Was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis

Vor 76 Jahren, am 18. April 1945, wurde das KZ-Sachsenhausen von der voranrückenden Roten Armee befreit. Studierende der Filmuniversität Babelsberg haben in Zusammenarbeit mit dem Autor und Regisseur Alfred Behrens ein Hörstück produziert, das Erinnerung und Erklärung mit der Ermahnung verbindet, die aktuellen Tendenzen nicht zu übersehen, die in einen neuen Faschismus hineinzutreiben drohen.

Das Kulturradio des Rundfunks Berlin-Brandenburg (RBB) hat das Hörstück mehrfach ausgestrahlt. Auf rbb-online kann man die Sendung nachhören. Ein Gespräch zum Hörspiel steht hier auf youtube. Auf der Website der Gedenkstätte Sachsenhausen ist das Stück in einer erweiterten fünfteiligen Version abrufbar. Im Folgenden einige Textauszüge.

Shortclips from the Script

Timecode oo:24 –

„Dann, im Frühjahr 1945,  sah ich den Endpunkt der Entwicklung,  in der ich aufgewachsen war,  auf der blendend hellen Lichtfläche sah ich die Stätten,  für die ich bestimmt gewesen war,  die Gestalten,  zu denen ich hätte gehören sollen.

Wir saßen in der Geborgenheit eines dunklen Saals und sahen,  was bisher unvorstellbar gewesen war,  wir sahen es in seinen Ausmaßen,  die so ungeheuerlich waren,  daß wir sie zu unseren Lebzeiten nie bewältigen würden. Dort vor uns, zwischen den Leichenbergen,  kauerten die Gestalten der äußersten Erniedrigung,  in ihren gestreiften Lumpen.  Ihre Bewegungen waren unendlich langsam,  sie schwankten umher, Knochenbündel,  blind füreinander, in einem Schattenreich. Die Blicke dieser Augen in den skeletthaften Schädeln schienen nicht mehr zu fassen,  dass die Tore geöffnet worden waren.“ Peter Weiss, Fluchtpunkt

Timecode 18:5o

Der Text der drei jungen Frauen:
STELL DIR VOR… Während du Gottesdienst mit deinen Mitmenschen feierst, schießt jemand mehrmals in die Tür.  Du betest. Und die Tür hält stand.

D3 Du wirst am Flughafen immer kontrolliert, obwohl du einen deutschen Pass hast. Du wirst grundlos verhaftet.

D1 Du verteilst Flugblätter und wirst deswegen zum Tode verurteilt.

D2 Du musst dein Zuhause verlassen, weil du dich nicht mehr sicher fühlst.

D3 Du schreibst ein Gedicht und es wird verboten. Du schreibst ein Buch und es wird verbrannt.

D1 Dein „Arbeitstag“ hat 14 Stunden.

D2 Du bist nur noch eine Nummer;  in Deine Haut gebrannt.

D3 Dein Pass wird dir weggenommen.

D1 Du darfst wegen deines Nachnamens deinen Beruf nicht mehr ausüben.

D2 STELL DIR VOR:

D3 Du wirst zwangssterilisiert.

Naomi Achternbusch/ Saskia Benter-Ortega/ Jessica Hölzl

Timecode 23:22

Aus dem Journal von Marlene Grau

Respekt vor Gedenkstätten.
Furchtbare Orte: Kalt, steril, weitläufig. Zu sehen: Zeugnisse der Grausamkeit, einer nicht in Worte zu fassenden Unmenschlichkeit, die an diesen Orten fast greifbar wird. Auf Massen ausgerichtete Tötungsmaschinerie.  Diese Orte haben etwas Unerbittliches, etwas Erbarmungsloses.

Das ist die Geometrie des totalen Terrors

Turm A, Eingang zum Konzentrationslager Sachsenhausen:
Dieselbe Architektur wie der Überwachungsturm am Eingang zum Konzentrationslager Buchenwald. Überall diese widerlich höhnischen, schmiedeeisernen Sprüche. Man hört nur den unerbittlich wehenden Wind.  Es ist finster. Kaum Licht fällt in die Baracken. Dorthin wo dieToilettenschüsseln in Reih und Glied stehen, weiß geflieste Bodenbecken und eine grüne, runde Waschschüssel.  Ein paar Pritschen für 250 Personen. Feine, dichte Staubschichten bedecken die Umrisse der ehemaligen Gaskammer und die Überreste der Verbrennungsöfen. Es ist ein Kampf. Ein Kampf mit mir selbst. Eine Pflicht des Nicht-Vergessens und des Weitertragens, ein Verantwortungsgefühl. Angst. Schuldgefühl. Warum?… Warum?… WARUM?

Timecode 52:oo

Theodor W. Adorno hat schon 1963 gefragt:
Was bedeutet: Aufarbeitung der Vergangenheit?

“Im Hause des Henkers soll man nicht vom Strick reden. Man will von der Vergangenheit loskommen: Mit Recht, weil unter ihrem Schatten gar nicht sich leben lässt. Der Nationalsozialismus lebt nach, und bis heute wissen wir nicht, ob bloß als Gespenst dessen, was so ungeheuerlich war, dass es am eigenen Tode noch nicht starb, oder ob es gar nicht erst zum Tode kam; ob die Bereitschaft zum Unsäglichen fort west in den Menschen wie in den Verhältnissen, die sie umklammern. Sehr groß ist die Zahl derer, die von den Geschehnissen damals nichts gewusst haben wollen, obwohl überall Juden verschwanden, und obwohl kaum anzunehmen ist,  dass die, welche erlebten, was im Osten geschah,  stets über das geschwiegen haben sollen, was ihnen unerträgliche Last gewesen sein muss. Jedenfalls haben die dezidierten Feinde des Nationalsozialismus frühzeitig sehr genau Bescheid gewusst. Oder sollte gar Schuld selber überhaupt nur ein Komplex, sollte es krankhaft sein, mit Vergangenem sich zu belasten, während der gesunde und realistische Mensch in der Gegenwart und ihren praktischen Zwecken aufgeht?

Das zöge die Moral aus jenem >Und ist so gut als wär´ es nicht gewesen<, das von Goethe stammt, aber, an entscheidender Stelle des Faust, vom Teufel gesprochen wird, um dessen innerstes Prinzip zu enthüllen, die Zerstörung von Erinnerung.

Die Ermordeten sollen noch um das einzige betrogen werden,  was unsere Ohnmacht ihnen schenken kann, das Gedächtnis.”                            

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Hans-Jürgen Arlt
Hans-Jürgen Arlt (at) arbeitet in Berlin als freier Publizist und Sozialwissenschaftler zu den Themenschwerpunkten Kommunikation, Arbeit und Kommunikationsarbeit. Aktuelle Publikationen: „Mustererkennung in der Coronakrise“ sowie „Arbeit und Krise. Erzählungen und Realitäten der Moderne“.

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