der Fridays-for-Future-Bewegung.
In Rheinland-Pfalz steht die Liste mit 101 Kandidat*innen bereits. Ungleich größer ist die Aufregung in Baden-Württemberg, wo die Newcomer den regierenden Grünen ernsthaft Schaden zufügen könnten. Und zwar in jedem Fall: Sollten sie den Einzug in den Landtag schaffen, werden Koalitionsverhandlungen dadurch nicht leichter werden. Sollten sie an der Fünf-Prozent-Hürde scheitern, beispielsweise mit drei oder gar 4,9 Prozent dürften den Grünen deshalb relevante Stimmenprozente verloren gehen.
Rein in die Parlamente
Noch sucht die Liste, die sich im September in Freiburg im Rahmen eines Parteitages konstituiert hat, Unterschriften und Kandidaten für alle 70 Wahlkreise. Bis Mitte Januar hat sie Zeit, nach Lage der Dinge dürfte sie es schaffen. Dass ihre Mitglieder zwar nicht runter von der Straße, aber auch rein in die Parlamente wollen, hat vor allem ein Motiv: Enttäuschung über die Grünen. Frustriert ob der zahlreichen Kompromisse, ernüchtert über die reale Politik. Den Druck auf die Grünen, die an elf Landesregierungen beteiligt sind, wollen sie erhöhen.
„Der politische Wille ist nicht da“, kritisiert Jessica Stolzenberger, 21jährige Studentin aus Freiburg und Mitglied des fünfköpfigen Vorstands der Klimaliste in Baden-Württemberg. Die Parlamentarier, und damit meint sie nicht zuletzt deren Grünen-Vertreter, seien „zu visionslos, zu träge und vielleicht auch zu resigniert“, um sich politisch gegen den drohenden Klimakollaps zu stemmen. Stolzenberger und ihre Streitgenossen zeichnet das aus, was einst auch die Grünen umtrieb: Ungeduld. Sie spricht von „alten Strukturen mit älteren Menschen, die vielfach resigniert sind, durch die man sich als junger Mensch erst mal durchkämpfen muss“. Sehr anstrengend sei das und sehr zeitaufwendig, „und ich denke“, sagt Stolzenberger im Bruchstücke-Podcast “Thema der Woche”, „dass wir diese Zeit nicht mehr haben“.
Ihr Vorwurf an die grüne Adresse: „Hey, ihr habt eure Wurzeln vergessen. Ihr habt vor 30 Jahren genauso AKWs blockiert, und jetzt wollt ihr in Hessen einen Wald abholzen, eine Trasse für eine Autobahn bauen, die durch zwei Naturschutzgebiete geht? Wieso seid ihr eigentlich nicht mit uns im Baumhaus?”
Und wenn die Klimaliste die Grünen womöglich ihre Mehrheitsfähigkeit in Baden-Württemberg kostet? „Wir schaden den Grünen nicht“, sagt Stolzenberger. „Überall dort, wo die Klimaliste angetreten ist, ist das Lager derer, die sich für Klimaschutz engagieren, größer geworden.“ Damit sei die Klimaliste viel mehr ein Hebel für die Grünen selbst, ihre umweltpolitischen Ziele durchzusetzen.
Ein Arm bleibt ohnehin ausgestreckt. Denn wenn es für den Einzug ins Parlament reichen sollte, wollen die Klimaschützer nicht auf der Oppositionsseite vertrocknen. „Man könnte sich schon Koalitionen überlegen“, sagt Stolzenberger, „da stehen Kooperationen an“. Allerdings, die Latte dürfte hoch liegen, denn die Kompromisse müssten dann „vereinbar sein mit dem Pariser Klimaabkommen“.
Ganz so weit ist ist der Landesverband der Grünen in Baden-Württemberg noch nicht. Im Gegenteil, dort herrscht Alarmstimmung. Mitglieder der Klimaliste wurden zum Gespräch geladen, es ging um das 1,5-Grad-Ziel, praktische Politik, Kompromisse und Koalitionsnöte. Wirklich näher kam man sich nicht, zurückziehen wollen sich die Rebellen jedenfalls nicht. Auch Stolzenberger sagt: „Natürlich sind wir politische Konkurrenz.“ Und dann legt sie noch einmal nach: „Ihr malt euch grün an, aber letztlich folgen auf Eure Worte keine Taten — dann ist das die Konsequenz.“
Schlimmer noch: Die Welle, die sich im Süden und Südwesten aufbaut, könnte über ganz Deutschland schwappen. Zumal momentan vor allem der andauernde Streit um den Dannenröder Forst in Hessen Fridays for Future und Klimaliste anhaltend Aufmerksamkeit und neue Sympathisanten garantiert. Während die Grünen, in Koalitionsvereinbarungen gefesselt und zur Realpolitik verdammt, die kritische Debatte nicht mehr loswerden.
Bis zum Jahresende wollen die verschiedenen Landesverbände entscheiden, ob sie auch zur Bundestagswahl im September 2021 antreten. Die Stimmung ist kämpferisch. So spricht einiges für eine Beteiligung, zumal sie Unterstützung etwa von den Scientists for Future erfahren. Einer ihrer Gründungsväter, der Professor und Ingenieurwissenschaftler Volker Quaschning, twitterte erst dieser Tage zur Frage einer Beteiligung an der Bundestagswahl: „Schade, aber vermutlich nötig.“
Siehe auch den Podcast “Die Grünen im Weichspülgang” sowie den Beitrag über Robert Habeck “Kandidat für eine Kuschelkanzlerschaft“.
Ich bin begeistert über unsere kämpferische Jugend. Es wird Zeit, an den großen Stellschrauben zu drehen, da, wo die Entscheidungen fallen, im Parlament. Diesem wurde jahrelang Gelegenheiten für Handeln und das Umsetzen der Klimaziele gegeben und was geschieht? Es werden kleine Brötchen gebacken. Nur haben wir keine Zeit mehr für kleine Brötchen… Also weiter so für eine sozial-ökologische Transformation!
Danke Jana, dem kann ich mich nur an´schliessen!